29. März 2013 - Karfreitag - Die beiden Schreie Jesu
29. März 2013
Predigt zu Matthäus 27, 33-54 (nach der Basisbibel) 33 So kamen sie zu der Stelle, die Golgota heißt, das bedeutet „Schädelplatz“. 34 Sie gaben Jesus Wein zu trinken, der mit Galle gemischt war. Er probierte davon, wollte ihn aber nicht trinken. 35 Dann kreuzigten sie ihn. Sie verteilten seine Kleider Und losten sie untereinander aus. 36 Danach setzten sie sich hin und bewachten ihn. 37 Über seinem Kopf brachten sie ein Schild an. Auf dem stand der Grund für seine Verurteilung: „Das ist Jesus, der König der Juden.“ 38. Mit Jesus kreuzigten sie zwei Verbrecher, den einen rechts, den anderen links von ihm. 39 Die Leute, die vorbeikamen, lästerten über ihn. Sie schüttelten ihre Köpfe 40 und sagten: „Du wolltest doch den Tempel abreißen und in nur drei Tagen wieder aufbauen. Wenn du wirklich der Sohn Gottes bist, dann rette dich selbst und steig vom Kreuz herunter!“ 41 Genauso machten sich die führenden Priester zusammen mit den Schriftgelehrten und Ratsältesten über ihn lustig. Sie sagten: 42 „Andere hat er gerettet. Sich selbst kann er nicht retten. Dabei ist er doch der ‚König von Israel‘! Er soll jetzt vom Kreuz herabsteigen, dann glauben wir an ihn. 43 Er hat Gott vertraut – Der soll ihn auch retten, wenn er ihn liebt. Er hat doch behauptet: ‚Ich bin Gottes Sohn‘.“ 44 Genauso verspotteten ihn die beiden Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt waren. 45 Es war die sechste Stunde, da breitete sich im ganzen Land Finsternis aus. Das dauerte bis zur neunten Stunde. 46 Um die neunte Stunde schrie Jesus laut: „Eli, Eli, lema sabachtani?“ Das heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ 47 Als sie das hörten, sagten einige von denen, die dabeistanden: „Er ruft nach Elija.“ 48 Sofort lief einer von ihnen hin, nahm einen Schwamm und tauchte ihn in Essig. Dann steckte er ihn auf eine Stange und hielt ihn Jesus zum Trinken hin. 49 Aber die anderen riefen: „Lass das! Wir wollen sehen, ob Elilja kommt und ihn rettet.“ 50 Aber Jesus schrie noch einmal laut auf und starb. 51 Und sieh doch: Da zerriss der Vorhang im Tempel von oben bis unten in zwei Teile. Die Erde bebte und Felsen spalteten sich. 52 Grabkammern öffneten sich und viele Körper von verstorbenen Heiligen wurden auferweckt. 53 Nach der Auferstehung von Jesus kamen sie aus ihren Grabkammern heraus und gingen in die Heilige Stadt. Dort wurden sie von vielen Menschen gesehen. 54 Ein römischer Hauptmann mit seinen Soldaten bewachte Jesus. Sie sahen das Erdbeben und alles, was geschah. Da fürchteten sie sich sehr und sagten: „Er war wirklich der Sohn Gottes!“
Liebe Gemeinde,
der Evangelist Matthäus malt uns Christus am Kreuz vor Augen. Wir sehen, wie er einsam und verlassen stirbt mit der Frage und Klage auf den Lippen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlasen?“ (V. 46). Und wenig später heißt es noch einmal: „Aber Jesus schrie noch einmal laut auf und starb.“ (V. 50). In diesen beiden Schreien Jesu finden wir die ganze Botschaft des Karfreitages.
Nicht umsonst ist Karfreitag einer der höchsten christlichen Feiertage, ja in evangelischer Tradition vielleicht sogar der höchste. Der große Gott begibt sich in Jesus Christus in die Tiefe, ins Leid und in den Tod. Zweimal schreit Jesus sein Elend heraus. Diese beiden Schreie hat er für uns geschrien.
Das Wort Kar-Freitag kommt von einem althochdeutschen Wort, das „Wehklagen“ bedeutet. Ja, am Karfreitag soll man schreien und wehklagen, weil Er geschrien und gewehklagt hat. Da stirbt einer für uns, damit wir nicht verlassen sind und mit unserer Sünde nicht untergehen müssen.
Liebe Gemeinde, deswegen gehört zum besonderen Profil des Karfreitages, dass er ein stiller Feiertag ist. Ohne Karfreitagsruhe kein Karfreitag. Die Karfreitagsruhe ist nicht etwas, was Kirchenleute und Politiker verordnen, um irgendjemanden zu schikanieren, sondern der Karfreitag ist seinem Wesen nach ein stiller Gedenktag. Gott selbst hat in Jesus Christus Leid und Tod auf sich genommen, damit die Menschen leben können. Dass Gott selbst diesen grauenhaften Kreuzestod erleidet, kann von unserer Seite her nur mit Innehalten, Stille und Staunen beantwortet werden. Als sogenannter „stiller Tag“ oder „stiller Feiertag“ steht der Karfreitag abgeleitet aus dem Artikel 140 des Grundgesetzes unter einem besonderen Schutz: So sind Tanz- und Vergnügungsveranstaltungen verboten. Gerade bei jungen Menschen stößt das immer wieder auf Unverständnis und Widerstand. Verschiedene Politiker und Initiativen haben deswegen in den letzten Jahren gefordert, dass die Verbote rund um den Karfreitag gelockert oder aufgehoben werden. Die Karfreitagsruhe ist in der Tat eine demokratisch beschlossene Übereinkunft. Die kann man natürlich ändern und abschaffen, aber dann konsequenterweise auch gleich den ganzen Feiertag. Ein Feiertag ohne seinen eigentlichen Sinn macht keinen Sinn. Christen würde eine solche Maßnahme nicht im Kern treffen: Dann würde man sich eben wieder am Abend zum Gottesdienst treffen, wie es in der frühen Christenheit Brauch war.
Vergegenwärtigen wir uns die Szene des Ursprungs: Mitten im Trubel eines orientalischen Festtags wird ein Verurteilter durch die Basarstraßen gestoßen. Offensichtlich ist er gefoltert worden. Er trägt den Querbalken des Kreuzes, an das man ihn nageln will. Er kann nicht mehr. Er bricht zusammen und die Menschen am Rande lachen und geifern. Einem anderen legen sie das Kreuz auf und weiter geht es.
Direkt vor den Mauern der Stadt endet der merkwürdige Zug an der Hinrichtungsstätte, einem kleinen Hügel, der die Form eines menschlichen Schädels hat, und deswegen Golgota (also auf Hebräisch „Schädel“) bedeutet. Hier wird dem Verurteilten ein Betäubungstrank gereicht, aber er lehnt ab. Schon treiben sie die eisernen Bolzen durch seine Unterarme und Unterschenkel, um ihn zu kreuzigen. Tausende Menschen wurden von den Römern so hingerichtet: Schwerverbrecher, entlaufene Sklaven und Aufständische, nie römische Bürger. Von Quintilius Varus – Sie wissen schon, den wir aus der Schlacht im Teutoburger Wald kennen – wird berichtet, dass er bei einer Strafaktion einmal 2.000 Juden auf einmal hat kreuzigen lassen. Später hat der römische Feldherr Titus, der spätere Kaiser, im Jahre 70 n. Chr. bei der Belagerung Jerusalems an manchen Tagen mehrere Hundert hinrichten lassen. So steht Jesus hier zunächst einmal in der Kette derer, die in der Geschichte der Menschheit zum Opfer gemacht wurden. Für die römischen Legionäre war es zunächst Routine. Wer Hunderte kreuzigt, für den sind die drei, die heute zu Tode gebracht werden, nichts Besonderes. Aber für die, die am Kreuz, zwischen Himmel und Erde aufgespannt auf ihren Tod warten, ist diese Todesart schrecklich. Es wird berichtet, dass der Todeskampf dieser Menschen zwei oder drei Tage, bei einigen noch länger, gedauert hat. 24 Stunden hing dort fast jeder. Nur die, die vorher gefoltert worden waren, haben es nicht so lange ausgehalten. Aber die Soldaten freuen sich, denn sie können das Hab und Gut der Verurteilten unter sich verteilen. Dann sitzen sie in der Nähe der Kreuze und warten darauf, bis der Tod der Gekreuzigten eintritt.
Römischer Sitte gemäß wird über dem Kopf der Verurteilten eine kleine Tafel angebracht, auf der der Hinrichtungsgrund angegeben wird. Da steht: „Das ist Jesus, der König der Juden.“ Mich erinnert das an Bilder, die ich im Laufe meines Lebens immer wieder einmal in den Medien gesehen habe. Da wurde jemand entführt und dann fotografiert oder gefilmt und der Öffentlichkeit vorgeführt. Ein Mensch, vielleicht von irgendwelchen Terroreinheiten verschleppt, steht dort vor uns und hat ein umgehängtes Schild, auf dem steht etwa: „Volksverräter“ oder etwas Ähnliches. Jesus hängt dort zwischen zwei Räubern, zwei Aufrührern und teilt so alles Elend, alles Leid, ja alle Unmenschlichkeit, die auf diesem Erdball begangen wird. Ja, dieser Jesus ist solidarisch mit allen zu Recht oder Unrecht Geschundenen dieser Welt. Und so sehen wir Jesus in Gedanken neben seinen vergasten jüdischen Brüdern und Schwestern in Auschwitz. Jesus stirbt an der Seite der Folteropfer von den Geheimdiensten aller Welt. Jesus war aber auch die Todesangst der Verfolgten und Hingemetzelten in Mali nicht unbekannt und das Gefühl der Verlassenheit in der Todesstunde teilt er mit der sterbenden alten Frau im Pflegeheim.
Mit Jesus kreuzigten sie zwei Verbrecher, den einen rechts und den andern links von ihm.“ (V. 38). Vielleicht ist es Ihnen anstößig, Jesus in einer Reihe mit diesen zu Recht oder Unrecht Leidenden zu sehen. Für mich ist es eine schöne Exemplifizierung des Satzes, den der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann einmal gesagt hat: „Jesus ist für alle gestorben und nicht gegen jemanden.“ Der eigentliche Skandal des Kreuzes, über den sich Jahrhunderte lang Generationen von Menschen erregt haben, ist das Geheimnis der Vergebung. Ohne Vergebung gibt es keinen Neuanfang und damit kein Glück. Immer wieder kommen diese Vorübergehenden und Besserwisser, die schon an dem sterbenden Jesus vorbeigegangen sind: „Die Leute, die vorbeikamen, lästerten über ihn. Sie schüttelten ihre Köpfe und sagten: ‚Du wolltest doch den Tempel abreißen und ihn in nur drei Tagen wieder aufbauen. Wenn du wirklich der Sohn Gottes bist, dann rette dich selbst und steig vom Kreuz herunter!“ Dieser Spott an einem Sterbenden ist besonders verletzend. Einer, der sich nicht wehren kann, der gerade unendliche körperliche Qualen erleidet, wird nun auch noch moralisch vernichtet. Niemand kommt und spricht sein Mitgefühl aus. Es fehlt jeder Zuspruch, jeder Trost. Dabei waren die Zeitgenossen damals fast alle religiös, gottgläubig, aber das Kreuz passte dabei nicht in ihr Denken. Mit wie vielen Gesprächspartnern habe ich mich in meinem Leben bereits unterhalten, die sich positiv zu Gott stellten, aber mit Jesus nichts anzufangen wussten. Gott ja, aber doch nicht Jesus, zumindest nicht als Sohn Gottes.