Hauptkirche St. Michaelis

29. Januar 2012 - Predigt zu Off 1,9-18

29. Januar 2012 von Kirsten Fehrs

Liebe Gemeinde!

„Was du siehst, das schreibe in ein Buch…“
Eine große Stimme erteilt Johannes im ersten Kapitel der Offenbarung einen Auftrag. Inmitten schwerster Zeit. Er ist verbannt auf die Insel Patmos, gefangen ob dumpfer Intoleranz einer der schlimmsten Christenverfolgungen in den ersten Jahrhunderten nach Christus.

Was du siehst, schreib in ein Buch…
Doch Johannes sieht zunächst überhaupt nichts. Da ist nur Dunkelheit. Sie macht ihn zum Schatten seiner selbst. Der Seher sieht nichts, was den Blick hält und die Seele. Nichts, was hinaus weist aus der Trostlosigkeit. - Plötzlich dies: eine Stimme. Sch´ma Israel. Höre. Höre des Herren Stimme. Johannes fühlt mehr die Melodie, als dass er sie hört. Das innere Ohr, Sitz des Gleichgewichts, schwingt sich ein auf das ganz Andere: Es gibt nicht nur Schatten. Es gibt auch Klang. Größe. Klarheit. „Weiche nicht“, singt die Stimme. „Denn ich bin dein Gott, ich stärke dich.“ Die Worte dringen langsam in ihn. So wie Regen in durstiges Land sickert. Ein Bild nach dem anderen erscheint ihm. Es ist der Menschensohn selbst! Und Johannes stößt hervor: „Sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.“ Endlich Licht in dieser Isolation! Johannes ahnt, dass in diesem Moment Gott selbst ihn berührt. Und er möchte diesen Moment am liebsten festhalten (so wie Petrus eben auf dem Berg der Verklärung seine Seligkeit). Deshalb fängt er tatsächlich an zu schreiben. Denn endlich weiß er, was das ist: eine Offenbarung.

Offenbarung deckt etwas auf. Bringt zum Leuchten und ans Licht. Und bleibt zugleich geheimnisvoll –etwa so wie die Liebe eines Menschen zu einem anderen. So tief empfunden und zugleich unergründlich, wunderschön in eben dieser Unergründlichkeit. So grausam aber auch das Gegenteil. Die Abwesenheit von Liebe offenbart Kälte, Krieg, ewigen Tod. Offenbarung ist deshalb auch die Sprache der Apokalypse. Eine Sprache, die die Angst der Welt in Worte fasst. Die Angst davor, die Liebe zu verlieren. Angst, ohne irgendeinen Rettungsschirm im Chaos zu versinken, das – immer schon – seine Ursache findet in Kriegsgewinnlern und Finanzjongleuren und Hetzrednern.

Fürchte dich nicht, hören wir mit Johannes. Und immer eindringlicher dies: Was du siehst, schreibe in ein Buch…Ich habe großen Respekt vor Menschen, die genau das tun. Die sich in aller Ehrlichkeit dem stellen können, was sich ihnen offenbart. Auch von sich selbst. Die sich und ihr Leben ansehen, sich so manches von der Seele schreiben – und oft erschrecken dabei. Erinnerungen an Flucht und Hunger, Tod und Verletzung, Bombenhagel und hasserfüllte Fußtritte.

Vor zwei Tagen haben wir der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 und damit all der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. In Ausstellungen – wie jetzt im Rathaus zu der Hamburger Polizei im Nationalsozialismus -, in Zeitzeugenberichten wie jüngst von Ralph Giordano, mit den inzwischen 4000 Stolpersteinen, mit einer Dokumentation der Tötungsmaschinerie auf der Wannsee-Konferenz vor 70 Jahren, - mit all diesen Erinnerungen gedenken wir und mahnen, dass das Grauen nie in Vergessenheit gerate. In größtmöglicher Emphase versuchen wir deshalb in Bildern und Worten zu erfassen, wie maßlos die Grausamkeit war und wie finster dies Kapitel deutscher Geschichte. Aber mit jedem Begriff - sei es Antisemitismus, Militarismus, Reichspogromnacht - mit jedem Begriff empfinde ich sofort den Zweifel, ob er ausreicht. Tragen Worte wie Verbrechen, Völkermord, Staatsterrorismus wirklich die bestialische Realität? Nach Auschwitz - das ist selbst zur Metapher geworden. Nach Auschwitz - noch singen, beten, dichten, musizieren?? Die Schrecken und Furchtbarkeiten sind damals mitten in Deutschland geschehen und sind von Deutschland aus in die Welt gegangen. Sie bleiben unser historisches Erbe. Wir leben in Deutschland nach Auschwitz.

Deshalb wollen wir gedenken. Doch unglücklicherweise fehlen oft die Worte. Immer noch, 67 Jahre danach. Bald werden auch die allerletzten Zeitzeugen nicht mehr da sein. Das Erinnern wird nur noch aus dem zu begründen sein, was sie aufschrieben in ihr Buch des Lebens. Und nach mehr als zwei Generationen bleibt das Empfinden: Schweige, denn du findest kein angemessenes Wort.

Die Poetin Nelly Sachs weiß davon – und verdichtet es in wenigen Worten:

Ohr der Menschheit,
du verwachsenes,
würdest du hören?
Wenn die Stimme der Propheten
Auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder
Blasen würde – Wenn die Propheten
… aufbrächen dein Gehör mit den Worten:
Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis,
wer will den Sterntod erfinden?
Nacht der Menschheit,
würdest du ein Herz zu vergeben haben?

Würdest du, bitte, es hören, liebe Gemeinde, und dein Herz vergeben? Das verwachsene Ohr braucht dazu Worte, die es aufnehmen kann. Worte, die die Erstarrung aufbrechen. Worte der Erinnerung, die wie Regen in das Land einsickern und Eingang finden in Herz und Seele. Worte der Erinnerung, die sich in irgendeiner Weise festigen in dem Menschen, der es gehört hat. Worte, die uns ebenso tragen, wie sie uns verändern. Worte wie das Kaddisch-Gebet, gesprochen noch und noch an den Gräbern und in den Monaten der Trauer. „Fülle des Friedens und Leben möge vom Himmel herab uns zuteil werden“, heißt es dort. Es braucht Worte wie diese, die uns dem Frieden wieder trauen helfen. Worte, die erinnern, dass wir etwas vor uns haben, ohne zu verleugnen, dass auch viel hinter uns liegt. Doch genau dazu muss man reden, um Worte ringen, von Generation zu Generation: Wir müssen Worte suchen und aussprechen, um die Geschichte der Einzelnen zu würdigen und um den Opfern auch nur annähernd gerecht zu werden - im Erzählen, im Lehren und Lernen, im Klagen, mag sein im Predigen.

Zumal wenn es sich dabei um einen Johannes handelt, der sich dort in seiner Nacht auf Patmos nach dem Licht eines neuen Morgens sehnt. Er sucht nach einem Schlüssel, der ihm das Leben wieder aufschließt und die Hölle endlich zu. Und er findet diesen Schlüssel. In der Erinnerung daran, was war. Daran, wie Christus Menschen die Hand aufgelegt hat. Und sein Ohr hört: "Fürchte dich nicht. Ich bin der Erste und der Letzte. Ich war tot und siehe, ich bin lebendig. Ich habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“

Nicht die Hölle, das Leben hat das letzte Wort. Es offenbart sich als das Schlüsselwort, das zugleich eine Frage enthält: Ob es nicht an der Zeit ist, ebenso Worte für die Vergangenheit der Shoa zu finden wie für die Gegenwart und Zukunft des Lebens? Zu fragen, wie heutzutage Jüdinnen und Juden glauben, leben, wie sie das Vergangene verarbeiten. Wo ist ihr, wo ist unser heutiges „Fürchtet euch nicht?“ Es wird Zeit, liebe Gemeinde, gemeinsam die Sprache wiederzufinden. Worte der Geschwisterlichkeit. Und das heißt auch: Widerworte gegen die zunehmende Fremdenfeindlichkeit und den Rassismus in unserem Land. Bedrückt nehme ich wahr, wie intolerant und aggressiv viele gegenüber Menschen anderer Religion, Nation, Lebensart geworden sind – und dies wahrlich nicht nur in der rechtsradikalen Szene, sondern durchaus in den Wohnzimmern unserer Stadt. Der Ton ist mancherorts scharf geworden. Es ist deshalb Zeit, unser Ohr zu schärfen. Das Ohr der Menschheit braucht die Aufmerksamkeit fürs Widerwort zur rechten Zeit. Aber es braucht auch den Klang vom anderen. Von der Musik des Lebens. Von der Zartheit der Seelen. Vom Wort des Heils. Von der Offenbarung der Liebe.

Der Filmemacher Radu Mihaileanu findet solch eine Sprache für dieses andere. Mihaileanu ist Rumäne, Jahrgang 1958 und Jude; sein Vater hat Theresienstadt überlebt. Seine Sprache traut sich, dem Tragischen die Note jüdischen Humors beizufügen. Mit seinem tragisch-komischen Film „Zug des Lebens“ wolle er nicht den Tod zeigen, sagt er, „sondern das Leben, das getötet wurde.“ Ich möchte Sie zum Schluss, liebe Gemeinde, in dieses Geschehen einen Augenblick mit hineinnehmen: Erzählt wird die Geschichte eines jüdischen Schtetls in Osteuropa im Jahr 5701 (also 1941). Die ganze Gemeinde ist von Deportation durch die Deutschen bedroht. Da kommt Schlomo, dem weisen Dorftrottel, die rettende Idee: Um sich zu tarnen, soll sich das Schtetl in einem falschen Zug selbst deportieren und nach Palästina fliehen. Gedacht, getan: Ein alter Zug wird gekauft und renoviert, ein „Major“ wird ernannt, mit seinen „Soldaten“ in selbst geschneiderte deutsche Uniformen gesteckt und mit der deutschen Sprache vertraut gemacht. Mit letzterem hat der Lehrer seine liebe Not und erklärt schließlich: „Das Deutsche ist sehr hart, präzise und traurig. Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen. Hat jedoch obendrein Humor. Ich verlange also nur von Ihnen, wenn Sie perfekt Deutsch sprechen wollen, ohne jiddischen Akzent!, den Humor wegzulassen… “. Als sich der Zug tatsächlich in Bewegung setzt, beginnt eine Flucht mit vielen Hindernissen. Schließlich steht gar die echte SS auf den Schienen. Im Angesicht dieser Bedrohungen betet der Rabbi: „Naja, lieber Gott, ich hab´ nie gedacht, dass wir es alle schaffen. Aber lass wenigstens zu, dass die Kinder und Jugendlichen über die Grenze kommen, und ihren Frieden finden in Palästina. Und auch die Frauen und die Männer; die Kinder brauchen Eltern. Und wenn du schon alle gerettet hast, warum dann nicht auch noch die Alten? Was haben sie Dir getan?“ – So werden alle Barrieren schließlich überwunden, die Flucht scheint am Ende geglückt. Die letzte Einstellung des Films jedoch zeigt noch einmal Schlomo: In schwarz-weißer Häftlingskleidung steht er hinter dem Stacheldrahtzaun in Auschwitz und sagt: „Das ist die wahre Geschichte meines Schtetls – a no: fast die wahre.“
Ob Schlomo den Krieg überleben werde, wurde der Filmemacher gefragt. „Das hängt nicht von mir ab“, lautet seine Antwort, „das hängt von Ihnen ab. Wenn Sie Schlomo vergessen, stirbt er, wenn Sie ihn nie vergessen, wird er nie sterben.“

Sch´ma Israel. Hören wir und sehen wir, liebe Gemeinde. Und weil es uns weinen macht und lachen, was uns dort offenbar wird, werden wir auch Worte finden. Worte, die das Herz erreichen. Weiche nicht, werden wir hören. Und fürchte dich nicht. Ich bin euer Tröster. Und das, liebe Gemeinde, ist doch unsere Aussicht: Gott wohnt in unserer Geschichte, in unserem Zug des Lebens. Er weint mit uns und lacht mit uns. Er ist mit uns, hier oder in der Synagoge nebenan, an jedem Ort, wo Menschen zur Besinnung kommen. Er ist dort, wo Hände gefaltet werden und nicht zu Fäusten geballt. Und er ist dort, wo der Sprache des Friedens neue Worte einfallen, Worte, die unser Herz versteht.

Schalom Schlomo.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, der Erste und der Letzte in Ewigkeit. Amen

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