28. September 2013 - Kirche zwischen Metropole und ländlichem Raum
28. September 2013
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Kirche zwischen Metropole und ländlichem Raum“ – mit diesem Thema setzt sich unser christlicher Glaube letztlich schon seit 2.000 Jahren auseinander. Denn beides sind wir von Anfang an: Das Christentum war zunächst und vor allem eine Stadtreligion. Die ersten Gemeinden entstanden in Jerusalem, Korinth, Rom, dort wo Handel, Wandel und das religiöse Leben pulsierte und zur Mission geradezu herausforderte. Zugleich hat Jesus selbst auf dem Land gelebt und in ländlichen Gleichnissen gelehrt (vgl. TRE Art. Stadt II. Bd. 32, S. 92); die Bilder für das Reich Gottes handeln von Saat und Ernte, vom Unkraut unter dem Weizen, von Schafhirten und Winzern. Gleich daneben dann steht die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem, dem Ideal einer christlichen Stadt, in der Gerechtigkeit und Friede endgültig zur Herrschaft gelangt sind – ein Bild, das die Sehnsucht nach einer besseren Gerechtigkeit wach halten soll, bis heute! , damit die reale Stadt dahingehend verändert wird. So ist das „Himmlische Jerusalem“ zugleich „der kritische Maßstab für die Humanität der irdischen Städte" (Gott in der Stadt. EKD-Texte Nr. 93, S. 15). Und deshalb hält es die evangelische Kirche gern mit dem bekannten Satz des Propheten Jeremia: „Suchet der Stadt Bestes!“ (Jer 29,7) – und versteht es als Aufforderung, gemeinsam mit Wirtschaft, Politik und Verbänden Verantwortung zu übernehmen für die Stadt und die Gesellschaft.
Seit ca. einem Jahr treffe ich mich regelmäßig mit führenden UnternehmerInnen in Hamburg. Eine für mich hoch interessante Runde, weil man sich gegenseitig Gastfreundschaft gewährt in den Gedanken. Und der klassische ehrbare Kaufmann ist sehr gastfreundlich…. Bisheriges Resultat: die Suche ist eine nach einem neuen Miteinander. Danach, in Respekt der jeweiligen Rollen und Aufgaben nach Wegen zu suchen, wie Wachstum intelligent, Reichtum sozial, Wirtschaftsethik lebensnah sein kann – und es verrücken sich alte Bilder und Klischees dabei. Gut so.
Denn wir sind als evangelische Kirche nicht nur Gegenüber oder moralische Instanz. Ich verstehe uns von jeher auch als ein Dialogforum. Als Ort, an dem die Gemeinschaft der Ungleichen das Eigentliche bildet. An dem das Wort Paulus gilt: Ich danke dem Herrgott, dass es dich gibt. Paulus besteht auf Würdigung als Grundmodell. Und dies wohlgemerkt in Gemeinden, in denen Hafenarbeiter neben feiner Dame, die Prostituierte neben dem Bankier, die Riechenden neben den Parfümierten sitzen, in denen es also Unterschiede gibt ohne Ende, was den sozialen Status angeht, das Geschlecht, die Herkunft, die sexuelle Ausrichtung, das Leistungs- und anderes Vermögen – und natürlich die religiöse Prägung.
Mag dies in der Stadt verdichtet scheinen, auf dem Land gibt es das alles auch! Inzwischen ist auch das Dorf vielfältiger geworden, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, verschiedenen Glaubenstraditionen, mit zugezogenen Städtern und mit Flüchtlingsunterkünften. Stadt und Land stehen sich von Anfang an nur relativ gegenüber, mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung 'mal des einen, 'mal des anderen Akzentes: es gibt die dörfliche Kirche in der Stadt ebenso wie urbane Strukturen im Dorf. Dass die Kirche im Dorf bleiben muss, das prägt auch das Bewusstsein viele StadtbewohnerInnen.
Auch hier ist Altgewachsenes und Tradition in einem engen Austausch mit einer rasant sich verändernden Stadtwelt. Kulminierungspunkt der verschiedenen Generationen, Positionen, Suchbewegungen und mehr noch: Sehnsüchte – auch an Kirche als Institution. Hier kommt zusammen, was sonst auseinander driftet, in unserer Gesellschaft der Spaltungen mehr denn je. Hier sind aufrechte Menschen, die dem Glauben manchmal die Stirn bieten, weil sie ihn verstehen wollen. Hier sind die, die Armut kennen, alt und jung, und ebenso um Achtung ringen wie die, die vermögend sind (vermögend übrigens in vielerlei Hinsicht). Hier sind die, die eine Beeinträchtigung haben – und alle merken schnell: wer hat eigentliche keine? Hier sind sie, die niedergedrückt sind, obwohl sie doch eigentlich alles „haben“. Und hier sind die, die nicht viel haben, und sich davon nicht niederdrücken lassen wollen.
Die Gemeinde Jesu ist mitten im Leben. Auch im Leben einer Stadt.
Ich selbst komme nicht aus der Stadt. Sondern aus Dithmarschen. Das kann passieren…. Hier ist ebenfalls elementar, dass die Kirche im Dorf bleibt. So wichtig ist die Kirche im Dorf, dass man sie gar ausgiebig schont.
Das fand und finde ich interessant und möchte dies einmal ein wenig genauer betrachten – weil es einen Hinweis gibt auf die grundsätzliche Frage, die dieser Kongress hier behandelt: nämlich welche Aufgabe nicht nur Institution Kirche, sondern generell Religion in dieser Gesellschaft heutzutage hat. Unsere christliche – und um dies gleich mit in den Metropolblick zu nehmen – aller Religionen.
Zurück zur Kirche im Dorf. Die Analyse: sie muss da sein, aber gleichzeitig bleibt man zu ihr in Distanz. Sie muss da sein, um vor allem in Notzeiten auf sie zurückgreifen zu können. Um Halt zu bekommen in unaushaltbaren Situationen. Um Position zu ergreifen für die Schwächeren. Um Ausstiegsszenarien zu entwickeln für rechtsradikale Jugendliche. Und sie muss da sein, um die Schwellensituationen im Leben, die ja immer auch kleine Krisen in einer Familie sind, zu begleiten: bei der Geburt, in der Pubertät, der Partnerschaft, beim Altwerden, beim Sterben.
Sie muss an solchen Momenten da sein, wo der Mensch Segen braucht. Oder mit einem anderen Wort: Kraft, die nicht aus einem selbst heraus kommen kann.
Sie muss da sein, aber man möchte sie nicht brauchen müssen.
Diese Ambivalenz prägt das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Denn religiöse Fragen sind immer existentielle Fragen. Kritische Fragen. Gleich ob sie einen in der persönlichen Biographie betreffen oder gesellschaftlich relevant sind. Sie haben immer etwas zutiefst Ernsthaftes, ja zunächst Belastetes. Es geht darum, Grenzsituationen zu überstehen, zu beschreiben, zu verstehen. Religion ist deshalb allemal etwas für die Mühseligen und Beladenen. Und dazu mag man nicht gern gehören. Darüber redet man nicht gern. Schon gar nicht in der Gemeinschaft, im Dorf, in der Gesellschaft.
Doch – um gleich meine These zu nennen: genau in diesem Sinne gehört Kirche ins Dorf, gehört Religion in die Gesellschaft, gehört die Kirchengemeinde in die Sozialräume einer Stadt wie Hamburg: dass sie einen Raum bietet für all das Nichtsagbare, das Tabuisierte, das, was Mühsal macht und Bedrängnis und was Menschenrecht gefährdet. Dass sie Raum bietet in Gestalt von Diakonie und tätiger Nächstenliebe – etwa in Form von Beratungen, Obdachlosenarbeit oder Gedenkgottesdienste für Kriminalitätsopfer und ihre Angehörigen.
In Gestalt von kultureller Auseinandersetzung – durch Kunst, Theater, Musik (gerade bei uns Protestanten!)
In Gestalt von Akademietagungen und Symposien wie diesen hier.
Schon als Jugendliche habe ich erfahren: Die Gemeinde ist der Raum der Erlaubnis gewesen. Nirgends sonst konnte man über das laut reden, was einen existentiell angeht. Was man an Zweifeln und Lebensfragen mit sich trägt, gleich, wie alt man ist. Für mich war die Kirche deshalb auch der Raum, der Identität ermöglichte. Gerade die protestantische Kirche atmete Freiheit. Keine Gesetzlichkeit. Sie verlieh der Individualität ebenso Wichtigkeit wie der Toleranz. Hier haben wir geübt, was ein Diskurs ist, wie man also miteinander sprechen kann und sich tatsächlich einigermaßen verstehen. Dass man den Mund aufmacht, wenn etwas nicht stimmt oder jemand ungerecht behandelt wird. Dass Pluralismus nicht Beliebigkeit bedeutet.
Dass man, kurz gesagt, der Wahrheit nur mit Ehrlichkeit nahe kommt.
Für dieses Gespräch der Ehrlichkeit braucht es einen eigenen Ort, einen Lernort, der einen auf Gedankenwege nimmt. Und hier sehe ich entscheidend die Gemeinde der Zukunft. Als Lernort, der die Dilemmata – und davon haben wir in einer hochtechnisierten Welt mehr als genug – nicht auflöst in ein Entweder – Oder, Alles oder nichts. Es braucht diese Lernorte der Freiheit, in denen schon die Kinder Nächstenliebe buchstabieren und Toleranz. Und es braucht Lernorte für Erwachsene, die als Christen nicht den Verstand an der Garderobe abgeben wollen, sondern herzhaft glauben, weil es auch der Verstand erlaubt.
Je länger ich die Konflikte anschaue – auf dem Land wie in der Stadt, desto mehr bin ich der Überzeugung, dass hier eine der wichtigsten Aufgaben der Kirchengemeinde liegt. Lern-und Diskursraum zu sein für alle, die´s existentiell umtreibt – und dies mit einer bestimmten Kultur. Natürlich fällt mir dabei zuerst das Thema Flüchtlinge ein, weil es uns in Hamburg auf den Nägeln brennt. Die St. Pauli-Kirche hat 80 Afrikaner aufgenommen, die im libyschen Bürgerkrieg zwischen die Fronten gerieten und nun über Italien nach Hamburg gelangt sind. Seit fast vier Monaten campieren die Männer in der Kirche. Unterstützt werden sie von fast 100 Ehrenamtlichen. Manche kommen aus der Gemeinde, andere hatten mit Kirche nichts am Hut. Wieder andere treten in die Kirche ein, weil sie das Engagement der Kirche gut finden. Das Beispiel strahlt weit über den Stadtteil hinaus, denn dort bekommt das in den Nachrichten allgegenwärtige „Flüchtlingsproblem“ Gesichter. Natürlich gibt es viele Diskussionen in der Stadt, auch politischen Streit. Aber die Kirche kann ein Ort sein, an dem dieses wichtige Thema stellvertretend behandelt wird. Und an dem eine beispielhafte Willkommenskultur gelebt und erprobt wird.
Doch die Sorge um Flüchtlinge treibt nicht nur die Stadt um. Ich denke an Gudow, ein Dorf im Herzogtum Lauenburg. Hier gibt es eine Aufnahmestelle für Asylbewerber, in der Familien vor allem aus Syrien und Afghanistan leben. Oft sind sie gerade erst nach Deutschland gekommen. Kirchengemeinde und Diakonisches Werk haben sich nun ein Willkommensprojekt ausgedacht. So wurden „Willkommenspäckchen“ gepackt, die jeder neu ankommenden Familie das Ankommen im Kreis und in Gudow erleichtern. Das Erntedankfest nächste Woche wird interkulturell gefeiert, danach wird in der Pfarrscheune gemeinsam gegessen.
Wenn Kirchengemeinden sich auf diese Weise eines gesellschaftlichen Konflikts annehmen können sie damit eine Kultur vorleben, in der man sich befragen lassen kann, ohne beschämt zu sein. In der man streitet, ohne sich vernichten zu wollen. In der man sich auseinander setzt, weil man zusammen finden will. In der man den Unterschied liebt und ihn nicht befürchtet. Und so mag es ein Raum sein, in den die Menschen gern eintreten, weil sie nicht mehr allein sind mit der Frage, wie das Leben in Würde und Gerechtigkeit zu leben ist.
Die Kirchengemeinde hat enorme Chancen, sich hier zu bewähren. Als Seelsorgerin etwa für die verletzten Seiten. Aber auch als Moderatorin schwierigster Prozesse. Seien sie individueller oder gesellschaftlicher Natur. Und schließlich kann die Kirchengemeinde die Rolle derjenigen haben, die Partei nimmt. Für die, deren Würde verletzt wird. Für das, was Gerechtigkeit fördert und Friedensnähe. Kompromisslos für Menschenrecht und Schöpfungsbewahrung.
Die Abwägung, welche der Rollen an diesem Lernort Gemeinde angezeigt ist, ist ein gemeinsamer Prozess. Und dafür haben wir, die wir schwer geübt sind in Pluralität, klare Foren: Synoden, Kirchengemeinderäte, Gemeindeversammlungen. Und wir haben Symposien wie diese hier. Ich freue mich auf das Gespräch mit Ihnen.