HAUPTKIRCHE ST. MICHAELIS HAMBURG

3. MAI 2012 - Ökumenischer Gottesdienst anlässlich des 10. Deutschen Seniorentages in Hamburg

03. Mai 2012 von Kirsten Fehrs

Genesis 12, 1-4 (Textlesung: Genesis 12, 1-4 – endet mit: Er aber war 75 Jahre.) Gnade und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen

Liebe Gemeinde des 10. Deutschen Seniorentages! Ich freue mich sehr, mit Ihnen heute zu feiern – und dann auch noch zu einem der schönsten und tiefsten Bibeltexte predigen zu dürfen. Es ist ein Text mit vielen Facetten – und Kontrapunkten!
Denn die alte Dame, die mir als erstes in den Sinn kommt, will nicht aus ihrem Vaterhaus heraus. Es ist ihr Leben. Hier hat sie ihre Kinder großgezogen, die Eltern gepflegt, zuletzt ihren Mann. Nun lebt sie allein in dem viel zu großen Haus voller Barrieren. Die Kinder sorgen sich um sie und drängen sie, zu ihnen in die Nähe zu ziehen.
Doch sie will nicht.Lieber riskiert sie es zu fallen. Davor hat sie am meisten Angst. Kürzlich lag sie da und kam nicht wieder hoch. Ihr Körper fühlt sich immer ungelenker an und schwerer. „Schwer-fällig“ eben. Und so fürchtet sie täglich, dass irgendjemand über sie bestimmen will. Sie hält deshalb die Tür verschlossen – wie so viele ihrer Altersgenossinnen. Sie möchte nicht, dass jemand kommt und sagt: Du musst jetzt gehen. Heraus aus diesem deinem Vaterhaus.

Und Gott sprach zu Abraham: Geh aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen werde. Und du wirst ein Segen sein.
Und Abraham mit seinen fünfundsiebzig, er macht sich auf. Er vertraut, dass Gott für sein Leben noch etwas bereithält. Dass er gar nützlich sein könnte. Und so geht er. Zusammen mit seiner Frau, die – so wird es später erzählt – auch noch schwanger wird, „obwohl es ihr nicht mehr ging nach der Frauen Weise“.

Abgesehen von der Schwangerschaft, liebe Gemeinde - beschreibt diese alte Geschichte nicht letztlich die Moderne des Altwerdens? Heißt zunächst: Dass auch das älter werdende Leben vor allem Bewegung ist und nach vorn gelebt werden will. Dass uns die Geburt von etwas Neuem zu allen Lebzeiten zutiefst bewegen, ja rühren kann vor Hoffnung. Kennen wir das nicht, dass da noch etwas Unerkanntes vor uns liegt, etwas Unberührtes, Neugeborenes, das von uns in die Arme genommen werden will, so runzlig die Arme auch sind? - Das eigene Enkelkind etwa mit den noch so hinreißend unabgelaufenen Füßen. Das furchtsame Kind nebenan, das Zuneigung braucht und harmloses Spiel. Die neue Aufgabe im Besuchsdienst, wo man behutsam an verschlossene Türen von alten Damen klopft. Zarte neue Liebe und Frühlingserwachen im selbstbewusst faltigen Gesicht. Apropos: Tina Turner ging mit 70 Jahren auch, und zwar auf Welttournee – Rockendes Beinwunder ohne Venencreme.

Die biblische Geschichte spiegelt aufregend aktuell unsere gesellschaftliche Realität: Ganz anders als die 75-Jährigen vor 40 Jahren sind sie allerorten im Aufbruch. Auf Reisen. Auch inneren Reisen. Ohne sie / Sie keine ehrenamtliche Hospizbewegung, keine Obdachlosenarbeit, keine Kirchenvorstände und kein Sportverein, ohne Sie keine Lesehilfe für Migrantenkinder und keine Hamburger Tafel. Ihre Erfahrung, liebe Gemeinde, Ihr Kenntnisreichtum, Ihre Lebensfreude und ja, auch Ihre Sinnsuche sind elementar für das soziale Gesicht unseres Landes. Ohne Sie, wir wissen und danken es Ihnen von ganzem Herzen, könnten auch wir Kirchen unsere Dienste gar nicht aufrecht erhalten. Kein gelobtes Land also ohne die 75-jährigen!

Die Aufbruchgeschichte des Abraham ist unerhört real. Zugleich ist sie nicht allein von dieser Welt: Abraham geht ja nicht, weil er es will. Sondern weil Gott ihn berührt. Nicht er selbst, Gottes Wort bricht auf, was bannt. All das Unglück, die Trauer und die Angst, die sich in seinem Leben angesammelt haben. Das Gefühl, nicht mehr leistungsfähig, ja hinfällig zu sein. Nicht nur äußere, auch innere Barrieren bannen uns. Geh da heraus, sagt Gott. Und nimm in dich hinein: Du bist gesegnet. Denn ich werde dich tragen – bis ins Alter. Auch wenn es dir an Licht gebricht und Kraft.

Auch diese Seite nimmt die Geschichte auf, die oft schamhaft verschlossene: die Seite von den Grenzen des Altwerdens. So wie sie sie erlebt, von der ich eingangs erzählte. Die in ihrem Vaterhaus bleiben will, weil sie es braucht wie ein Familienalbum. Raum um Raum erzählt es, wer sie war und wer sie ist.

Der Aufbruch des Abraham meint auch sie; denn es geht ja um mehr als äußere Veränderung. Es geht um inwendiges Vertrauen. Darauf, dass auch im Alter Segenskraft liegt. Gott zeigt dies in vielerlei Gestalt: Es kann eine Kantate sein und die Rosen im Garten, der sensible Blick für die unüberwindbare Stufe und die Begegnung voller Zuneigung. Geh also, mach auf, öffne die Tür und lass dich besuchen. Von jemandem, die sagt: Ich schaue mir gern dein Lebenshaus an. Denn siehe, auch du bist ja ein Segen! …

Geh – mach dich auf. Gesegnet wirst du ein Segen sein. Das gilt bis ins Letzte. Dazu meine Schlussgeschichte. Annemiete liebte wie ich Kohlrouladen, und so lernten wir beiden Dithmarscherinnen uns im Pflegeheim kennen. Sie war eine einzige Geschichte. Sie würde wohl langsam alt, meinte sie, sie erzähle so viel von früher. Nun ja, sagte ich, 93 kann man noch nicht wirklich als alt bezeichnen. Und dann kicherte sie. Das Feine an Annemiete war ihr Humor. Wenn der Sensenmann zu ihr käme, sagte sie manchmal, müsse er eine gute Portion Humor mitbringen, sonst überlebe der das nicht.

Eines Tages ist sie ganz durcheinander. Zaghaft erzählt sie: Sie hatte „ihn“ gesehen. Dort an der Tür. Er hat sie ganz lange angeschaut und ist wieder gegangen.Wer glaubst du, war es? Frage ich. Der Sensenmann?
Nein, sagt sie. Zögert. Vielleicht der Engel. Sie hat Angst, das spüre ich. Und behutsam reden wir über diesen, über ihren Engel. Er kommt, um mich zu holen, sagt sie schließlich. Und es ist fast so, als wäre sie erleichtert. Findest du das nicht ziemlich spökenkiekerig? fragt sie. Nein, sage ich. Das finde ich überhaupt nicht.

Einige Wochen später erzählt sie ganz aufgeregt, dass er wieder da war. Er stand am Bett, viel freundlicher. Sie ist sich jetzt sicher: Dass sie nach Hause kommt. Zu ihrem Heinz. Endlich. Wenige Tage darauf stirbt sie.

Ich habe das öfter erlebt: Am Übergang steht ein Mittler zwischen dieser und jener Welt und sagt: Du darfst jetzt gehen. Wie der Engel spricht er ein „Fürchte dich nicht“, ohne zu leugnen, dass es Schmerz gibt und Angst. Besonders die Angst, nicht mehr selbst bestimmen zu können, wann ich leben und wie ich sterben will. Dahinein spricht Gott: „Bis ins Alter will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan und ich werde heben und tragen und erretten.“ Und das heißt: Der Segen bleibt. Denn es gibt so viele hier- mag sein, es sind Engel - die heben und tragen. Und sie bedeuten uns: Der Segen bleibt, wenn der Mensch wird, wächst und vergeht. Der Segen bleibt, wenn der Mensch träumt, zweifelt und denkt, wenn er liebt und begehrt, wenn er rennt und hinfällt und wenn ihm Hören und Sehen vergeht. Der Segen bleibt.
So lasst uns gehen, gemeinsam. Die Jüngeren mit den Älteren.
Wie Abraham und Sara.
Denn wer aufbricht, kommt an. Mag sein, noch einmal neu bei sich selbst.
Ganz bestimmt aber bei Gott.
Amen

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