26. Oktober 2014 - 10-Jährigen Jubiläum des Kirchengemeindeverbandes St. Lorenz
26. Oktober 2014
Apg 3,1-10
Liebe Gemeinde,
oder sollte ich vielleicht sagen: Liebe Gemeinden? Denn immerhin sind Sie ja derer gleich vier, deren Zusammengehen als Kirchengemeindeverband St. Lorenz wir heute feiern. So gratuliere ich als erstes zum Zehnten, wünsche weiterhin reichen Segen und danke Ihnen, dass Sie mich heute eingeladen haben! Ist es doch zugestanden das erste Mal, dass ich zu solch einem Jubiläum predige.
Ich finde es zunächst faszinierend, wie oft es derer vier braucht, damit Heilsames beginnen kann. Das Evangelium eben erzählt davon. Manchmal braucht man vier, um Lähmung auszuhalten. Markus und Matthäus heißen sie heute und Lorenz und Paul, der Gerhardt, der unvergleichliche Prediger mit inniger Dichtung und richtigem Ton. Eine tragfähige Versammlung sind die vier, bunt und unterschiedlich wie das Leben selbst. Und just am Reformationstag 2004 schloss man dann den Bund der…, nun gut: schloss man sich zusammen zum Kirchengemeindeverband St. Lorenz.
Sie alle wissen es besser als ich: Das war nicht wirklich so richtig freiwillig. „Keine Liebesheirat“. Eher schon ein „meisterlicher“ Plan, der aufgrund der zurückgehenden Finanzen nüchtern auf Synergie setzte. Geld statt Liebe – mal ehrlich: Dass aus einer Situation des Mangels heraus so viel Fülle und Segensreiches entstanden ist, liebe Gemeinde – das ist doch allemal ein kleines Wunder?!
Gold und Silber habe ich nicht – Petrus sagt auch, wie es ist, in unserer Wundergeschichte, die wir eben als Predigttext gehört haben. Er sieht sehr wohl den Gelähmten und seine Not. Aber es ist nun mal kein Geld da. Nun könnte er vorbeigehen, achselzuckend, wie die anderen. Doch er tut etwas anderes. Er sagt: `“Sieh mich an!“ Und: "Was ich habe, das gebe ich dir."
Der Bettler sieht überrascht hoch zu Petrus. Ihre Blicke begegnen sich. Es ist die Sekunde – wir kennen das sicher alle–-, in der Beziehung entsteht. Ein Blick, der den jeweils anderen sucht. Und nicht verloren gibt. Der Gelähmte kennt das nicht – so ein liebens-würdiger Blick! Geradeaus. Unverstellt. Und ohne dass beide wissen, was daraus werden wird – in diesem Augen-Blick hofft und liebt sich Gott ins Leben hinein.
Sieh mich an. Es geht, wenn sich etwas verändern soll, zuallererst ums Ansehen. Darum, die Augen als Spiegel der Seele zu verstehen. Wie erleichternd kann für jede und jeden so ein Blick der Anerkennung sein! Wie würdigend die Aufrichtigkeit. Es ist dies doch unser österliche Glaube durch und durch: aufzurichten und nichts und niemanden verloren zu geben! Keinen Menschen, sei er noch so zerrissen, fremd, todesnah, traurig oder bös; keinen Menschen, und sei er noch so begabt und schön und heiter – keinen Menschen, und sei er noch so anders als wir selbst. Wir sind wie geschaffen, um einander anzusehen. Anzuhören. Einander zu übersetzen, was die Sprache Gottes uns zu verstehen geben will: „Was ich habe, gebe ich dir.“
Natürlich: Es liegt auch ein großes Risiko darin, unser Evangelium genau so zu verstehen, wie es gemeint ist. Und danach zu handeln. Es ist das Risiko, ein wenig verrückt zu sein. Wohlgemerkt: nicht von Sinnen. Sondern – im Gegenteil – aus unserer üblichen Sicht auf die alltäglichen Unmöglichkeiten verrückt zu werden durch eine neue Aussicht. Ein Fenster, eine Tür, die Gott – unerwartet und überraschend oft – für uns öffnet. So dass der Geist des Unwägbaren einzieht. So wie auch hier vor zehn Jahren, als Sie Neues gewagt haben. Mit wenig Geld. Aber dafür vielen Ideen. Und das setzt sich fort. Konkret in viererlei Gestalt; es lebe der Gestaltungsraum!
Ein Beispiel dafür liegt mir derzeit sehr am Herzen, wie ja auch dem Verband und besonders St. Lorenz. Es ist die Flüchtlingsthematik. Weil wir uns verantwortlich fühlen für eine gastfreundliche Willkommenskultur. Weil wir Familien in Kirchenasyl aufgenommen haben. Weil wir all die schwer traumatisierten Kinder unterstützen möchten, die Bildung brauchen und warme Stiefel. Ich habe das direkt erlebt in der Kirchengemeinde St. Pauli in Hamburg. Dort hat die Situation – ähnlich wie hier – dazu geführt, dass die Flüchtlinge eine große Welle der Solidarität ausgelöst haben: 1000 Zahnbürsten, Kleidung, Deutschunterricht, ein Rentnerehepaar hat Frühstück gemacht, etliche Nachbarn die Wäsche gewaschen.
Die Gemeinde in St. Pauli hat sich das gar nicht vorher überlegt. Sie haben die Afrikaner im Regen stehen sehen und aus einem spontanen Gefühl heraus (!) ihre Kirchentür geöffnet. „Was ich habe, gebe ich euch.“ Und es war, als würde damit auch ein neuer Geist einziehen. Ein Geist der Unverzagtheit. Der Geist, es aufzunehmen mit allen Widrigkeiten. Die Verstörten zu trösten. Und vor allem: friedlich zu bleiben. Christen und Muslime aus sieben afrikanischen Ländern, dicht an dicht.
Das alles hat ziemlich genau ein Jahr gedauert. Und dieses Jahr hat alle verändert. Die Gemeinde, die Nordkirche, die einzelnen. Kürzlich sagte mir Lisa, die ehrenamtliche Übersetzerin: „Es war das aufregendste, anstrengendste und – sinnvollste Jahr meines Lebens.“ Meint: Natürlich erfordert der Einsatz für andere enorme Kraft. Aber – das erleben Sie vier doch auch! – es wächst einem auch Sinn und Kraft zu, wenn man sich den verschiedenen Herausforderungen unserer Gesellschaft stellt! Eine Kraft, die angesichts all der Gewalt in der Welt und der Not und der Ohnmacht, die einen lähmen könnte, gegenhält. Wir haben kein Gold und Silber, die Welt zu retten. Aber, liebe Gemeinden, was wir haben, geben wir: Nächstenliebe, Herz, Mitgefühl. Geradlinigkeit.
St. Pauli, St. Lorenz, der Verband - das war und ist gewissermaßen auch eine Wundergeschichte. Weil die Menschen sich riskiert haben. Und weil sie auch ein bisschen ver-rückt sind, verrückt vor Hoffnung. „Alles wird gut“, sagte Lisa immer. Und es wurde gut. Haben doch die Afrikaner in St. Pauli jetzt alle eine Arbeitserlaubnis in Aussicht!
Alles wird gut – das ist nicht dahingesagt. Sondern tröstlich. Um uns Mut zu machen, wenn uns Angst ergreift – weil etwas zu unwägbar ist und undurchschaubar. Und auch wenn wir vom Verstande natürlich wissen, dass niemals „alles“ gut wird, kann doch der Satz ein weinendes Kind, kann er uns halten - vor allem, wenn jemand anderes ihn zu uns spricht. Und ich bin sicher, als Petrus zum Gelähmten dort vor dem Tempel sagte: Sieh mich an!“, da war das getragen von diesem „Alles wird gut!“, das Jesus selbst für ihn war. Denn Petrus ist ja voller Bilder und Erlebnisse, wie Jesus Menschen anschaute. Und wie es für sie dann gut wurde. Anders vielleicht, als sie es erwartet hatten. Doch immer so, als würde sich eine neue Tür öffnen. Durch die sie dann sicher und auf eigenen Beinen hindurch gegangen sind.
Und so lebt unser Glaube von Petrus bis zu uns mit diesen Bildern der Hoffnung, die über uns hinaus weisen. Und auf einmal stehen wir da, zum Beispiel an solch einem Jubiläum, und werden gewahr, wie vieles sich unverhofft zum Guten gewendet hat. Wie viele Menschen etwas angepackt haben. Wie sie sich nicht haben lähmen lassen von den vielen, ja oft auch berechtigen Bedenken. Ob man das z.B. alles noch schaffen kann, die Pastorin, der Küster, die Chöre, der Englischübersetzer, überhaupt die Ehrenamtlichen. Danke euch allen, für die letzten 10 Jahre! Danke für euer Herz. Eure Zeit. Den Mut. Und die unerschütterliche Friedenssehnsucht. Danke für all dieses: Was ich habe, gebe ich dir.
Und Petrus fuhr fort: "Im Namen Jesus Christi von Nazareth steh auf und geh umher!" Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf.
Zur richtigen Zeit das tun, was aufrichtet. Auch wenn man kein Gold und Silber hat. Und gerade die Geschichte des Verbandes hat doch gezeigt, dass dies eben nicht am Geld hängt! Dass, im Gegenteil, Geld Dinge oft komplizierter macht als sie sind, ja Innovationen verhindern kann. Geld ist in dieser Wundergeschichte dort wie hier (!) der Vordergrund. Sie dagegen, liebe Gemeinden, haben sich auf den Weg gemacht, über den Hintergrund neu nachzudenken. Sich aufeinander einzulassen. Eben: einander anzuschauen. Anzuerkennen. Ganz wesentlich aber wohl auch: die Besonderheiten gut sein zu lassen!
Und also: Sie haben viel zu geben! WEIL hier vier zusammen gearbeitet haben, konnten Arbeitsplätze erhalten bleiben. Weil vier die schwere Aufgabe gemeinsam getragen haben, wurde die Struktur haltbar. Nicht als Selbstzweck. Nicht als „fünfte Gemeinde“: Sondern als haltgebende Struktur, die ermöglicht hat, dass Kirche, ja: Liebein großer Vielfalt lebendig geworden ist. Nächstenliebe, Fremdenliebe, Kinderliebe, Geschwisterliebe, Gottesliebe, Liebe zur Musik mit Rhythm, Blue Notes und Herzensnähe.
Sie haben so viel zu geben: Mit der internationalen Gemeinde in St. Lorenz am Friedhof: Diese Gemeinschaft der vielen religiösen und ethnischen Sprachen, Ruheort für die Reisenden und Rastlosen. Ehrlicher Trost in tiefer Trauer. Mit der inklusiven Gemeindearbeit in St. Markus in vorbildlicher Verbindung mit den Vorwerkern: Rückenwindprojekte, die auf und durch die Welt der Exklusiven pfeifen. Wir haben so viel zu geben -als wache Zeitgenossin Kirche, die‘s nur in 08/16 gibt und Glaubenskursen – dank St. Matthäi! Und schließlich mit der Kinder- und Jugendarbeit in Paul-Gerhardt, ein Generationen-Haus mit Herz, in dem das Kind weise und der Greis Kind sein darf! Kurz: Lebendige, barmherzige Kirche mal vier, durch vier, hoch vier – viermal Nähe zu den Menschen im Stadtteil mit „syn-energischer“ Verwaltung und vier Profilen. Ein Verband macht´s eben möglich: den Schatz zu heben, weil man Kräfte bündelt und die Eigenarten liebt.
Darum ging es offenkundig auch dem heiligen Laurentius schon im 3. Jahrhundert. Zu gut seine Legende: Als er als Erzdiakon von Rom bei einer Christenverfolgung aufgefordert wurde, den Kirchenschatz herauszugeben, verteilte er flugs das Geld an die Mitglieder der Gemeinde. Und ging dann mit einer Schar von Armen und Kranken, Blinden, Witwen und Waisen zum Kaiser. "Diese hier", so sagte er, "sind der wahre Schatz der Kirche." Sprach‘s und überlebte nicht lange.
Dafür aber der wahre Schatz der Kirche – und das sind nicht allein die Bedürftigen dort, denen von Herzensmenschen hier geholfen wird. Es ist mehr: nämlich die Fähigkeit, einander zu geben, was man braucht. Denn – sieh mich an! – letztlich ist jeder Mensch vor Gott bedürftig. Und jeder Mensch – sieh dich an! - ist begabt. Ein so wichtiges Signal in einer Gesellschaft, die zunehmend in Spaltungen denkt!
Der wahre Schatz von Kirche ist, modern gesprochen, die Kraft der Bindung der Unterschiedlichen, ein inklusives Lebensmodell. Die Beziehung auf Augenhöhe. In der man sich der anderen nicht bemächtigt, weder mit Geld noch mit großen Worten, geschweige denn mit Herrscher- Gewalt. Christus verkörpert dieses neue Lebensmodell. Sagt: Sieh mich an. Wurde doch Gott selbst Mensch und hat also alles Menschliche in sich eingeschlossen, so wie es ist. Inklusiv. Mit seinen Versehrtheiten, Brüchen, den Handicaps. Aber auch mit der Lebenslust, die das Leben zu genießen versteht!
Und so, liebe Gemeinde, heilt sein Wort, das Wort Gottes. Es versteht und kann deshalb trösten, aufrichten, ermutigen. Durch jeden Menschen, der einen anderen achtsam anschaut. Durch eine Musik, die mich trägt. Durch eine Hand, die am Schluss die deine hält. Überall dort, wo wir Mensch werden, wie Gott auch.
Wie es schließlich mit dem Gelähmten weiterging, fragen Sie? Nun: Er ging. Mit festem Schritt durch die offene Tür in den Tempel hinein. Und er sprang umher und lobte Gott. Und klar, ein bisschen verrückt kam er den Menschen vor.
Wie auch nicht?! Das ist das Ziel. Auch die nächsten 10 Jahre. Dass der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, eure und unsere Herzen und Sinne bewahre und leite in Christus Jesus. Amen