25. Dezember 2012 - Gottesdienst zum Christfest am 1. Weihnachtstag
25. Dezember 2012
Predigt zur Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevanglium, Kapitel 2
Engel gesucht, liebe Gemeinde im Dom zu Lübeck! Aktiv, kreativ, beflügelnd. Die Gemeinde braucht sie. Und Sie! Engel, gern auch ohne Flügel, die zu den Traurigen gehen und Einsamen, die anpacken und trösten und vorlesen und einfach da sind. So wie Engel seit Jahrhunderten schon im ganzen Dom unser Leben teilen. Engel, die sich (hier!) mit ihren kleinen Fäusten Tränen der Trauer und des Mitgefühls aus den Augen reiben. Oder die (dort) die Welt vergnügen mit gewitzter Pose und hingebungsvoll hellen Liedern. Oder die uns (beigefügte Fotographie) als eine Art Schutzmantelengel zeigen, dass das Geheimnis Gottes in unserem Leben oft verborgen ist in und hinter den Dingen.
Sie merken: die Engel geben heut den Ton an. Sehr zu meinem Wohlgefallen. Schon seit ich Kind bin, hat es mich jedes Jahr am 1.Advent sehr feierlich gestimmt, wenn meine Mutter den Rauschgoldengel aufs Büffet stellte. So schön war er in seinem Glanz, mit dem Engelhaar und seiner weißgewandeten Majestät – ich gestehe: Ich wäre zu gern selbst ein Engel gewesen. Leider blieb mir das Glück, beim alljährlichen Krippenspiel den Engel zu geben, versagt. Mir fehlten damals die beiden Vorderzähne und damit leider das selige Lächeln, mit dem die Maria beruhigt werden sollte in ihrer Angst.
Denn – Ernst beiseite – die Weihnachtsgeschichte weiß ja etwas von der Furcht, die Menschen ergreift, wenn sie in die Nähe des Heiligen geraten. Ehre und Furcht liegen dicht beieinander, wenn einem leibhaftig ein Engel erscheint. Die Hirten fürchteten sich sehr, heißt es, – erscheint doch alles durch des Engels Klarheit in anderem Licht. Klarheit muss man erst einmal aushalten können! Engel, das spürt der Mensch seit jeher, entstammen einer Sphäre, auf die wir keinen Zugriff haben, und die trotzdem unser Leben beeinflusst. Eine Wirklichkeit, die jenseits fassbarer Daten und Fakten unsere Realität durchwirkt. „Dazwischen“ – so der biblische Befund - vermitteln Engel. Sie befinden sich an den Übergängen zwischen diesen Wirklichkeiten, sind Boten zwischen Himmel und Erde. Sie haben den göttlichen Auftrag, Gottes Sprache verstehbar zu machen, Brücken zu bauen zwischen dem oft so fernen Gott und dem irdischen Sehnen nach einem Liebeswort. Wie das geschieht? In jüdischer Tradition stellte man sich das so vor, dass Engel auf einer Himmelsleiter unentwegt hinauf- und hinabsteigen: Die einen bringen das Flehen des Menschen zu Gott hinauf, die anderen tragen seinen schützenden Segen zu den Menschen hinunter in ihre Herzen. Engel sind wie eine „Bridge over troubled water“. Sind stabil, sehr konditionsstark und angenehm geschäftig – wer weiß, vielleicht sitzen hier gerade mehrere hundert von ihnen und ruhen sich einmal aus? Eine schöne Vorstellung, finde ich, sowohl dass viele Engel als Boten Gottes unterwegs sind, als auch, dass sie menschliche Gestalt haben.
Gottes Engel sind täglich mitten unter uns, sozusagen in Bereitschaftsdienst. So beschreibt es die Bibel. Ohne Flügel begegnen sie den Menschen, oft unerkannt, im Alltag. Ich vermute, viele von Ihnen haben dies schon einmal hautnah bei sich und besonders bei den Kindern und Enkeln erfahren. Ohne dass sie eine Gestalt hätten, ersehnen wir uns doch, dass Engel schützend die Hand über uns Menschenkinder halten. So wie es das berühmte Psalmwort ausdrückt: Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest (Psalm 91, 11f). Besondere Botschaften allerdings brauchen besondere Engel, so will es die Engelhierarchie. Kein Wunder, dass Maria sich gehörig erschrickt, als sie peu à peu merkt, dass ein Erzengel vor ihr steht, der ihr auch noch verkündigt, sie solle Gottes Sohn gebären! Und angesichts ihres heiligen Schrecks sagt der Engel, wie stets und immer, als erstes: „Fürchte dich nicht!“ Und – auch das gehört zum Engeltext in der Bibel: „Bei Gott ist nichts unmöglich.“
Unmöglich! sagt der Denker. Jungfrauengeburt! Wer glaubt denn an so etwas. Und kann sich voll und ganz bestätigt sehen: Je unglaublicher eine Geschichte, mit desto mehr Engeln können wir rechnen. Die Weihnachtsgeschichte gar braucht ganze Heerscharen von Engeln! Und, geben wir es zu, es bleibt doch immer noch ein unfassbares Geheimnis, wenn auch wahrlich ein wunderbares, dass die Welt erlöst wurde von ihrer Gottlosigkeit?!
Ja, ist sie denn erlöst? fragt der vernünftige Mensch und schaut sich um und sieht so vieles an Schmerz und Trauer und Elend und Unfrieden. Er sieht nach Newton, erschüttert dass ein Amokläufer nicht zurückschreckte vor der Zartheit so vieler Erstklässler. Er sieht nach Israel /Palästina, verzweifelt darüber, dass - so lange schon! - das Friedenslicht in Bethlehem nichts auszurichten scheint gegen diese immer wieder eskalierende Gewalt. Er sieht die vielen Opfer in Syrien, im Irak, in Afghanistan, fragt, wann dies denn endlich aufhören möge! Er sieht die Trauernden in Bangladesh. Und sieht die Flüchtlinge, die an den Zäunen Europas zu Hunderten umkommen. Er sieht die Armut, diese unvergleichliche Armut in so vielen Ländern der Erde. Er sieht das alles und mag sich nicht damit zufrieden geben, dass es Engel gibt, und seien es ganze Heerscharen, die vor Freude jubilieren über den Neugeborenen mit Namen `Friedefürst´ und `Wunderrat´. Einfach zu süßlich. Der Skeptiker, wenn überhaupt!, versucht die Botschaft Gottes im Angesicht der Weltrealitäten zu verstehen, und dies bestimmt nicht mithilfe der Engel, sondern obwohl es sie gibt.
Aber, frage ich, lässt sich das denn allein mit menschlichem Verstande erfassen, dass Gott kenntlich geworden ist in totaler Entblößung? Dass er fern jeder Macht und blendenden Glücks kenntlich geworden ist, in der Kälte eines Stalles, in einem Kind, einem winzigen König, dessen Name ist: Habenichts, Flüchtling, Vom-Tode-Bedrohter? Das Bild[1], das Sie als Fotographie vor sich haben, liebe Gemeinde, zeigt dies unverklärt: Es kriecht einem die Kälte ja förmlich in die Glieder, wenn man ihn dort liegen sieht, den kleinen Kerl, nackt und bloß auf dem blanken Steinboden! Das Irdische des Wunders fassbar zu machen, ist wohl auch die Absicht des unbekannten Malers, der um 1518 dieses Bild nach einer Vision der heiligen Birgitta malte; ich finde, es erinnert sehr an die Geburtsszene des Stecknitzfahrer-Altars hier im Dom. Indem es einen also hier wie dort beim Anschauen fühlbar fröstelt, durchfährt einen zugleich Erkenntnis: Gott ist im wahrsten Sinne auf die Erde gekommen. Auf den Boden kalter Tatsachen. Verletzlich, hilfsbedürftig, gefährdet und unerhört freundlich.
Das ist Gott, der Allmächtige.
Die zwei hinter dem Fenster dort auf dem Bild versuchen das zu verstehen. Sie staunen und ahnen, dass da mehr ist, als sie erfassen können. Doch anders als uns ist ihnen die Sicht auf die Dinge hinter den Dingen zunächst erschwert. Durch einen kleinen Engel. In dem Maße, wie er uns das Geheimnis offenbart, hält er es zugleich ihnen, die sich noch annähern, verborgen: Mit nahezu blickdichter Flügelstellung und einem Teil des Umhangs der Maria umfängt er das Kind mit seinem Schutz. Das Kind zu schützen hat oberste Priorität. Und so tut er dies hingebungsvoll, den Kopf zur Seite gelegt, als wollte er auch ja alles hören, was da gesagt und vor allem, was da nicht gesagt wird. Ungemein hellhörig, wie Engel eben sind, weiß er, dass in dem unartikulierten Schrei dieses Neugeborenen Gott selbst sein Ja spricht. Er weiß, geheimnisvoll auch für ihn, dass Gott geboren ist. Vor seinen Augen. Innerhalb eines Augenblicks, ohne dass Maria ihn in Schmerzen gebären musste. Er sieht, dass dies der Ewige selbst ist, der hungrig nach der Nähe der Menschen auf ihre Straßen und an ihre Zäune gehen wird. Er sieht vor sich, dass ihn, den Gottessohn, das Leben ebenso aufs Kreuz legen wird wie andere auch.
Der kleine Engel weiß das, doch die zwei dort am Fenster, die können es noch nicht erkennen. Das braucht seine Zeit. Denn die Wirklichkeitsmenschen, wie Thomas Mann sie beschreiben würde, halten erst einmal nur das für möglich, was sie selbst verwirklichen können. Wir sind halt manches Mal noch zu nah an uns selbst und zu fern von Gott, wir sind zu verstrickt in Eitelkeit und alter Gewohnheit, haben zu wenig Abstand zum eigenen Schmerz oder zur eigenen Bedeutsamkeit, um das Neue zu entdecken, das Gott uns zu-schickt. Doch: Fürchte dich davor nicht, spricht der Engel. Wir sehen in unserer Lebensangst oft nicht die Möglichkeiten, sondern nur die Unmöglichkeiten. Sehen vor uns eine blickdichte Wand von Bedenken. So ist der Mensch gebaut. Doch durch diesen Schreck, dass sich eine Erwartung, eine Hoffnung tatsächlich einmal erfüllen könnte und dich verändern, musst du hindurch. Die Engel wissen auch das. Und flüstern gerade deshalb den Nüchternsten unter uns zu: Fürchte dich nicht. Bei Gott ist nichts unmöglich.
Wer´s glaubt, sagst du? Ja, genau, wer´s glaubt. Es ist dem Engel daran gelegen, dass du dich dem anvertraust, der über, hinter und in den Dingen ist. Und wie immer und als was immer Engel erscheinen mögen: Sie können uns helfen zu entdecken, dass die Welt nicht gottlos ist. Ob sie uns als schützende Kraft begleiten, die uns bewahrt. Oder ob sie eine Begegnung sind von besonderer Liebe und Tiefe, die einem Grund gibt zu leben. Oder eine Wegweisung - mag sein, durch einen Freund, dem wir sagen: Mensch, bist du ein Engel! Wie auch immer sie sich uns zeigen: Gott braucht seine Engel dringend, um sich deutlich zu machen. Damit Menschen sich wieder an das oft allzu Heilige heran trauen. Deshalb: Engel gesucht, liebe Gemeinde. Es gilt, mit Christus gleichsam neu auf die Welt kommen (auch wenn wir schon betagt sind), und das heißt: Gottes Erbarmen in diese Wirklichkeit hinein zu leben. Ganz konkret. Und das Beste kommt erst noch: Es gibt sogar eine Adresse. Wer´s glaubt, schreibe <link>dom.engel@web.de.
Friede soll sein auf Erden, singen sie dort schon im Chor, und allen Menschen ein Wohlgefallen.
Ich wünsche Ihnen von Herzen frohe Weihnachten. Amen
[1] Es handelt sich um die Darstellung der heiligen Familie kurz nach der Geburt Jesu, die sich auf der Rückseite eines Seitenflügels des zentralen Trinitatisaltars in St. Jacobi befindet. Weitere Informationen im Text.