29. März 2013 - Karfreitag - Ökumenischer Gottesdienst zur Sterbestunde Jesu
29. März 2013
Predigt zu Johannes 19, 6-30
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt. Amen
Liebe Gemeinde!
Maria kann es kaum aushalten. Sie fühlt den Schmerz ihres Sohnes, als wäre es ihrer. O mater dolorosa. Sie alle, die unter seinem Kreuz stehen, sind sprachlos vor Ohnmacht. In ihren Ohren gellen noch die Schreie der Menge: „Kreuzige, kreuzige ihn. Weg, weg mit dem, weg weg!“ Gerade die Johannespassion von Johann Sebastian Bach gibt der Dramatik dieser Passionsgeschichte eine unerhörte Eindringlichkeit. Da sieht man förmlich den Pilatus vor sich, wie ihn dieses, für ihn immer noch unverständliche jüdische Volk verstört. Da sieht man die Hohepriester zischen und die Soldaten um das Gewand Jesu feilschen. „Lasset uns den nicht zerteilen“, skandieren sie, „sondern losen, wes er sein soll!“
Und inmitten dieses Weltentobens er. Der Schmerzensmann. Sein Leiden wird immer stiller. Immer grausamer. Keine Linderung kann Maria ihm verschaffen, nur sein Sterben aushalten. Sie schaut ihn an – er neigt seinen Kopf – und jetzt in der neunten Stunde ersehnt sie nahezu das Gefürchtete:
Es ist vollbracht.
Alles ist ruhig.
Die Würfel hören auf zu fallen.
Und die Welt hält den Atem an.
Welch´ geheimnisvolle Macht in all der Niedrigkeit. Seht, welch ein Mensch ist Gott!
Kaum auszuhalten, liebe Geschwister in Christo, ist dieses Sterben. Und dennoch sind Sie, sind wir alle hier. Wir sind hierhergekommen, um die alte, bekannte Geschichte zu hören. Gehen den Weg zum Kreuz und umgehen es nicht. Obwohl wir wissen, dass wir vom Sterben berührt werden. Denn das Schlimmste tritt ja tatsächlich ein. O große Not - hieß es eben im Choral - nicht allein die Menschlichkeit, Gott selbst liegt tot! Könnte es sein, dass wir die Traurigkeit, die diese Stunden des Karfreitags stets umfängt, nicht nur erwarten, sondern irgendwie auch brauchen? Weil sie etwas von unserer Verletzbarkeit aufnimmt? Von unserem Verstörtsein. Unserem Schmerz. Unserer Todesangst und Lebensangst und Glaubenszweifeln. Der Karfreitag ist doch einer der wenigen Orte in unserer Gesellschaft, in dem all das Leiden, das wir sehen oder gar selbst erleben, gewürdigt wird. Die Traurigkeit des Karfreitags würdigt unsere Traurigkeit. Sie würdigt zugleich, dass wir sie oft nicht verstehen und uns mit dem ruhelosen „Warum?“ herumschlagen. Sie würdigt, dass wir an der Grenze des Todes stumm werden und dass wir schwer damit zu tun haben, wie zerbrechlich das Glück ist und wie störanfällig unser Gottvertrauen. Und so schauen wir auf Jesus dort am Kreuz – und ahnen unser eigenes. O große Not, droht auch uns der Tod?!
„Ja, tut das dem Mann denn gar nicht weh?“ – fragt eines der Grundschulkinder spontan, als sie die Kreuzigungsszene gemeinsam anschauen. Sie sind erschrocken, was Menschen einander antun können. Und ihre Frage ist so nah am Geschehen! „Tut das dem Mann denn gar nicht weh?!“ Die Antwort der Lehrerin kommt stotternd und zögerlich. „Ja, schon. Es tut ihm weh. Aber weißt du, das musste so sein. Er ist für uns alle gestorben, damit uns nichts mehr wehtut.“
Dieses Stottern und Zögern der Lehrerin, es ist mir so sympathisch. Es ist so ehrlich. Denn verstehen wir denn wirklich, was wir hier tun und sagen? Erreicht es unsere Herzen, dass die Rettung der Welt so grausam erlitten werden musste? Damit unsere Last, Schuld, unser Schmerz uns von den Schultern genommen wird – ein für alle Mal?
„Und wenn es ihm so weh tut, warum wehrt er sich nicht?“ fragt das Kind weiter. „Warum hilft ihm sein Vater nicht?“ – Er, der Allmächtige. „Ja, was ist das bloß für ein König! “ schreit auch die Menge damals in Jerusalem. Lässt sich Dornen als Krone aufsetzen. „Sei gegrüßet, König der Juden.“ Allein: Bei denen ist`s kein Mitgefühl wie bei dem Kind. Bei denen ist es Spott.
Und was wäre gewesen, denke ich mit diesem Kind weiter, wenn er es „denen“ mal so richtig gezeigt hätte? Wenn er mit Gottvaters Hilfe tatsächlich vom Kreuz gestiegen wäre und sie alle in die Flucht geschlagen hätte? Pilatus. Die Hohenpriester. Die Soldaten. Die Frauen hätten ihn selig umarmt. Und die Jünger hätten ihn nach dem ersten Schreck wahrscheinlich als Sieger gefeiert. Wahrlich, das ist Gottes Sohn. Wer sonst hätte die Macht, dem sicheren Tod ein Schnippchen zu schlagen! (Anmerkung: Diesen Gedankengang habe ich übernommen von einer Passionsandacht, die mir nicht mehr im Wortlaut vorliegt und die 2006 oder 2007 vom Gottesdienstinstitut veröffentlicht wurde.)
Tja, und dann hätte man vielleicht eine Heldengeschichte aufgeschrieben. Und es würde mir gehen wie bei jedem Helden: Ich schaue ihn an – von Ferne. Helden imponieren, aber sie nehmen mich nicht mit. Sie können mich nicht gebrauchen, die Nichtheldin.- Und ich denke an meine alte Freundin Lilo, die vor einigen Wochen im Hospiz gestorben ist, das Gebetbuch in der Hand. Was hätte ihr ein Gott geholfen, der aus dem Leid aussteigen kann? Lilo hat das nicht gekonnt. Zehn lange Jahre nicht.
Und ich denke an die, die Folter ertragen – in Syrien, Somalia, im Kongo. Ich denke an die 40 Millionen Straßenkinder in Lateinamerika, die täglich den Schmerz des Hungers mit Drogen betäuben. Ich denke an die Abertausenden, die der Gewalt ständiger Bürgerkriege entfliehen! Unglücklicherweise könnte ich noch so viel große Not aufzählen! Was stärkt da ein Gott, der längst geflohen ist, wenn`s ernst wird? Der nicht mehr da ist, um sich neben die Geschundenen zu setzen?
Und ich denke an uns, die wir manchmal so verletzt sind, dass wir nicht vergeben können. Was täten wir mit einer göttlichen Triumphhaltung? Ohne ein „Vergib ihnen, was sie tun!“. Immer wären wir allein mit unserer eigenen Unerträglichkeit. Wären stehen geblieben bei uns selbst, während er weiter geht und den nächsten Sieg feiert.
Immer wären wir allein geblieben. Mit unserer Ungenügsamkeit. Der Schuld. Unserem Sterben. Unserer Trauer. Und untröstlich – auf dem Friedhof würden die Kreuze fehlen. Die Gestorbenen, die wir geliebt und betrauert, sie wären irgendwo. Gott weiß wo. Verloren.
Doch er ist nicht geflohen. Hat sich schlagen lassen, bis ans Kreuz.
Er hat die Spötter ohne Antwort gelassen.
Nicht aber das Kind.
Denn: Ja es tat ihm weh. Ihn dürstete. Er stöhnte, denn sie schlugen wirklich Nägel ins Fleisch. Ja, es tat ihm weh. Doch er konnte nicht anders. Selbst wenn er gewollt hätte, er konnte es nicht. Weil in diesem leidenden Christus Gott auch Mensch war. Seht, ein Mensch. Einer eben, der kennt, was wir kennen. Verletzbar, so unglaublich verletzbar – und deshalb so nahe.
Es ist diese Verletzbarkeit, die er uns aufgibt auszuhalten, liebe Gemeinde. Seine und unsere. Nicht nur diesen Moment. Sondern drei Tage. Und das ist schwer. Weil alles so voller Pein ist. Peinlich. Sein, jeder Schmerz hat etwas Intimes, und durchbricht jegliche Unberührbarkeit. Man wird so nackt und bloß, wenn es weh tut. Deshalb hält man`s so oft nicht aus. Gesteht sich nicht ein, wo der eigene Schmerz ist und die eigene Verletzung. Da würde man am liebsten fliehen, weg schauen. Weg, weg. Bloß nicht diese Not, dieser Tod und der Blick in die abgrundtiefe Gottlosigkeit dieser Welt. Drei Tage lang!
Christus ist nicht vom Kreuz herab gestiegen.
Er ist gestorben, hat es ausgehalten. Für uns.
Halten wir es jetzt aus, mit ihm.
Indem wir hinschauen auf die Kreuze. Getragen von den Trauernden, die ihre große Liebe verloren haben. Getragen von denen, die vor den Trümmern großer Zerstörung stehen in so vielen Krisengebieten der Erde. Kreuze, getragen von Menschen hier unter uns, die große Erschütterungen verkraften müssen und für die auf einmal die Lebensgewissheit weg bricht. Kreuze, auferlegt denen, die vergebens geliebt haben, und der andere sieht es nicht. Zentnerschwere Last auf ihrem Kreuz, deren Körper alt und weh wird und immer kraftloser.
In all dem, was man manchmal nur aushalten kann und nicht ändern – der Gekreuzigte ist bei uns. Mit seiner Verletzbarkeit ist er uns nahe, viel näher oft als wir uns selbst. Und so lässt er uns nicht auf dem Zuschauerplatz stehen. Er holt uns neben die Mutter Maria ans Kreuz, holt uns herein in diese Welt – mit ihren und unseren Kreuzen. Dass wir sie anschauen voller Mitgefühl, dürstend zugleich nach Gerechtigkeit.
Halten wir´s aus. Mit ihm.
Und Jesus sprach: Mich dürstet… Und als er nun den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und neigte das Haupt und verschied.
Die Welt ist ganz still.
Und wir gehen anders, als wir gekommen sind.
Das Kreuz vor Augen, von dem er nicht herabgestiegen ist.
Gott sei Dank.
Und der Friede Gottes, er halte unsere Hoffnung wach und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.