Chorfest Dreiklang 2012 - Dom zu Greifswald – 12. Sonntag nach Trinitatis

26. August 2012 - Predigt zu Acta 9,1-20

26. August 2012 von Andreas von Maltzahn

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen

Liebe Schwestern und Brüder,

wer in einem Chor mit singt, der kann etwas erleben – nicht nur bei Chorfesten: Als ich noch klein und ein strahlender Sopran war, fuhren wir unheimlich gern zur Kindersingwoche nach Dobbertin. Die Verhältnisse auf dem Pfarrgelände dieses mecklenburgischen Dorfes waren herzlich  primitiv. Wir Jungen schliefen in der Scheune. Es gab viel Schönes zu erleben: Neben dem Musizieren das Völkerballspielen am See – unser Kantor in kurzer Lederhose mittenmang! Wie herrlich das klang, wenn man bei ihm einen Treffer landete!

Aber vielleicht ebenso spannend war das morgendliche Singen der Mette in der Klosterkirche – damals allerdings nicht so sehr aus liturgischen Gründen: Vor dem Frühstück hatten wir, gestärkt nur von einem Ohnmachtshappen, einen ziemlichen Weg durch den Wald in die Kirche zurückzulegen. Wir Jungen achteten beim Singen nicht besonders auf die mittelalterlichen Gesänge, sondern   darauf, ob wieder jemand von den Mädchen in Ohnmacht fallen würde. Nicht aus Schadenfreude, sondern um ritterlich die Fallende in unseren Armen sanft aufzufangen. Mehr wagten wir in unserer unendlichen Schüchternheit kaum zu träumen.

Und doch waren die stärksten Momente wohl die der Verwandlung: Wenn aus einer Horde von Kindern und Halbstarken im Konzert oder gottesdienstlichen Singen ein Chor wurde – hingegeben an die Musik! Vergessen waren die Kabbeleien und Zwistigkeiten, die es natürlich auch unter uns gegeben hatte! Vergessen waren die langen Proben, das nervende Wiederholen immer derselben Stellen. Aus vielen Grüppchen und Einzelwesen wurde ein einziger musizierender Körper. Momente der Verwandlung, in denen wir spürten, dass ein Chor weitaus mehr ist als die Summe seiner Mitglieder.

Um ‚Verwandlung‘ ging es und geht es auch in den Texten und den Gesängen dieses Gottesdienstes, freilich auf ganz unterschiedliche Weise:

Da ist auf der einen Seite die Kantate, die wir eben gehört haben. Eine gesungene Zwiesprache mit der eigenen Seele. Das heißt, eigentlich es ja ein Liebeslied an die eigene Seele. Zart und in immer neuen Wendungen wird ihr gut zugeredet, gut „zugesungen“, den Kopf nicht hängen zu lassen, sondern sich zu ermuntern, neu Vertrauen zum Leben und zu Gott zu fassen und einzustimmen in sein Lob:

„Meine geliebete Seele, lobe den Herren, den mächtigen König der Ehre . . .“ 

Oft habe ich den Eindruck, es ist schon viel, wenn Menschen überhaupt wieder in Kontakt mit ihrer Seele kommen. Es ist dies dann der erste und vielleicht entscheidende Schritt zur Besserung, wenn Sorgen, Freuden, Pflichten und Zerstreuungen uns nicht länger an unseren seelischen Bedürfnissen vorbeileben, vorbei erleben lassen. Im Urlaub vielleicht, in einem Augenblick der Ruhe, oder auch in einer Zeit der Traurigkeit, die wir nicht überspielen oder wegdrücken – wenn wir dann unsere Seele berühren und wahrnehmen, dass da etwas anders und neu werden will; wenn wir dem nachgehen, dieser Spur folgen und etwas in unserm Leben zu verändern suchen … Denn ja, in dem, was die Seele uns sagt, liegt eine Quelle der Erneuerung für unser ganzes Leben.

Aber da gibt es auch die anderen Zeiten, in denen unsere Seele selbst Trost und Zuspruch braucht. Da kann dann unsere Bachkantate ein Stück gesungener Seelsorge sein.

-   An Erfahrungen der Bewahrung wird unsere Seele erinnert: „In wie viel Not

    hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“

-   Das Schöpfungswunder, das jeder Mensch verkörpert, wird der Seele vor Augen

    gestellt: „Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet.“

-   Ja, und vor allem soll unsere Seele mit den Möglichkeiten Gottes rechnen: „Denke

    daran, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet.“

Das Erstaunliche ist: Es funktioniert! Lässt sich die Seele ermuntern einzustimmen, gelingt es, über den Schatten unserer momentanen Gemütslage zu springen und sich auf das Singen einzulassen – auch wenn uns vielleicht gar nicht so sehr danach ist –, so verändert das. Es verändert uns. Wir fassen neues Zutrauen, neuen Mut, können annehmen, was wir zuvor noch nicht einmal wahrhaben wollten. Verwandlung, die sich unmerklich vollzieht.

Ganz anders erscheint da die Verwandlung, die Paulus vor Damaskus erlebte. Mit einem Ruck, so scheint es, wurde da alles anders. Bis aufs Blut hatte er die Anhänger des neuen Weges – so nannte man die Christinnen und Christen damals! – verfolgt. Dieser Mensch nun begegnet dem Christus, dem Totgeglaubten, und wird fortan leidenschaftlich für den Gekreuzigten und Auferstandenen wirken. 

Was Paulus vor Damaskus erlebt, haut ihn um, wirft ihn aus der Bahn, ändert von Grund auf sein Leben. Der Horizont seiner Überzeugungen, seiner religiösen Gewissheiten stürzt ein, wird gesprengt. Paulus muss die Welt, muss zuerst und vor allem auch Gott mit neuen Augen sehen lernen. Manchmal, geht daraus hervor, braucht es den radikalen Bruch mit dem bisherigen Leben und seinen Scheingewissheiten, um Gott nahe zu kommen. Manchmal braucht es den Bruch mit dem, was uns unfrei gemacht hat, damit wir zur Freiheit gelangen, zu der uns unser Schöpfer bestimmt hat.

Und doch, bei allem, was uns an dieser Geschichte ansprechen kann – sie hat etwas Befremdendes: Sie scheint nur etwas für wenige Auserwählte zu sein, für Apostel und andere besondere Werkzeuge Gottes. Denn wem schon stellt sich der Auferstandene selbst in den Weg, um des Lebens Lauf zu verändern?!

Doch indem ich die Frage stelle, zögere ich: Vielleicht sind es nur die äußeren Beschreibungen des Damaskus-Erlebnisses – die Stimme vom Himmel, das blendende Licht, die direkte Zwiesprache des Paulus und des Hananias mit Gott – vielleicht ist es nur diese mit kräftigen Farben gemalte Außenansicht, die mir den Blick verstellt, für die uns allen geschenkten Möglichkeiten, Christus zu finden:

-    Wenn ich zum Beispiel spüre, dass meine religiösen Überzeugungen brüchig geworden sind und die Antworten aus früheren Zeiten nicht mehr tragen, und ich ahne: ‚Du musst jetzt weiter fragen, tiefer schürfen, darfst deinen Zweifeln nicht ausweichen, sonst bleibt vielleicht das Entscheidende deines Lebens auf der Strecke . . .‘ Und wenn dann im ernsthaften Suchen und Fragen nach Gott sich neue Antworten einstellen . . .

-    Ich denke an die Möglichkeit, Christus zu entdecken, indem ich bei allen eigenen Sorgen dennoch nicht immer nur mich im Sinn habe, sondern Augen habe für die Leiden Gottes in der Welt; wenn ich an einem Punkt mich nicht von dem immer nur gleichen Gefühl der Ohnmacht lähmen lasse, sondern an diesem einen Punkt für Gerechtigkeit eintrete, einem Verzweifelten zurück ins Leben helfe, einen Hungernden mit meinen Mitteln durch die Not bringe, einem Menschen beistehe, der um seinen Arbeitsplatz bangt wie jetzt hier viele Menschen in der Region, weil die Werften gefährdert sind – wir haben gespürt, wie sehr es die Leute hier umtreibt – wenn ich auf solche Weise Gott  zur Seite stehe, dann ist das nicht nur ein Stück Menschlichkeit, sondern es kann mir darin auch Christus begegnen.

-    Und wer sagt mir, dass nicht auch an einem Tiefpunkt meines Lebens Christus da ist und mir zur Seite stehen will? Vielleicht erlebe ich es nicht so, dass er sich mir wie seinerzeit Paulus in den Weg stellt, um mein ganzes Leben umzukrempeln. Aber er ist doch da und mit ihm die Möglichkeit, dieser schwierigen Zeit etwas für mein weiteres Leben abzugewinnen. 

Johann Sebastian Bach hat die Kantate „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ in einer für ihn schweren Zeit komponiert. In seinem zweiten Leipziger Jahr (1724/25)  hatte er etwas ganz Großes vor, das vielleicht ehrgeizigste Projekt seiner Laufbahn: Mit dem sogenannten Choralkantatenjahrgang wollte er einen ganzen Jahrgang von Kantaten aufeinander abstimmen, bei denen das Kirchenlied als Cantus Firmus das textliche Bindeglied aller Sätze sein sollte. Das Projekt kam aber schon Ostern zum Erliegen, weil die Textvorlagen für die Kantaten ausblieben.

Gerade in dieser Zeit des Scheiterns komponierte Bach die heutige Kantate. Das der eigenen Seele gesungene Lied des Trostes und der Erinnerungen an frühere Bewahrungen kann uns wie einst Johann Sebastian Bach ermuntern, den Möglichkeiten Gottes zu trauen und auf ihn zu hoffen.

Denn: „In der Poesie des Singens sind wir uns selbst voraus – unseren Einsichten, unseren Argumenten, unserem Zwiespalt und unserem Zweifel. Wie an keiner anderen Stelle tut man beim Singen, als könne man schon glauben, ganz und gar. . . . Das heißt Tradition, das heißt Kirche: Einstimmen in einen großen Gesang, der das Leben preist, und beklagen, was ihm angetan wird“, ist Fulbert Steffensky überzeugt.

Schwestern und Brüder, Verwandlung unseres Lebens ist möglich. Ob mit einem Ruck, durch den Bruch mit dem alten Leben oder leise, kaum merklich und darin unversehens – das ist nicht entscheidend, wenn wir denn zu Christus finden. So möge, was dieses Chorfest uns schenkt, uns dazu beflügeln, zu Hause und bei den Menschen, mit denen wir leben, das Lied des Lebens zu singen – das Lied der Sehnsucht nach Gott, das Lied der Hoffnung. Amen.

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