25. August 2013 - St. Nicolai zu Hamburg-Altengamme

25. August 2013 – Festgottesdienst 825 Jahre Altengamme

25. August 2013 von Kirsten Fehrs

Luk 10

Liebe Festgemeinde!

Was für ein schöner Tag! Sonne, vergnügte Menschen, ein wunderbar geschmückter Ort – ich bin so froh, hier bei Ihnen zu sein und Ihren 825 Geburtstag mitzufeiern!

Als eben die Glocken läuteten, habe ich versucht im quirligen, fröhlichen Geplauder sie herauszuhören: die Glocke mit dem schönen Namen "Celsa". Sie ist eine der ältesten Glocken in Hamburg; 1487 wurde sie am Glockengießerwall für den Hamburger Dom gegossen. Und als der dann vor 200 Jahren abgerissen wurde, wanderte sie hier hinaus nach Altengamme. Wie oft ist diese Glocke nun hier schon erklungen! Und wie viele Generationen haben ihren Klang schon gehört, zunächst in Hamburgs Innenstadt und nun hier, über 500 Jahre insgesamt.

Tradition und Geschichte – sie bauen Brücken. Und geben dem Menschen Halt – in dieser schnelllebigen Zeit mehr denn je. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: "Geschichte ist nicht nur Geschehenes, sondern Geschichtetes – also der Boden, auf dem wir stehen und bauen.“ Gerade an so einem Dorfjubiläum wird einem das doch bewusst! Seit 825 Jahren wohnen hier Menschen, die den Boden bebauen, Erdbeeren und Blumen gepflanzt, geerntet, die Häuser errichtet und wieder abgerissen haben, Menschen, die geboren wurden, lebten, arbeiteten und starben. Jede Generation und jeder Mensch fügte seine Schicht diesem Boden hier hinzu. Eindrucksvoll ist das in Ihrer Ausstellung live und in Farbe zu sehen. Und wenn ich mich so umschaue, hier in der St.-Nicolai-Kirche und auch draußen im Dorf, dann sehe ich überall liebevoll gepflegte Zeugnisse der Vergangenheit.

 

Sie haben eine große Liebe zu Ihrem Dorf, das spürt man sofort. Und es gibt einen starken Geist der Gemeinschaft. Das zeigt sich in den vielen Organisationen und Vereinen, die das Dorfleben und auch das Jubiläum mitgestalten: Die Freiwillige Feuerwehr (ohne die ja nie etwas geht auf dem Dorf), der Kultur- und Heimatverein, die Landfrauen, die Vierländer Speeldeel – und all die anderen, die ich dann beim nächsten Jubiläumsgottesdienst hervorhebe J.

Liebe und Gemeinschaft, sie sind die Seele eines Dorfes. Und Liebe und Gemeinschaft treffen auch die Seele des heutigen Evangeliums. Auch wenn darin zunächst überhaupt nicht von Liebe die Rede ist. Im Gegenteil: Da wird einer überfallen, halbtot geschlagen, liegengelassen im Dreck. Das wäre schon schlimm genug, aber das eigentlich Erschreckende ist: Leute gehen vorbei, sehen den schwer Verletzten, helfen aber nicht. Erst am Ende, da hilft einer, ein Fremdling aus Samaria, ein Samariter.

 

Jesus war ein guter Geschichtenerzähler. Denn ganz schnell fühlt man sich hinein genommen und fragt sich: Wer eigentlich bin ich in dieser Geschichte?

Vielleicht der, der unter die Räuber gefallen ist? So verwundet, wie er ist, und hilfsbedürftig und beschämt zugleich. Fallen, das kann jedem passieren. Mag sein, unter die Räuber. Oder unter die Skrupellosen. Oder über die Teppichkante. Wer fällt, ist auf einmal unten, ausgeliefert. Und so kann im Unglück vieles fallen: Würde, Sicherheit, Masken, ja auch Anstand. Dies anzusehen, ja sich dem auszusetzen, mutet uns Jesus in seinem Gleichnis zu. Denn die Liebe, an die er von Kind an glaubt, die Liebe von ganzer Seele, ganzer Kraft und ganzem Denken, ist der ganzen Wirklichkeit zugewandt – auch dem Verletzten. Auch dem Verwundeten in uns. Und dem, was uns aufstört und was wir eben nicht immer gut aushalten.

 

Oder bin ich einer von denen, der vorbeigeht und wegsieht? Von Jerusalem nach Jericho, wohlgemerkt nach ihrem Gottesdienst ziehen Priester und Levit die Straße entlang – und gehen vorbei! Ein Priester bückt sich nicht nach einem Blutenden, muss er doch rein bleiben, so ist es Tradition. Und hier zeigt sich: So tragend Traditionen sind, so gefährlich können sie auch sein: Nämlich wenn sie uns hindern, unsere Gegenwart zu sehen. Wenn man vor lauter „Würdenträgerei“ so gefangen ist, dass man die übersieht, die ihrer Würde beraubt sind. So viele schöne Kirchen haben wir in Hamburg, richtige Kulturschätze – doch was tun wir, wenn Obdachlose und Flüchtlinge vor der Tür stehen?

„Nicht jetzt, das geht jetzt nicht“ – ist doch ganz oft der erste Impuls. Nicht jetzt, viel zu tun, dafür gibt es ja andere, die können das besser: Notarzt, Feuerwehr, Bahnhofsmission, wer auch immer…Alles rational richtig eben, aber irgendwie auch vorbei.

Es geht auch anders, wie man hier in Altengamme erleben kann. Und wie – ganz anders – das Beispiel St. Pauli zeigt. Da schlafen Flüchtlinge in der Kirche, vor dem Altar. Sie werden von 50 Ehrenamtlichen versorgt. Und es werden immer mehr. Ehrenamtliche, meine ich. Es ist so sinnvoll. Gelebte Nächstenliebe, die geht! Dort ja, hier bestimmt auch, aber nicht überall. Und nicht immer. Wir sind nicht immer das leuchtende Beispiel. Leider. Dazu gibt es einfach manchmal zu viele Bedenken…

Nein, der Nächste, bitte! Jesus beharrt darauf, dass die Wahrheit unseres Glaubens nicht im Rationalen, im Denken liegt. Sie liegt in der Liebe, in einem so heftigen Gefühl, dass es einem den Atem nimmt. Den Samariter überfällt dieses Gefühl. Ausgerechnet er, der von der Gesellschaft Ausgestoßene, sieht hin, hört hin und „ es jammerte ihn“, bis in die Eingeweide fühlt er es. Und so kann er gar nicht anders als von seinem Esel zu steigen, sich zu dem Verletzten hinab zu beugen, ihn zu halten. So fremd sind sie sich und trotzdem so nah.

 

Es ist eine intensive Begegnung. Eine, die vor allem zwei Bewegungen umfasst. Das eine ist die Liebe, raumgreifend und impulsiv. Sie meint den Nächsten, die, die einen in der Familie und im Dorf brauchen. Und sie meint dann die Ferneren und den Feind auch. Und die andere Bewegung, liebe Gemeinde, die unbedingt zur Liebe gehört, ist das Absteigen vom Esel. Das Runterkommen. Das Absteigen steht für den Verzicht auf die eigene Bedeutung, die eigene Meinung, Tradition, den eigenen Erfolg. Das Absteigen ist wie eine Art Statusverzicht. Gott selbst ist das Muster für diese Hingabe. Gott als der heftig Liebende steigt ab in die Niederungen menschlichen Lebens. In aller Konsequenz. Bis zum Kreuz. Und so ist es keine Moral, die uns sagt, was gut ist. Sondern der Glaube. Eine Gottesvorstellung. Absteigen und Herabbeugen vor lauter Liebe – die Tradition nennt es humilitas. Niedrig sein. Wir haben auf der Erde, Humus, zu bleiben, sozusagen auf dem Teppich des Blumengartens. Nur indem wir dort bleiben, mit Verstand und Gefühl und unserem Gott, verstehen wir, was andere jammert, was sie bewegt und was zu tun ist.

 

Was für ein Bild. Was für ein Evangelium heute! Voller Kraft. Denn es rechnet damit, dass wir es immer wieder schaffen: Dass wir vom Esel des sozialen Ranges, vom Esel unserer Gewohnheiten, von welchem Esel auch immer herunter steigen. Du kannst doch sonst mit keinem im Dorf solidarisch sein, wenn du oben bleibst. Du wirst keinen verstehen, den du nicht wenigstens ein bisschen magst. Mehr noch: Willst du wirklich jemanden aufrichten, der gefallen ist, musst du dich hinknien und dich unter den Verletzten begeben. Nur dort vermagst du ihn aufzuheben. Wer einmal einen Menschen gepflegt hat, weiß, dass es einem das Ganze abverlangt, konzentrierte Kraft und Liebe von ganzem Herzen, die ganz viel hält und aushält.

 

Es geht ums Ganze, ums Ganze menschlichen Lebens. Auch hier in dieser jahrhundertealten Kirche, in der sich viele Generationen anvertraut haben im Gebet. Mit ihrem Jammer, mit ihrer Schuld, aber auch mit ihrem Glück und ihrer Liebe. Vor allem sie soll hier leben im Dorf. Gern auch noch die nächsten 825 Jahre. Und so lässt Jesu Gleichnis uns gerade nicht aus der Pflicht heraus fragen, was muss ich tun? Sondern vielmehr haben wir die Freiheit zu fragen: Was will Gott in mir frei setzen, dass mein Tun Ausdruck seiner Liebe und Güte wird? Was tue ich in meinem guten alten Dorf mit all den Kräften meiner Seele und meines Körpers, auch mit meinen Träumen, meinem Hoffen und Gesang, meinem Humor, meiner Lebensfreude? Wem werde ich damit zu einer, zu einem Nächsten?

 

Gott nimmt uns hinein in die Liebe, die keine Grenze kennt. Der Klang der Glocke steht dafür, jeden Sonntag. Sie ruft uns und sagt: Die Geschichte geht weiter, und wir selbst legen Schicht um Schicht auf die guten und schlechten Taten unserer Vorväter- und -mütter. Aber wir können es so tun, dass das Herz froh werde und leicht. Indem wir das „Nächstenliebe üben“ üben, immer wieder – gebe Gott, dass es oft gelingen möge!

 

Wie in meiner Schlussgeschichte. Als Vikarin war ich in einem Dorf, ähnlich wie Altengamme. Ich hatte eine kluge Konfirmandengruppe. Heute würde man sie als „inklusiv“ bezeichnen: Florian war schwer lern-, ja fast geistig behindert, und die anderen kannten ihn seit Kindertagen – so wie das eben ist auf dem Dorf. Irgendwann war auch die Geschichte vom Barmherzigen Samariter dran. Was liegt näher als sie hochdidaktisch aufzubereiten und mit einem Rollenspiel verständlich zu machen? Gedacht, getan. Benno lässt sich gekonnt berauben und fällt stöhnend zu Boden. Sylvia als Priester geht ebenfalls perfekt rollenkonform vorüber, nicht ohne sich zu empören, dass jetzt die Besoffenen schon auf der Straße lägen … Bühne frei nun für Florian, den Leviten. Der zögert kurz, geht entgegen aller Regieanweisungen auf seinen Freund Benno zu, kniet sich auf den Boden und streichelt seinen Kopf. Selbst als Benno sagt: „Mensch Flo, du sollst das anders spielen, geh´ jetzt mal an mir vorüber,“ verharrt Florian bei ihm und streichelt ihn, immer wieder, konstant über den Kopf. Denn es jammerte ihn wirklich.

Mich hat selten eine Szene so berührt. Die Konfirmanden, glaube ich, auch. Für sie buchstabierte sich Nächstenliebe auf einmal in direkter Anschauung. Und zwar so: Nächstenliebe wie

Nahe sein

Armut bekämpfen

Erde retten

Clown spielen (auch: „Chinesen helfen“ lag hoch im Kurs)

(In den) Himmel gucken

Suchen

Tanzen

Eine Ausrede finden (wenn man `mal nicht helfen kann oder mag)

Not taufen

Liebe zeigen

Igel retten

Engel werden

Beten

Ewiges Glück bekommen.

 

Und Jesus sprach: So geh hin und tu desgleichen.

Gott sei mit euch in allem Tun, liebe Festgemeinde hier in Altengamme. Geht gesegnet und: geht geliebt! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

Datum
25.08.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
Zum Anfang der Seite