Christus glaubt an unsere Kraft
24. September 2017
Gottesdienst mit den Gemeinschaften Altona, Bramfeld und Stormarn anlässlich der Vertragsunterzeichnung, Predigt zu Genesis 12, 1-4 und Joh 15,16
Liebe Schwestern und Brüder,
zum Glück wissen wir, wie es wirklich war: Abraham hat der Versuchung widerstanden, einfach zu Hause zu bleiben und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Er ist losgegangen, trotz seines Alters. Und trotz Reiserücktrittsversicherung. Im 1. Buch Mose heißt es schlicht: „Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte.“ Kein Zögern, kein Diskutieren, keine Vertragsvereinbarung – einfach los. Zum Glück. Und Segen.
Zum Glück bin ich heute losgezogen, ohne Zögern, zu Ihnen hierher in diese Gemeinschaft der Gemeinschaften. So lebendig ist es hier und zugewandt, spürbar die Freude, zu diesem besonderen Anlass der Vertragsunterzeichnung zusammen zu kommen und gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Und wie! Mit Pauken und Trompeten, Wort und Theaterspiel, mit Bratkartoffelsuperpfanne und `nem Küsschen auf die Wange - Uuuuh! Ich freue mich und es ist mir eine Ehre, heute bei Ihnen zu sein!
Losziehen, um etwas Neues – oder manchmal auch zu sich selbst – zu finden, das ist eigentlich sehr modern. Viele Menschen sind auf der Suche nach neuem Leben. Religiös. Kulturell. Politisch. Sie wechseln den Beruf, sie nehmen sich eine Auszeit, sie wandern aus. Manche versuchen es mit dem Pilgern, manche mit Lachyoga. Sie machen sich auf, weil sie sich sehnen. Nach dem „Eigentlichen“. Weg von dem Wortschwall der Zutexter hin zur Konzentration. Hin zu dem, was einem wirklich etwas sagt. Unglücklicherweise aber fehlen vielen dafür die Worte. Die Sprache des Eigentlichen ist abhanden gekommen…
Am vergangenen Sonnabend bei der Nacht der Kirchen – ich liebe dieses Glaubensfest in ökumenischer Vielfalt! – habe ich nach der Eröffnung in der Spitaler Straße (erkennbar im Ornat) Segensbänder verteilt. Sie glauben gar nicht, wie viele es sind, die sich nach dem richtigen Wort sehnen. Und wahrlich nicht allein wir „Churchies“. Sondern beispielsweise eine Gruppe von jugendlichen Geflüchteten. Einige konnten weder deutsch noch englisch, und so haben die anderen für sie übersetzt, was ich ihnen jeweils einzeln zugesprochen hatte: Gott begleite dich und gebe dir die Zuversicht, dass auch nicht ein Tag deines Lebens vergebens ist. – Auch wenn es manchmal so schwer ist und fremd: Gott schenkt Dir Zuversicht, dass du hier eine Heimat findest und Freunde, mit denen du tanzen gehst. - Und du, du wirst ein Segen sein, weil in dir so viel Kraft ist und Hoffnung und Liebe, die die anderen von dir brauchen.
Und so habe ich sie also gesegnet, jede und jeden individuell, Jungverliebte, Traurige, eine gerade arbeitslos gewordene ältere Frau, etliche Senioren aus Weimar, schon ein bisschen angeschickerte Junggesellinnen, den Obdachlosen, Chorsänger, Einkaufstüten tragende Herren – 2 ½ Stunden erlebte ich voller Momente der Nähe und Rührung. Ich hätte Stunden weitermachen können.
Und es war wieder einmal zu spüren: so viele sind überrascht, wie tief ein Segen sie berührt. Denn sie kennen nichts oder nur wenig vom Glauben oder von Religion. All die alten Bilder der Tradition, die biblischen Verheißungen vom gelobten Land, vom himmlischen Jerusalem – sie sind unbekannt. So vielen fehlen deshalb buchstäblich die Worte. Worte und damit innere Bilder, die ihnen helfen zu leben. Die ihnen Hoffnung geben und Aussicht und inneren Frieden. Worte auch, mit denen sie um Vergebung bitten. Und ihr Scheitern aushalten können. So vielen fehlt das Dach des Segens. Und so scheint es ihnen manchmal, als sei Gott selbst unbekannt verzogen. Jedenfalls aus ihrem Leben.
Der moderne Mensch ist metaphysisch obdachlos geworden, liebe Geschwister. Und er fühlt das. Er fühlt, dass die Flachbildschirme um ihn herum die Tiefe des Lebens nicht fassen. Fühlt das Gehetztsein einer Leistungsgesellschaft, die kaum noch Sonntagsorte kennt. Orte also, wo Licht ist und Trost. Deshalb suchen so viele. Suchen Heimat für die existentiellen Fragen, die sie umtreiben. Es gibt eine tiefe Sehnsucht in unserer Gesellschaft nach Wahrhaftigkeit, Liebe, Zugehörigkeit. Und wer sich sehnt, bleibt nicht wo er ist. Der wählt einen neuen Weg. Wer sich sehnt, will, dass sich etwas ändert.
„Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland … in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich ... will dich segnen und du sollst ein Segen sein. ...Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte. Er aber war fünfundsiebzig Jahre alt.“
75 Jahre! Dazu muss man sagen: Angesichts seiner Ahnen mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 330 Jahren war Abraham geradezu im besten Mannesalter. Ein junger Alter sozusagen. Er vertraut, dass Gott für sein Leben noch viel bereithält. Deshalb geht er tatsächlich! Zusammen mit seiner Frau, die auch noch schwanger wird, „obwohl es ihr nicht mehr ging nach der Frauen Weise“. Abgesehen von der Schwangerschaft, liebe Gemeinde - beschreibt diese alte Geschichte nicht letztlich auch die Moderne des Altwerdens? Denn die jungen Alten hier mögen mir zustimmen: Warum sollte das 75- oder 70- oder 65 jährige Leben nicht nach vorn gelebt werden? Mit Freude und Erwartung? Es liegt doch für uns alle immer etwas Unerkanntes vor uns, etwas Unberührtes, Neugeborenes, das von uns in die Arme genommen werden will, so runzlig die Arme auch sind.
Und so warten doch in jedem Alter sinnhafte Aufgaben auf uns! Es will Posaune gespielt werden und Schlagzeug, und bei Eurem Netzwerk zur Flüchtlingshilfe ist auch jede Hand gefragt. Auch zarte neue Liebe gibt´s und Frühlingserwachen im selbstbewusst faltigen Gesicht. Apropos: Haben Sie die Rolling Stones gesehen? Vier Männer, zusammen fast 300 Jahre alt, gehen auf Welttournee. Gestartet in Hamburg, traten sie jetzt gerade in Zürich auf - und trafen dort Tina Turner, 77 Jahre, die vor kurzem selbst noch auf der Bühne stand – ein rockendes Beinwunder ohne Venencreme.
Die biblische Geschichte spiegelt aufregend aktuell demographische Realität: Ganz anders als die 75-Jährigen vor vierzig Jahren sind sie heute allerorten im Aufbruch. Auf Reisen. Auch inneren Reisen. Ohne sie keine ehrenamtliche Hospizbewegung, keine Obdachlosenarbeit und kein Deutschunterricht für Flüchtlingskinder. Ihre Erfahrung und Lebensfreude und ja, auch ihre Sinnsuche sind elementar für das soziale Gesicht unseres Landes. Kein gelobtes Land also ohne die 75-, 70-, 60-Jährigen!
Wie unerhört real ist also die alte Geschichte des Abraham! Zugleich ist sie nicht allein von dieser Welt: Denn Abraham geht nicht, weil er es genau so will. Sondern weil Gott ihn berührt. Nicht er selbst, Gottes Wort bricht auf, was ihn bannt. All das Unglück, die Trauer und die Angst, die sich in einem Leben angesammelt haben mögen, bricht er auf. Und so spricht auch Jesus Christus: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe.“ (Joh 15, 16) Gott ist derjenige, der handelt.
Christus hat uns erwählt, liebe Geschwister. Mit Folgen! Damit wir nämlich losgehen und Frucht bringen, und dass diese Frucht bleibt. So wie bei der Bundestagswahl heute nicht nur zählt, dass jemand vorher viel verspricht und hinterher wenig hält, so hofft auch Christus, dass etwas folgt aus seiner Wahl: Veränderung, Aufbruch, ja, dass Böses mit Gutem überwunden wird. Kurz: dass wir ihm nachfolgen und zum Segen werden. Und dazu haben wir die Wahl, jeden Tag neu. Auf dass diese irrsinnige Welt eine bessere wird!
Christus glaubt an uns. Christus glaubt an unsere Kraft zu lieben, um den Hass in der Welt zu bannen. Und weil er uns liebt, immer schon, wird er uns niemals abwählen, wenn wir unsere Versprechen nicht halten können. Denn auch das gehört ja zum Leben, dem alten wie dem jungen: Das Gefühl, dass man manchmal nicht genug Kraft hat, um in der Welt der Sieger zu bestehen. Da bannen uns alle doch äußere und innere Barrieren: Schreiblockaden. Liebeskummer. Fest gewordener Trauerstein. Geh da heraus, sagt Christus. Und nimm in dich hinein: Du bist erwählt. Du bist gesegnet und dein Leben wird ein Segen sein. Darum geht es, liebe Geschwister. Dass wir den Menschen auf den Straßen und an den Zäunen zurufen: Sein Segen gilt. Er gilt Dir. Und er bleibt. Segen bleibt, wenn ein Mensch wird, wächst und vergeht. Der Segen bleibt, wenn ein Mensch träumt, zweifelt und denkt, wenn er liebt und begehrt, wenn er rennt und hinfällt, wenn ihm Hören und Sehen vergeht. Der Segen bleibt. Auch durch uns, die wir uns zuwenden und einander verbunden sind in Glauben und Gebet. In dieser lebendigen Gemeinschaft heute. Und durch Menschen, die – manchmal ganz überraschend und unverhofft – einem zum Segen werden und zutiefst glücklich machen können.
Dazu meine kleine Schlussgeschichte vom Kirchentag in Berlin. Ich komme abgehetzt in die Messehalle. Im Café Inklusiv erwartet mich schon aufgeregt Michael zu einem Interview. Er ist um die 50, teilweise erblindet und hat eine geistige Behinderung. Vor allem aber hat er vor Aufregung wegen dieses Interviews mit mir die ganze Nacht nicht geschlafen. All das erzählt er mir, während wir auf die Bühne gehen. Michael beginnt das Interview – mit einem Gebet: „Ich danke dir, Vater, dass uns beim Kirchentag nichts passiert ist. Du begleitest uns, ohne dich kommen wir da ja auch gar nicht durch. Amen.“
Und ich denke: Junge, der weiß wie wir den Vater bitten sollen… Gerade war in Ägypten der blutige Anschlag auf zwei koptische Kirchen passiert. Dann stellt Michael seine Fragen: was man denn so tut als Bischöferin. Beten, sage ich, gehört unbedingt dazu. Und seines sei ein ganz besonders schönes gewesen. Da strahlt er und stellt weiter seine Fragen. Klug. Ein bisschen raffiniert auch. Und weil ihm das sehr gefällt, beantwortet er die Fragen auch gleich selbst.
Als er durch ist, fragt er gespannt: „Na, wie fandest du mein Interview?!“ „Großartig“, antworte ich wahrheitsgemäß, „so ein tolles Interview habe ich wirklich noch nie erlebt!“ Und er, total aus dem Häuschen: „Ach, ich bin so froh, ich bin so glücklich, dass ich das hinter mir hab´… Und jetzt will ich dich segnen.“ Und dann hält er die Hand über mir und sagt: „Lieber Gott, wir bitten dich, begleite auch die Bischöferin, dass ihr ja nix passiert. Kannst sowieso nur du. Amen.“
Ich wünsche euch von Herzen, liebe Geschwister, dass Menschen immer wieder für euch beten und euch segnen. Gerade weil wir viel zu tun haben und immer wieder mutig losgehen sollen. Ich jedenfalls ging leichten Schrittes weiter. Mit neuer Kraft. Und einem tiefen inneren Frieden.
Höher als alle Vernunft.
Sein Friede sei mit uns allen. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.