28. September 2014 - Kirchengemeinde Lokstedt

28. September 2014 - Festgottesdienst anlässlich des 100. Jubiläums der Kirchengemeinde am 15. Sonntag nach Trinitatis

28. September 2014 von Kirsten Fehrs

Lukas 19, 1-10

Von Herzen gratuliere ich zum Hundertsten, liebe Kirchengemeinde Lokstedt und liebe Festgemeinde! Glück und Segen zuvor – das ist mein Wunsch für Sie alle, die Sie hier mit so einer großen Freude zusammen gekommen sind, um das besondere Jubiläum zu feiern. Ich bin dankbar, bei Ihnen zu sein und eine so lebendige Gemeinde kennen zu lernen, lebendig allemal im Glauben, in dem man sich mit den oder trotz der Unterschiedlichkeiten zutiefst verbunden sieht. Diesen Glauben haben wir eben in der wunderschönen Musik von Antonio Vivaldi als Bekenntnis gehört: „Domine, Fili Unigenite.“

 

Es lohnt sich, einen kleinen musikhistorischen Seitenblick darauf zu werfen. Denn dieses Werk Antonio Vivaldis war zwei Jahrhunderte verschollen, es erklang erstmals im September 1939 auf einer Konzertwoche in Siena. Wenige Tage zuvor hatte der Zweite Weltkrieg begonnen. In einer Zeit, als Europa in den Schrecken von Faschismus und Krieg versank, erstrahlte dieses Bekenntnis neu und klar. Gloria! In D-Dur. Hier steht christliche Hoffnung auf gegen Hass, Waffen, Gewalt. Gottes Liebe als Kontrapunkt! Gottes Liebe ist stärker als der Tod.

Welche Botschaft heute, in diesem Jahr 2014 mit all seinen Kriegen. Welche Botschaft auch an einem Jubiläum, das an die Gemeindegründung im Kriegsjahr 1914 erinnert. Und ich stelle mir vor, wie die Lokstedter damals – so wie wir heute – zuerst voller Freude gefeiert haben, mit Chor und Trompeten, froh, dass sie jetzt unabhängig waren von der Muttergemeinde Niendorf. Wie gelungen fanden sie den leichten Bau, der ja nur Vorläufer sein sollte für eine richtige Kirche! Und wie beschwingt müssen sie gewesen sein als neu aufbrechende Gemeinde. Doch schon das erste Weihnachtsfest in dieser neuen Kirchengemeinde wurde eine Kriegsweihnacht. Da waren auf einmal so viel Leid und Tränen. Ein vierjähriges Völkermorden erschüttert die ganze Welt - in den Schatten gestellt allein von den Schrecknissen des Zweiten Weltkrieges.

 

Und so klingt in unserem Jubiläum heute das ganze Jahrhundert in seinen vielen schrecklichen und aufstörenden, aber auch schönen Facetten an. Begleitet vom Namen dieser Kirche, der Programm ist: Christ-König. Christ ist König. Er trotzt der Gewalt und den Gewalten und steht gerade und aufrecht für uns ein, für das Recht auf Leben, bis heute: Für Kind und Greis, Alteingesessene und Neuzugezogene, Verschiedene und Gleichgesinnte, Chorfreundin und Kriegsgegner, Traurige und Suchende. Ergänzt durch die zweite Kirche hier in der Gemeinde, benannt nach Petrus, der ein fester Fels sein will in der unsteten Welt.

 

Und auf diesen beiden Beinen steht diese Hundertjährige quicklebendig hier im Stadtteil. Ein Zeichen für die Gemeinde Jesu Christi, die stets geholfen hat, wo soziale Not sich zeigt, die mitträgt, wo innerlich die Kraft gefehlt, die von Liebe sprach, als der Hass regierte. Gemeinde, die bis heute nicht aufhört, aufrecht einzustehen für Frieden und Gerechtigkeit. Auch international, in Argentinien. Als aufmerksame Zeitgenossin, die dran ist an dem, was die Stadt bewegt, in dieser Zeit insbesondere am Thema Flüchtlinge! Danke sage ich gerade dafür von ganzem Herzen.

 

So – wie Sie und Ihr! – Kirche in dieser Welt sein – das heißt ja, gerade nicht an das Recht des Stärkeren zu glauben, sondern an die Liebe. Denn die Liebe ist´s, die aufbaut. Immer wieder. Nicht umsonst bedenken wir bei jedem Kirchgemeindejubiläum eine der aufbauendsten Liebesgeschichten der Bibel, wir haben sie eben gehört. Es ist die Geschichte des grimmigen Karrieristen, der so positiv erschüttert wird, dass er sich tatsächlich verändert. Zuvor jedoch gilt Zachäus als ungnädig und korrupt. So viel Geld hat er und Macht, aber er wird nicht größer. Bedeutsamer. Im Gegenteil. Alle sagen über ihn mit das Grausamste, was man über einen Menschen sagen kann: dass er klein sei. Erbärmlich. Ohne Größe. Einer, der sein Anrecht auf Zuwendung verspielt hat. Allemal die Zuwendung von diesem Jesus, von dem man sich ersehnt, er bringe Heilung und Erbarmen.

 

Doch Zachäus ist unbeirrbar. Getrieben – ja wovon eigentlich? Von einer Sehnsucht nach etwas Heilsamen, wie sie heutzutage viele in sich tragen? Will er deshalb diesen Christus sehen und berühren? Oder will vielmehr er gesehen werden und berührt. Endlich ein wenig Hochachtung – für den kleinen Menschen. Und so läuft er zielstrebig auf einen Baum zu, der ihn hoch über alle erhebt. Er ist so clever, dieser Zachäus. Und doch so verloren. Denn er erkennt, oben auf diesem Baum, wie weit er sich entfernt hat von dem, was wirklich zählt, nämlich: Achtung, Liebe zu geben und zu empfangen, Gemeinschaft, Freiheit.

 

Da sitzt er nun – und ist uns vielleicht gar nicht so fern? Wer wüsste nichts von diesem Sehnen nach einem anerkennenden Wort? Nach dem freundlichen Blick. Oder, auch das steckt in dem Bild: wer kennt nicht das Gefühl, dass manchmal Abstand not tut, um zu erkennen, was man genau braucht? Wie wichtig ist doch ab und zu ein Ort innerer Einkehr, so etwas wie ein Baum der Selbsterkenntnis! Gerade diese Gemeinde schart sich ja geradezu symbolisch um einen solchen Baum. Auch wenn man nicht unbedingt hinaufklettern muss auf die Lutherbuche. Es tut auch eine Kirchenbank aus gutem Holz. Um wieder zu Recht zu kommen. Um etwas zu verarbeiten, was uns verstört hat oder bitter gemacht. Um zu trauern, zu danken, ein Licht anzuzünden – einfach Ruhe zu haben, um den roten Lebensfaden wieder aufzunehmen.

Wie viele Menschen haben das hier in dieser Kirchengemeinde in den letzten 100 Jahren getan! Haben sich mit ihren Gebeten, mit ihrem Kyrie und ihrem Gloria in der Kirche aufgenommen gefühlt. Haben miteinander Tränen über Krieg, Feuer und Zerstörung geweint, haben ihre Ängste vor Krankheit und Schwäche geteilt und ihren Schmerz über den Tod des Geliebten hingetragen. Und auch dies: Wie viele haben, selig über die gesunde Geburt ihres Kindes, es dankbar über die Taufe gehalten. Wie viele haben über die Liebe ihres Lebens heiteren Segen empfangen. Und in wie vielen Momenten der Nachdenklichkeit hat man sich einander anvertraut – zumal doch jeder Mensch wie Zachäus an besonderen Wendungen seines Lebens das Bedürfnis nach Klärung hat, danach, ins Reine zu kommen.

 

Und dann und wann, liebe Gemeinde, mag Gott sich neben dich gesetzt haben, direkt neben dich in die Kirchenbank. Still. Hell. Unerkannt. Als Friede höher denn alle Vernunft. Und er hat einen erkennen lassen, worauf es wirklich ankommt: Auf die Nächsten. Die Liebe. Freundschaft. Die Ehrlichkeit. Die wahren Zeichen einer humanen Stadt. Und dann, aufgenommen in das Licht des Auferstandenen, mag einem auch eingeleuchtet haben, was nicht mehr stimmt. Dass man an Geradheit verloren oder Menschen verletzt hat. Oder dass man sich selbst Gewalt antut, so wie man lebt und arbeitet. Dass man sich entfernt hat von sich selbst, entfremdet ist von sich und allemal entfremdet von Gott. Das Evangelium nennt das mit dem altertümlichen Begriff der Sünde. Wir sind Sünder allzumal. Nicht um uns zu klein zu machen, steht das da, sondern uns zu befreien. Indem wir nämlich zugestehen, was stimmt und was nicht, verändert sich die Realität unweigerlich, und wir klettern anders von dem Baum herunter als wir ihn hinaufgestiegen sind.

 

Darum geht es, liebe Festgemeinde, auch im Evangelium. Wir sollen anders aus diesem Gotteshaus heraus gehen, als wir hinein gegangen sind. Friedvoll. Gesegnet. Innerlich gestärkt und neu zur Lebensfreude ermutigt. Und so ist doch in diesem Raum der Gemeinschaft eine große Kraft zu spüren, nicht wahr? In diesem Raum, der nach mancherlei Umwegen jetzt diese schöne helle Gestalt gefunden hat und von Licht durchflutet wird. Wir sehen die Altarwand und lassen uns von dem goldenen Strahl an die Verbindung zwischen Himmel und Erde erinnern. An Christus, die Gnadensonne. Ob wir uns klein fühlen und beschämt, ob wir Schuld auf uns geladen haben und Ängste in uns zittern – Friede sei mit euch, sagt dieser Raum Christi. Er hält uns damit. Er hält uns damit aufrecht in unserem Friedenswillen für die Welt. Auch wenn es in ihr tobt und zittert – es gibt eine andere Wirklichkeit, die von Licht spricht und Befreiung und gnädigem Schuldenerlass. In diesem Raum Gottes rücken die Dinge der Welt in ein anderes Licht. Also: Warum sollten sie hier nicht einkehren, liebe Festgemeinde? All die, die das weltlich Ding bewegt? Die sich Gedanken machen um Politik und Wirtschaft, um Flüchtlinge und um den Frieden, die klarer sehen und das Hoffnungslied immer wieder neu singen wollen – Gloria in D-Dur! Die etwas neu erkennen wollen wie Zachäus dort auf seinem Baum?

 

Und Jesus kam zu diesem Baum und „sprach: Zachäus, steig eilend herunter. Denn ich muss heute in deinem Hause einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.“ – Jesus sieht ihn genau, der gesehen werden will. Er holt ihn von seiner Verstiegenheit herunter und macht Zachäus zu einem Angesehenen. Und Zachäus ist so erleichtert! Allen, die er betrogen hat, will er gleich das Vierfache zurückgeben. Doch so einfach ist das für die anderen nicht. „Als sie das sahen, murrten sie: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.“

Das ist doch erstaunlich, liebe Gemeinde! Nicht Zachäus, Jesus empört die Seelen! Es ist eben nicht störungsfrei, unser Evangelium, wenn Wirklichkeit wird, was da steht: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und glücklich zu machen, was verloren ist. Das ist die Revolution des wirklich Heilsamen: Gottes setzt gerade beim Unvollkommenen in uns an, bei dem, was uns oft so unbarmherzig macht und schuldig und verletzend und neidisch. Er sucht dies alles auf, um es zu überwinden anstatt zu rächen und mit dem Recht des Stärkeren zu verurteilen.

 

Heilsam ist die Gnade vorm Recht. Heilsam ist die unbeirrbare Hoffnung, dass es Versöhnung gibt, sagt Christus uns damit. Heilsam ist die geduldige Übung sich zu einigen, auch wenn es manchmal sagenhaft anstrengend ist mit all den Unterschieden, gute Güte. Heilsam ist der Widerstand gegen Zertrennung und Ausgrenzung – aufgrund von Handicap, Alter, Herkunft, Religion. Heilsam ist die freundschaftliche Annäherung, auch für den fremdesten Gast.

 

Wir Christen haben also eine Aufgabe in dieser sich verändernden und religiös sehnsüchtigen Welt: Dass wir dieser bestürzend klaren Liebe eine Sprache geben, die verstanden wird. Die Aufgabe, dass wir angesichts von Zerbrochenheiten davon reden, was aufbaut. Dass wir Räume öffnen, Kirchräume wie diesen hier, damit Menschen wieder hoffen. Und in all dem sollen und können wir christlichen Kirchen in dieser Welt zeigen, dass unser Glaube die private Überschaubarkeit sprengt: Denn der Himmel Gottes ist universal und unfassbar weit.

 

Ich bin froh, dass in dieser Gemeinde so viele auf dem Weg waren und sind, mit Christus zu suchen, was verloren ist. Die ein weites Herz haben und sagen: Wir nehmen dich in Freuden auf. Arm, reich, schwarz, grau und weiß, groß, klein, Sie – und heute auch mich. Danke sage ich dafür! (Und danke dafür, dass sie so geduldig einer so langen Predigt zuhören … Aber mir ist einfach zu Ihnen so viel eingefallen!)

 

So viele haben an dieser Gemeinde mitgebaut, immer wieder. All Ihre Kräfte haben Sie in den vergangenen Jahren gebündelt, auch regional, so dass auch in Zukunft christliche Hoffnung in den Stadtteil ausstrahlt!

 

Ich bin Gott dankbar für Sie alle. Für die Pastor_innen der letzten hundert Jahre, all die Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, für die Musizierenden und manch‘ Engel der besonderen Art. Ich bin dankbar für sie alle, die in der Vergangenheit bis zum heutigen Tag gezeigt haben, dass Gott selbst uns in Freuden aufnimmt. Danke, liebe Kirchengemeinde Lokstedt. Danke und sei gesegnet, Du Hundertjährige, Glückwunsch auch. Denn du warst und bist Herberge Gottes, die uns schon jetzt etwas ahnen lässt von dem Ort, wo einst kein Leid mehr sein wird und keine Tränen. Und wo er ist: der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

Datum
28.09.2014
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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