24. Dezember - Zweite Christvesper Heiligabend
24. Dezember 2013
Lukas 2
Liebe Festgemeinde!
„He! Euch ist ein Kind geboooooren!“ schmettert Hedwig. Sie ist der – zugegeben nicht gerade filigrane - Verkündigungsengel im Krippenspiel. Und sie leistet ganze Arbeit. Nachdem sie sich schubsend und polternd den Weg auf die Bühne erobert hat, trompetet sie ihr „Fürchtet euch nicht!!“ so herzhaft in die Welt, dass all die Hirten samt Heiliger Familie zittern und sich fürchten - vor Hedwig, versteht sich, nicht vor dem Engel. Und trotz alledem, liebe Gemeinde, Hedwigs „Euch ist ein Kind geboren!“ klingt wie die beste Botschaft der Welt.
Die beste Botschaft, ausgerechnet von Hedwig Herdmann! Sie ist, viele von Ihnen werden die Geschichte kennen, wie ihre fünf Geschwister eigentlich furchtbar: vorlaut, schlagkräftig und nicht die reinlichste, kurz: der Albtraum jeder Krippenspielregisseurin. Ungeachtet dessen besetzen die Herdmanns durch Einschüchterung der Konkurrenten alle Hauptrollen. Und weil sie die Weihnachtsgeschichte überhaupt nicht kennen und nichts anfangen können mit Hirten, der Krippe oder gar einem Engel, läuft bei der Aufführung nichts wie geplant. So muss der Chor singen, bis er schwarz wird, stehen doch Maria und Josef alias Eugenia und Ralf Herdmann minutenlang stumm auf der Bühne. So, als seien sie sich nicht sicher, ob sie am rechten Ort sind. Und während sie in ihrer Ratlosigkeit alle anrühren, - der Schleier der Maria so verrutscht wie die Miene des Josef - , wird plötzlich klar: Genauso muss es damals gewesen sein, damals vor zweitausend Jahren, in Bethlehem. Das hochheilige Paar nicht entrückt verzaubert, sondern ratlos. Furchtsam. Zwei Menschen, die in ihrer Not nicht wissen wohin.
Unweigerlich schiebt sich mir das Bild eines syrischen Paares über diese Szene, das ich in den Nachrichten gesehen habe. Die kleine Tochter an der Hand steht das Paar wartend in einem Flüchtlingslager im Libanon. So verloren wirken sie! Und verfroren. Nach dem harten Wintereinbruch fehlt es Millionen von Flüchtlingen an Decken, Heizung, an einem Dach über dem Kopf. In Jordanien, im Irak, in Syrien selbst. Alles nicht weit von eben jenem Bethlehem entfernt…
Auch in dies Elend hinein stolpert Hedwig mit ihrem: „He! Euch ist ein Kind geboren!“ Die beste Botschaft der Welt bekommt unverhoffte Eindringlichkeit. Vielleicht weil Hedwig selbst als Baby in eine Kommodenschublade gelegt wurde statt in ein Kinderbett. Weil auch sie es kennt zu frieren. Vielleicht ist ihr lautstarkes „Fürchtet euch nicht“ deshalb so glaubwürdig, weil sie weiß, was es heißt, in unsicheren Verhältnissen zu leben oder sich immer unsicher zu fühlen.
Hedwigs Auftritt enthält also auch einen ganz eigenen Ernst und steht wohl für das Lebensgefühl manch Kindes. Sie will nämlich gar nicht provozieren und das Spiel stören. Nein, sie freut sich, und das mit aller Kraft! Endlich einmal. Und kann es halt nur ungestüm. Freuen hat sie nie geübt. Sie merkt, wie ihr Herz springt. Vor Freude über die Angst hinweg, die manchmal wie eine Mauer in ihr ist: Die Angst, nicht bestehen zu können vor den Augen anderer.
Fürchte dich nicht, spricht der Engel. Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren!
Heute. Unbeschwert sollen wir werden und hoffnungsfroh. Nicht bedrückt sein von dem, was uns immer so Sorgen macht. Nein, auch wir sollen den Freudensprung wagen, mag sein, über unsere inneren Mauern. Denn wie sonst sollten wir den Horizont sehen? Und dass es hinterm Horizont immer weiter geht?
Damit wir diese Aussicht, diese Weitsicht gewinnen, ist Gott auf die Erde gekommen: Herunter gekommen, im wahrsten Sinne. Und das heißt: Gott ist eben nicht nur ein Gedanke, der unseren Alltag begleitet, bei dem einen mehr, bei der anderen weniger. Vielmehr ist die eigentliche Sensation des Weihnachtsfestes, dass Gott aufhört, nur ein Gedanke zu sein. Er ist, wie es etwas altmodisch klingt, "Fleisch", also leibhaftig zu einem Menschen geworden. Er weiß, was es bedeutet, als Mensch zu fühlen, zu denken, zu begehren und angewiesen zu sein. Er weiß, was uns Furcht einflößt, denn er kennt unsere Tristesse, die Enttäuschung und den Liebeskummer; er weiß von dem leeren Bett neben dir und der Hungersnot, auch der inneren. Er weiß von deinem Zorn, deiner Trauer und deiner Angst vor der nächsten Lebenshürde. Und er weiß damit auch von deiner Sehnsucht nach Glücksgefühl und Liebeswort. Vielleicht gerade jetzt, in diesem Moment.
Die eigentliche Stärke Gottes ist, dass er unseretwegen schwach wird vor lauter Liebe. Aus einer Wurzel zart – zärtlich liebt sich Gott in diese Welt hinein. In diesem Moment. Und zwar auch in den ganzen Irrsinn der tobenden Welt, in die Ohnmacht der arabischen Friedensstifter, in die Verzweiflung der Hunger Leidenden, in die Hoffnungen der Flüchtlinge vor den europäischen Grenzen. Auch dahinein kommt Gott. Mit unbeirrbarer Liebe und Friedensnähe. Und einer ermutigend verrückten Hoffnung! Hoffnung selbst gegen alle Brutalität, gegen Gewalt und Tod.
Und ich denke an die Ereignisse der letzten Tage, wo Menschen anderen Menschen Gewalt angetan haben. Gewalt im Kinderzimmer. Hamburg trauert um ein kleines Mädchen, das so viel erlitten hat. Furchtbar. Ich denke aber auch an die verstörende Brutalität, die sich auf Hamburgs Straßen Bahn gebrochen hat, in den vergangenen Tagen und Wochen. Zum Fürchten, dass Diskussion von Pöbelei verdrängt wird und Argumente durch Pflastersteine ersetzt werden! Es erwächst aus so viel Hass und Gewaltbereitschaft doch keine bessere Welt - es erwächst daraus nur das Klima der Angst!
Fürchtet euch nicht? Angesichts dessen ein womöglich banaler Slogan?
Nein, fürchtet euch nicht. In aller Klarheit. Denn die nackte Verletzlichkeit des Gotteskindes sagt doch eindeutig: Furcht ist nicht der Geist des Christentums. Sondern Aufmerksamkeit. Hinsehen. Mit der Barmherzigkeit des Gotteskindes. Die Barmherzigkeit macht uns frei! Frei von der Furcht, zu ohnmächtig, unperfekt, zu schwach zu sein und zu verletzbar. Von der Verzagtheit, doch nichts ändern zu können. Gottes Barmherzigkeit macht uns frei, Haltung zu zeigen. Nein zu sagen zu jeder Gewalt und Unbarmherzigkeit.
Gottes Ja zu uns öffnet den Blick für all die Verneinungen, die uns umgeben. Und zugleich dafür, wie wir neue Anfänge versuchen können. Ich glaube, ganz vorsichtig, in diesem Jahr gab es viele Anfänge, sind wir alle verändert. Mag sein, durch ganz persönliche Ereignisse und Begegnungen. Aber auch nach einem wunderbaren Kirchentag, nach einem African Summer auf St. Pauli, nach den so nah gekommenen Flüchtlingsnöten an vielen anderen Orten. Es ist so ermutigend zu sehen, dass es ein zivilgesellschaftliches, herzhaftes, manchmal auch stilles Engagement für die Vielfalt in dieser Stadt gibt. Die Rentnerin, die der syrischen Familie Deutschunterricht gibt; die Spitzenköche, die den afrikanischen Flüchtlingen ein Festessen spendieren, die Ärzte, die kostenlos Krankheiten behandeln, die Schülerinnen, die einen Flashmob organisieren. Alle sagen sie mit ihrem Engagement: Wir müssen unser Herz über die Mauer der Befürchtungen werfen und sagen: Welcome! Willkommen hier. Wir müssen neu darüber nachdenken, wie das Heimatrecht auf dieser Erde für alle gültig werden kann. Black and white together. Global verbunden. Wäre es also, so fragen sie alle, nicht endlich an der Zeit, auch für die Ärmsten der Armen Rettungspakete zu schnüren und nicht nur für Banken? Rettungspakete wohlgemerkt mit vergleichsweise bescheidenen Summen für Entwicklungshilfe, Bildung und Gesundheitsversorgung, in Afrika, Asien, Südamerika. Es ist eine Aufgabe, die uns alle gemeinsam angeht: Mensch zu werden. Wie er, der Heiland, auch.
Denn: He! Euch ist der Heiland geboren.
Manchmal sind es Menschen wie Hedwig, die uns die gute alte Wahrheit neu zu verstehen geben. Die unverhofft in unser Lebensspiel eingreifen und uns aufrütteln – liebesbedürftig, mit ungeputzten Schuhen unterm Engelkostüm und der innigen Sehnsucht, willkommen geheißen zu werden in diesem Leben. Es liegt auch darin eine Würde. Die Würde derer, die nicht in die Rollenspiele der Gesellschaft zu passen scheinen. Wie Jesus einst auch.
Und so kommen an diesem Heiligabend die Menschen seltsam angerührt aus der Kirche. Noch vor Augen, wie die heiligen drei Herdmanns nicht Weihrauch, Gold und Myrrhe, sondern einen riesigen Schinken zur Krippe tragen. Schlicht, weil es das Einzige ist, was sie haben, um es dem Jesuskind schenken zu können.
Und auch Sie gehen hinaus in die Stadt, in Ihr Weihnachtsfest und sind – so ersehnt es das Kind - beschenkt mit dem Gedanken, dass es eine Wirklichkeit gibt, die hinter den Dingen liegt. Eine Wirklichkeit, die nicht dem Schein folgt, sondern dem Licht. Eine, die sagt: Fürchte dich nicht. Er ist angekommen. Mit tiefer Freude. Und, gebe Gott, sie kommt an. Bei jeder/m. Jetzt.
Ich wünsche Ihnen von Herzen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest, liebe Festgemeinde! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in ihm, Christus Jesus, Gottes Sohn. Amen.