24. Dezember 2013 - Christvesper am Heiligen Abend
24. Dezember 2013
1. Tim. 3, 16
Weihnachten – der Anfang von mehr Himmel auf Erden
Liebe Gemeinde,
Weihnachten ist etwas Besonderes. Vielleicht wäre die Dunkelheit gar nicht auszuhalten, wenn wir in dieser Jahreszeit nicht Weihnachten feiern würden. In diesen Tagen wird es nur siebeneinhalb Stunden hell. Einen großen Teil unseres Lebens, auch unserer Tätigkeiten, befinden wir uns in der Dunkelheit oder in künstlich erhellten Räumen. Aber die vielen Lichter um uns herum helfen uns auf. Eine besondere Stimmung ergreift uns in diesen Wochen. Es wird uns ganz warm ums Herz. Da hören wir die Lieder und die Musik, „alle Jahre wieder“. Und gerade deswegen strahlt sie Geborgenheit aus. Die Kerzen am Adventskranz oder an den Weihnachtsbäumen erhellen nicht nur die Dunkelheit, sondern rühren uns auch an. Menschen, auch solche, die uns gar nicht so nahestehen, wünschen uns Freude: „Und dann frohe Weihnachten!“ Wir erhalten hier und dort kleine Präsente und freuen uns schon auf die große Bescherung nach dieser Christvesper. Der Brauch des Schenkens vermittelt das Gefühl: „Jemand denkt an mich! Er oder sie will mir eine Freude bereiten.“ Irgendwie haben wir den Eindruck, dass da Kräfte der bedrückenden Dunkelheit widerstreiten und eine andere Wirklichkeit um uns verbreiten.
So öffnet uns die Weihnachtszeit für das Bewusstsein, dass die sichtbare Welt, in der wir leben und arbeiten, von einer unsichtbaren Welt umgeben ist. Diese durchschauen wir nicht. Sie ist uns verborgen. Aber Weihnachten in dieser Zeit kann sogar die Skeptiker das Gefühl durchzucken, dass es vielleicht doch noch mehr geben muss, als wir mit unseren Augen normalerweise sehen, und mehr, als mit unseren Ohren hören können. Ja, Weihnachten geht es um die Wirklichkeit dahinter. „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist – all das hält Gott bereit für die, die ihn lieben.“ (1. Kor. 2, 9) Weihnachten verweist auf ein Geheimnis. Und von diesem Geheimnis ist die Rede in einem urchristlichen Lied, das uns im 1. Timotheusbrief überliefert ist:
„Und unbestreitbar groß ist das Geheimnis des Glaubens.
Er erschien als Mensch in der irdischen Welt
und wurde in sein Recht eingesetzt in der himmlischen Welt.
Er zeigte sich den Engeln
und wurde bei den Heiden verkündet.
In der Welt fand er Glauben
und wurde in Gottes Herrlichkeit aufgenommen“(3, 16; nach der Basisbibel).
Dieses Bibelwort kann uns als Schlüssel zur Weihnachtsgeschichte dienen. Denn was hat die Geburt eines fremden Kindes, die anheimelnde Szene im Stall, mit uns zu tun?
Mit der Geburt dieses Kindes im Stall zu Bethlehem öffnet sich ein Spalt des Himmels und lässt göttliches Licht auf unsere Erde fallen. Dieser kleine Junge, geboren wie Milliarden anderer Menschenkinder durch eine Frau, schließt uns durch sein Leben, Wirken und Sterben den Himmel auf. Deswegen spricht der Engel bei den Hirten auf dem Felde von der großen Freude, „die allem Volk widerfahren wird“. Mit der Geburt dieses Christuskindes kommt Gott selbst in diese Welt hinein und erfüllt damit die Hoffnungs- und Sehnsuchtsgeschichte seiner Menschen. Der Interpretationsengel eröffnet uns den Blick darauf, was es mit der Geburt dieses einen Kindes damals im Stall zu Bethlehem auf sich hat: „Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids“. (Lukas 2, 11). Und dann fällt das Licht des Himmels auf unsere Welt, wenn die himmlischen Heerscharen, die Engel Gottes, Gott loben und sagen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ (V. .14). Mit der Geburt dieses Kindes macht Gott in der Zeit eine Tür für die Ewigkeit auf. Er eröffnet uns Menschen die Möglichkeit, als sterbliche Menschen in seine Ewigkeit einzugehen. Weihnachten gibt uns eine Ahnung davon, in welche Beziehung Gottes Wirklichkeit zu unserer menschlichen Wirklichkeit steht. Das ist das Geheimnis des Glaubens, von dem unser Bibelwort, das dieser Predigt zugrunde gelegt ist, redet.
„So viel Heimlichkeit in der Weihnachtszeit.“ Kennen Sie noch den Brauch, dass die Eltern die Weihnachtsstube schmücken, den Weihnachtsbaum aufstellen und Geschenke zurechtlegen, die Lichter entzünden, aber die Kinder noch nicht in die Weihnachtsstube hineindürfen? Während dieser Vorbereitungen ging manchmal die Tür auf und Licht fällt aus der Weihnachtsstube in den Flur oder in das angrenzende Zimmer. Die Kinder versuchen einen Blick in den schön geschmückten Raum zu erhaschen. Vielleicht kann uns diese Weihnachtsstube ein Bild für die Ewigkeit oder den Himmel abgeben. Jetzt ist das Besondere zwar schon da, aber es ist noch nicht zugänglich. Ab und zu fällt ein Blick aus unserer Welt auf den Himmel. Ab und an merken wir etwas von der Beziehung, in der Gottes Welt zu unserer Welt steht. Zum Beispiel, wenn ein lieber Mensch stirbt und wir den Eindruck haben, er geht jetzt anderswo hin. Es sind diese Ereignisse des Geborenwerdens und des Vergehens, die uns sowohl die Schönheit des Lebens, als auch den Schmerz, der mit ihm verbunden ist, erleben lassen. Weihnachten gibt uns eine Antwort auf die uralte Menschheitsfrage: „Woher kommen wir und wohin gehen wir?“ Wie kann man in Gottes Ewigkeit eingehen? Wie können wir in den Himmel kommen?
Weihnachten wird schlaglichtartig klar: Wir leben nicht nur in dieser Welt. Wir kommen aus einer anderen. Und in diese gehen wir eines Tages wieder zurück. Diese beiden Räume liegen nicht übereinander, wie die Stockwerke eines Hauses. Das war der Fehler des Mittelalters. Man dachte und lebte ganz stark von dieser anderen Wirklichkeit her, dachte den Himmel aber wie ein anderes Stockwerk im gleichen Haus, nur über uns. Dagegen durchdringen sich die Räume der irdischen und der himmlischen Welt gegenseitig. Sie liegen ineinander. Ewigkeit finden wir in der Zeit. Der Himmel ist nicht nur über uns, sondern bei uns und sogar in uns. Der Himmel durchdringt unsere Welt, auch wenn er normalerweise unseren Augen verschlossen ist. Und doch gibt es ab und an Momente, in denen die Ewigkeit in der Zeit aufblitzt. In der Weihnachtsgeschichte hören wir von einem solchen Moment. Da geschah zunächst einmal eine ganz normale Geburt eines ganz normalen Kindes durch eine ganz normale Frau. Aber dann – wenige Zeilen später – wurde uns berichtet von Hirten, die ihrer alltäglichen Arbeit nachgehen, denen aber auf einmal der Himmel aufreißt und sie erst diesen einen Engel vernehmen, der ihnen das Geschehen, das in ihrer Nachbarschaft passiert war, erläutert und dann die vielen Engel ihnen das Lob Gottes und den Frieden auf Erden verkünden.
Man kann sich das gar nicht gegensätzlich genug vorstellen. Da ist der ganz normale Alltag, die mühevolle Arbeit des Broterwerbs mit ihrer unvermeidlichen Langeweile und Routine auf der einen Seite und dann dieser geöffnete Himmel mit dem freien Blick auf Gottes Welt auf der anderen Seite. Natürlich möchten wir gern mehr wissen über Gottes Welt. Und jeder, in dem nur eine Ahnung aufflammt von der Realität dieser anderen Welt, möchte auch an ihr Anteil haben und einmal, nach dem Tode, ganz in ihr leben. Das alte urchristliche Lied gibt uns hier einen eindeutigen Hinweis. Es redet nicht nur von der Existenz dieser Räume, sondern betont in sechs unterschiedlichen Akzenten dass Jesus, nur Jesus, die Tür zwischen diesen Welten ist. Zunächst einmal heißt es:
„Er erschien als Mensch in der irdischen Welt,
wurde in sein Recht eingesetzt in der himmlischen Welt“ 1.Tim 3, 16).
Wir alle kommen aus Gottes Hand. Wir sind seine Geschöpfe. Er rief uns ins Leben und schenkte uns unser Dasein. Aber dann wird Gott in Jesus Christus selber Mensch. Gott durchbricht die Trennung der beiden Räume und kommt selbst in diese irdische Welt hinein. Gott ist nicht die jenseitige Welt, sondern er ist der Schöpfer und Herr beider Welten, der irdischen und der himmlischen Welt. Gott wird ein Gott zum Anfassen. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Er kennt Hunger, Durst und Müdigkeit. Er hat den Schmerz der zurückgewiesenen Liebe selbst erfahren. An seinem eigenen Körper hat er Schmerz, Leid und Tod erlitten. Das einmalige des Hineinkommens Gottes in diese Welt liegt in dem Kindsein des Neugeborenen. Ein solches Kind ist hilflos und verletzbar. So verweist die Geburt in der Krippe bereits auf das angefochtene Leben, das am Kreuz zu Ende ging. Wir hätten uns das doch anders ausgedacht. Die vielen Fantasyfilme, die in den letzten Jahren Furore gemacht haben, zeigen, wie Menschen sich übersinnliche Kraft auf dieser Erde vorstellt. Wenn der Mensch sich Gott auf Erden vorstellt, dann muss Gott als eine Art Supermann erscheinen. Aber kein Mensch kommt auf die Idee, in einem unscheinbaren Säugling Gottes weltumstürzende Anwesenheit unter uns zu denken. Das Großartige ist: Gott nimmt sich selbst zurück. Er kommt nicht mit seiner Größe und Macht, sondern in seiner Niedrigkeit. In der Kleinheit des Gotteskindes liegt seine Größe. Dieser Jesu hat die Macht, weil er die Ohnmacht durchlitten hat. Als ein allumfassender Herr ist er sowohl in der unsichtbaren Welt („er zeigte sich den Engeln“), als auch in der irdischen Welt bekannt gemacht worden („und wurde bei den Völkern verkündet“).
Die Geschichte Jesu Christi in dieser Welt ist eine Erfolgsgeschichte unter dem Anschein des Gegenteils. Ja, es ist wahr, zur Christentumsgeschichte gehören auch die Kreuzzüge, die Missbrauchsskandale und die Unglaubwürdigkeitskrise der Kirche. Ich weiß, das ist furchtbar und für manchen ein Hindernis, um sich dem christlichen Glauben zuzuwenden. Aber die Kirche besteht nur aus ganz gewöhnlichen Menschen, die auch nur die ganz gewöhnlichen Sünden begehen. Was erwarten wir da? Entscheidend ist, dass mit Jesus Christus ein Glaube an Gottes wunderbare Welt ermöglicht wurde. Jesus hat nicht nur Liebe zu allen Menschen, sogar zu den Feinden, gepredigt, sondern auch gelebt. Dieser Same einer neuen Welt wächst und ist nicht kleinzukriegen. Jahr für Jahr werden die Christen auf dieser Erde mehr. In Afrika, in Asien, bes. in China interessieren sich die Menschen für das, was Jesus in die Welt gebracht hat. Leider haben wir in Europa eine andere Situation. Aber entscheidend ist doch das mit Jesus etwas in Gang gesetzt ist, was diese Welt braucht. Durch Jesu Leben und seine Verkündigung, besonders durch sein Sterben, gibt es Versöhnung. Diese Kraft ist die Grundlage für eine Welt, in der es sich zu leben lohnt.
Gerade ist Nelson Mandela gestorben. Sein Leben war ein Beispiel für diese Feindschaft überwindende Macht der Versöhnung. Nach Jahrzehnten des weißen Rassenhasses lag eine Rache der schwarzen Mehrheit in Südafrika zum Greifen nah. Es ist im wesentlichen Nelson Mandela zu verdanken, dass es dazu nicht gekommen ist. Zwei Gründe waren es, die ihn befähigt haben, für Versöhnung zu wirken. Zum eine besaß er angeborene Führungsqualitäten durch seine Herkunft aus einer Xhosa-Häuptlingsfamilie. Dazu kam sein christlicher Glaube, der es ihm ermöglicht hat, sogar seine Feinde zu lieben. Sehr bewegend war für mich der Besuch auf Robben Island, der Gefängnisinsel vor Kapstadt, auf der Nelson Mandela einen Großteil seines 27jährigen Gefängnisaufenthaltes verbracht hat. Wir wurden von einem früheren Mitinsassen Mandelas durch die Räume des Gefängnisses geführt. Am Ende fragte er die Besuchergruppe: „Was braucht ein Volk, um wirklich leben zu können?“ Die Besucher nannten ihm: Demokratie, Freiheit, Menschenrechte. Jedes mal erklärte der frühere Gefängnisinsasse, dass dies zweifellos wichtige Güter für das Zusammenleben von Menschen seien. Am Ende erklärte er, was seines Erachtens aber unverzichtbar sei: „Ohne Versöhnung wird es nie zu einem Aufbau einer Nation kommen.“
Mit Jesus Christus ist die Versöhnung in die Welt gekommen. Deswegen haben die Engel auf der Schafweide bei Bethlehem gesungen: „Friede auf Erden“. Die Kräfte der himmlischen Welt sind durch Christus in die irdische Welt hineingebracht worden. Seit Jesus Christus über diese Erde gegangen ist, gibt es auf ihr mehr Himmel auf Erden.
Wenn wir gleich nach dieser Christvesper in unsere Häuser gehen, dann haben Sie hoffentlich eine Gelegenheit, Weihnachten schön mit den uns vertrauten Sitten und Gebräuchen, mit Christbaum und der geschmückten Weihnachtsstube zu feiern. Tiefgang gibt uns für unsere Feier die mit dem ersten Weihnachtsfest, der Geburt Jesu Christi, einher kommende Erinnerung an die Weltenwende. Seit Christus gibt es nun mehr ‚Himmel auf Erden‘. Amen.