28. Oktober 2012 - Predigt im Uhrengottesdienst anlässlich des VI. Internationalen Symposiums zu mittelalterlichen astronomischen Großuhren
28. Oktober 2012
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec schrieb einmal: „Die Uhr schlägt. Alle.“ Das nenne ich Prägnanz: In einem Satz und einem Zusatz, in ganzen vier Worten werden wir Menschen als Geschlagene charakterisiert. „Die Uhr schlägt. Alle.“
Da ist nicht einmal von einer ‚Stechuhr‘ die Rede, die Angestellte eines Betriebes oder einer Behörde unbestechlich überwacht. Auch nicht der Spezialfall ‚Stoppuhr‘ wird bemüht, der Menschen antreibt, sich zu beschleunigen. Ganz allgemein gilt offenbar: „Die Uhr schlägt. Alle.“
Was ist da so schlagend?
Wir können heute kaum noch nachvollziehen, wie die Einführung des Chronometers das Lebensgefühl von Menschen verändert hat. Hatte früher alles ‚seine‘ Zeit – eine Zeit, die den Dingen gewissermaßen eignete –, kam mit der Uhr-Zeit eine unabhängige, quantitativ unerbittliche Art des Maß-Nehmens auf. Als würde eine Stunde der Liebe in ihrer Dauer nicht ganz anders erlebt werden als eine nicht enden wollende Schulstunde! Beide Male dieselbe Anzahl von Minuten, aber auch dieselbe Zeit?
Sie erinnern sich: In der antiken Mythologie stehen zwei unterschiedliche Göttergestalten für unterschiedliche Zeiten: Kairos und Kronos. Auf der einen Seite Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, dargestellt als junger Mensch mit großer Stirnlocke und kurzgeschorenem Hinterkopf – schwer ist es, ihn beim Schopfe zu packen. Schnell huscht er an den Menschen vorbei. Auf der anderen Seite Kronos der Titan, Gott der Zeit im quantitativen Sinne, Gott der chronologischen Zeit. Aus Angst frisst er seine Kinder.
Die Zeit frisst ihre Kinder? Manchmal könnte man es meinen: Terminkalender, Zeitmanagement sollen uns helfen, besser mit unserer Zeit umzugehen. Das Resultat ist aber zumeist Arbeitsverdichtung – nicht ein Leben in ausgewogener Balance, nicht ein Leben im Frieden. Menschen funktionieren vielleicht besser – solange sie eben funktionieren. Leben ist etwas anderes.
Seelsorger und Supervisoren ermuntern darum zu heilsamen Unterbrechungen des Funktionierens, erinnern an Rhythmen, die unserem Mensch-Sein entsprechen: „Sechs Tage sollst du arbeiten; am siebten sollst du ruhen.“ Eine Gesellschaft wird krank, wenn sie diese natürlichen Rhythmen gemeinsamen Aufatmens auf dem Altar der Ökonomie opfert. Die seelische ‚Hygiene‘ eines Gemeinwesens braucht den gemeinsamen freien Tag. Sonntag ist nicht Werktag. Sonntag ist Feier-Tag. Zeit ist nicht gleich Zeit.
Doch wie leben wir in und mit der Zeit? Immerhin ist sie ja die uns gewährte Lebenszeit, Zeit voller Möglichkeiten. Gibt es eine spezifisch christliche Sicht der Zeit?
Paul Tillich, einer der großen Theologen des letzten Jahrhunderts, sagte in einer seiner religiösen Reden:
„Die Zeit ist unser Schicksal. Die Zeit ist unsere Hoffnung. Die Zeit ist unsere Verzweiflung. Und die Zeit ist unser Spiegel, in dem wir die Ewigkeit sehen.“ Als die drei wichtigsten Mysterien der Zeit nennt er: „die Macht, alles in ihre Sphäre hineinzureißen; ihre Macht, die Ewigkeit in sich aufzunehmen, und ihre Macht, zu einem letzten Ende, einer neuen Schöpfung zu treiben.“
Aber der Reihe nach: Der Fluss der Zeit hat etwas Erschreckendes. Damit meine ich nicht unsere Vergänglichkeit. Auch sie hat ja – zumindest manchmal – etwas Beunruhigendes. Erschrecken kann etwas anderes: Wo haben wir Gegenwart? Wir kommen aus der Vergangenheit, die nicht mehr ist. Wir gehen in eine Zukunft, die noch nicht ist. Uns gehört allein die Gegenwart. Aber gehört sie uns wirklich? Was ist die Gegenwart anderes als die minimale Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft?! Der Moment, indem ich diesen Satz beginne – jetzt schon ist er Vergangenheit. Nichts ist da, was sich als Gegenwart festhalten ließe. „So scheint es, dass wir nichts Wirkliches haben – weder Vergangenheit noch Zukunft, nicht einmal Gegenwart.“ Die Zeit – sie scheint wie ein kosmisches ‚schwarzes Loch‘ zu sein, das alles gnadenlos in sich hineinsaugt, was mit ihr in Berührung kommt. Und weil das so ist, haben Menschen es so schwer, gegenwärtig zu leben. Viele verlegen ihr Leben in die Zukunft. Sie vertagen ihr Leben, und vertagen es auch am nächsten Tag und stellen eines Tages erschüttert fest, ihr Leben versäumt zu haben. Andere leben in der Vergangenheit. Sie ereilt ein ähnliches Schicksal.
Glücklicherweise ist das nicht die ganze Wahrheit: Die Gegenwart ist auch etwas Wirkliches, wie unsere Erfahrung uns zeigt. Dafür gibt es einen entscheidenden Grund: Die Gegenwart ist wirklich, „weil die Ewigkeit in die Zeit einbricht und ihr wahre Gegenwart verleiht“, so Paul Tillich. Und er fährt fort: „Wir könnten nicht einmal ‚Jetzt‘ sagen, wenn die Ewigkeit nicht d i e s e n Augenblick über die immer schwindende Zeit hinausheben würde. Die Ewigkeit ist immer gegenwärtig, und ihr Gegenwärtigsein ist die Ursache, dass wir überhaupt Gegenwart haben.“ Unsere Gegenwart wird gewissermaßen getragen von der Ewigkeit. „In jedem Augenblick, in dem wir ‚Jetzt‘ sagen, ist etwas Zeitliches und etwas Ewiges miteinander vereinigt. Wenn immer ein menschliches Wesen sagt: ‚Jetzt lebe ich, jetzt bin ich wirklich gegenwärtig‘, und so dem Strom, der die Zukunft in die Vergangenheit drängt, widersteht, i s t Ewigkeit da. In jedem wirklichen ‚Jetzt‘ ist die Ewigkeit gegenwärtig.“
In der Lesung aus dem Prediger Salomo hatten wir vorhin gehört: „Alles hat seine Zeit . . . Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in der Menschen Herz gelegt.“ In einer langen Aufzählung dessen, was alles seine Zeit hat – plötzlich: Ewigkeit! Ewigkeit als Gabe Gottes in des Menschen Herz! Offenbar nicht als etwas Zukünftiges, sondern als etwas Gegenwärtiges! Offenbar auch nicht nur als Quell einer Sehnsucht, die sich dereinst, also irgendwann in der Zukunft erfüllen würde, sondern etwas von Gott jetzt in uns, in unserem Lebenszentrum, etwas, das sich jetzt ereignet, etwas, das unser Leben trägt.
Hier deutet sich schon an, dass Ewigkeit in christlichem Verständnis etwas anderes meint als die Fortsetzung des Zeitstrahls ins Unendliche. Das wäre ja nicht mehr als eine quantitative Verlängerung der Kronos-Zeit. Nein, Ewigkeit im christlichen Sinne meint etwas Qualitatives – nämlich die Wirklichkeit Gottes, seine Wirklichkeit, die nicht gebunden ist an Zeit und Raum, die aber durchaus in Zeit und Raum ganz gegenwärtig sein und damit alles verwandeln kann. Wie hätte Jesus sonst nach dem Johannesevangelium sagen können:
„Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben.“ (Joh 5, 24f)
Ewigkeit, die Wirklichkeit Gottes, qualifiziert und verwandelt unsere Zeit: Die Unterscheidung von Gegenwart und Zukunft ist offenbar nicht mehr wichtig. Wer das Vertrauen seines Lebens auf den Christus setzt, dessen Leben hat etwas gewonnen, was auch der Tod nicht mehr zu nehmen vermag. Er wird nicht herausfallen aus der Wirklichkeit Gottes. Nichts kann ihn trennen von seiner Liebe – „der hat das ewige Leben“. Wer sein Lebens-Vertrauen auf Gott setzt, wer liebt, wer sich hingibt, der erfährt schon jetzt ‚Ewigkeit‘, Gegenwart Gottes.
Wir müssen also nicht Sklaven der dahinjagenden Zeit sein. In der Verbindung zu Gott ist Leben. Ist das nicht gelegentlich auch unsere Erfahrung? In besonderen Momenten, wo wir herausgehoben sind aus Zeit und Stunde, wo wir eins sind mit uns selbst und unserem Leben, wo wir einander in der Tiefe unseres Wesens verstehen – da erleben wir etwas von diesem Leben zeitloser Gültigkeit. Die Zeit vermag, Ewigkeit in sich aufzunehmen. Anders gesagt: Die Gegenwart kann uns zum Tor für das ewige Leben jetzt werden.
Ein letzter Gedankengang: Es mag banal klingen und ist doch von höchster Wichtigkeit: Zeit läuft nicht im Kreis, auch wenn uns Uhren das glauben machen wollen. Zeit läuft vorwärts. Diese einzigartige Astronomische Uhr braucht am 1.Januar 2018 eine neue Kalenderscheibe – so wie sie 1885 die jetzige Kalenderscheibe bekam. Zeit läuft auf ein Ziel zu – „die ‚ewige Zukunft‘ . . . Das Ewige ist die Lösung des Rätsels der Zeit. Die Zeit ist nicht sinnlos. Sie hat einen verborgenen Sinn – Erlösung. Sie hat ein verborgenes Ziel – das Reich Gottes. Sie bringt eine verborgene Wirklichkeit hervor – die neue Schöpfung“ (P. Tillich), also die neue Wirklichkeit, in der Gott und Mensch nicht mehr getrennt sein werden, wo endlich Frieden sein wird und Gerechtigkeit. An uns ist es, zu entscheiden, wie wir uns dazu stellen.
Zugleich liegt in diesem Gedanken etwas sehr Tröstliches: All die Versäumnisse unseres Lebens, unser Scheitern bedeuten nicht ewiges Versagen. Wir Menschen bleiben zwar zurück hinter den Ansprüchen Gottes und unseren eigenen. Manchmal ist es sogar zerstörerisch, wie wir mit anderen, mit dieser Welt, aber auch mit uns selbst umgehen. Und doch hat Verzweiflung nicht das letzte Wort. Es gibt Hoffnung – für diese Welt, weil Gott sie nicht fallen lässt, sondern neu schaffen wird. Es gibt Hoffnung – für uns, denn auch unser bruchstückhaftes Leben wird eines Tages geborgen und geheilt sein in der Wirklichkeit Gottes.
Darum: Sollen die Uhren schlagen, wie sie wollen. Unsere Zeit steht in Gottes Händen. Vertagen wir nicht unser Leben, sondern leben es im Vertrauen auf Gott – jetzt und in Ewigkeit.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.