31. Dezember 2014 - Silvestergottesdienst mit Pauken und Trompeten
31. Dezember 2014
Johannes 8, 31-36
Liebe Silvestergemeinde,
"die Zeit steht still – wir sind es, die enteilen" – diese Worte der Dichterin Mascha Kaléko erfassen die ja immer etwas seltsame Stimmung des Silvestertages punktgenau. Denn stimmt es nicht? Mit Pauken und Trompeten treibt es uns doch eilends nach vorn ins Neue Jahr, 9,8,7,6, zählen wir ungeduldig herunter – und zugleich ist da ein ganz zarter, verhaltener Ton, als würde die Zeit tatsächlich einen Moment stillstehen, um zu sich zu kommen. Ja, eine Pause täte gut … Willkommen also, liebe Gemeinde, wie schön, dass so viele sich hierher nach St. Marien aufgemacht haben! Willkommen zu dieser Stunde Zeit, in der wir nichts mehr erreichen müssen außer uns selbst. Zeit, genommen ja immer aus Gottes Hand, um sich fragen zu können: was in Wahrheit zählt?
Ich lese den Predigttext aus dem Johannesevangelium im 8. Kapitel:
Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.
Die Wahrheit wird euch frei machen. Gerade an Silvester ein so kluges, ermutigendes Wort. Denn was gibt es besseres, als frei und aufrecht und getrost, wenn man so will „aufgeräumt“ ins Neue Jahr zu gehen? Diese Freiheit aber lebt aus der Wahrhaftigkeit. Und mehr noch: Wahrheit. Es geht darum zu sagen, wie's wirklich in einem ist. Oder war in diesem Jahr. Denn, mit Erich Kästner gesprochen, „Es hat keinen Zweck, die Bilanzen zu frisieren. Wenn sie nicht stimmt, helfen auch keine Dauerwellen.“
Nun denn: die Wahrheit. Ein großes Wort. Eines, das man in Ehrfurcht ausspricht. Oder unter Umständen gar nicht mehr, zu oft ist es wie die Freiheit mit Pathos zitiert oder gar missbraucht worden. Kein Wissenschaftler, kein Politiker, kein Buchautor erhebt mehr den Anspruch, "die" eine Wahrheit zu kennen oder zu verkünden. Hat nicht jeder seine eigene Wahrheit? Und gibt es nicht viele Wahrheiten? Das merken wir doch schon, wenn wir auf die Erlebnisse und Ereignisse des vergangenen Jahres zurückblicken. Für viele zum Beispiel ist es ein Jahr voller Arbeit gewesen – Stress und Anstrengung ist das Resümee für die einen, gerade durch die dauernde Erreichbarkeit. Die anderen empfinden es als „Eu-Stress“. Als Leben pur. Sie erleben Erfüllung, Energie, Erfolg. – Oder dies: die persönliche Krise durch Krankheit oder Trennung – für die einen nur ein furchtbares Jahr, für die anderen auch eines mit tiefem Sinn. Oder politisch: Was die Regierung ein Jahr voller Erfolge nennt, ist für die Opposition nur ein weiteres verlorenes Jahr. Viele Situationen, viele Stimmen, viele Wahrheiten. Eine pluralistische Gesellschaft eben.
Und doch, ich bin überzeugt, brauchen wir auch die Vorstellung von der einen großen Wahrheit, die unsere kleinen Teilwahrheiten übersteigt. Die eine große Erzählung, in der unsere je individuellen Lebensgeschichten aufgehoben sind.
Ein kleines aktuelles Kapitel dieser großen Erzählung begegnete mir in diesem Gedenkjahr am 9. November – 25 Jahre Mauerfall.
"Es war der 9. November 1989 im mecklenburgischen Röbel. 3000 Kinder, Familien und Ältere, Christen und viele Nichtchristen zogen durch die Dämmerung des Abends von der Marienkirche in das Stadtzentrum, etliche hatten Kerzen in ihren Händen. Im Schaufenster des Bäckerladens an der Straßenseite hing auf einem Blatt Papier geschrieben der Satz: 'Die Wahrheit wird euch befreien' - in Klammern darunter: 'Jesus'."
Das hat den Kern getroffen. Die subversive Kraft des Evangeliums hat „verstanden“, was in der Luft lag und sie zum Brennen brachte: Nicht weiter so! Nicht weiter dieses Lügen und Sich-Betrogen- und Manipuliert-Fühlen – so beschreibt es Gottfried Timm, in der DDR bürgerrechtsbewegter Pastor und nach 1990 Innenminister in Mecklenburg-Vorpommern. Und er fügt hinzu: "Dieses Wort aus dem Johannesevangelium hat uns damals Mut gemacht ... Jetzt spürten wir: die Diktatur ist aus den Fugen geraten." Biblische Botschaft, die versteht und laut ausspricht, was JETZT zählt.
Was jetzt wahrhaftig zählt, liebe Gemeinde – was ist das? Angesichts eines Jahres, das uns doch so oft aufgeschreckt hat. All das Flüchtlingselend, so viele Kinder darunter! Diese Kriege und der Terror in Syrien, Irak, in Gaza die Raketen. IS – und diese grenzenlose Gewalt. Und in all dem auch die Undurchschaubarkeit. Wer versteht noch genau, was dort passiert? Oder in der Ukraine. Wer ist verantwortlich für den unerklärten Krieg, in dem dort täglich Menschen sterben? Schließlich: Manche sagen, wir nähmen bereits zu viele Flüchtlinge auf und rechnen mir die Kosten vor. Andere sagen, wir täten viel zu wenig. So viele Meinungen, so viele Wahrheiten und Halbwahrheiten. Wo liegt die Wahrheit? In der Mitte?
Unser Text sagt etwas anderes. Jesus fordert nicht dazu auf: Forsche gut nach, recherchiere möglichst umfassend. Er sagt: Entscheide dich.
Und meint damit: Erkennt, dass sich in diesem kleinen Krippenkind, das da arm und bloß und unerhört freundlich vor dir liegt, das Geheimnis der Wahrheit offenbart. Das ist die eine große Geschichte! Weil Gott – unglaublich, aber wahr! – Mensch wird. Und weil deshalb in dieser alten Weihnachtsgeschichte alle menschliche Not und jede tiefe Freude, weil all unser Liebesdurst und Lebenshunger, weil all die Fragen, die uns umtreiben – gleich wie jung oder alt wir sind, weil jeder Flüchtling und jede Sterbensangst verstanden, umarmt, gehalten wird. Diese große Erzählung ist wie eine Herberge, die uns und damit das Geheimnis allen Lebens schützt.
Und das ist doch etwas ganz anderes als zu wissen. Abzuwägen, was stimmt oder nicht. Nein, wir ergründen das Geheimnis des Lebens eben nicht durch Wissenschaft, und sei sie noch so genau. Wir ergründen es gar nicht. Sondern – das ist doch das Große daran – was das Geheimnis zu einem Geheimnis macht, ist die Erfahrung, dass es bei näherem Hinsehen ein Geheimnis bleibt. Es ist wie mit einem Menschen, den man liebt. Er lässt mich einfach nicht los, dieser Mensch, auch nach vielen gemeinsamen Jahren nicht, wird er doch bei näherem Hinsehen immer facettenreicher. Interessanter. Liebenswerter.
Es gilt sich für dieses Geheimnis des Lebens zu entscheiden. Es zu schützen, so klein und bloß und bedroht es ist. Einzustehen dafür mit unserem Friedengebet. Mit jedem Versöhnungswort. Mit Menschenliebe und Kinderrecht. Es kommt dabei auf jede und jeden hier an, liebe Gemeinde. Jede und jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht und für das, was unterbleibt. Auch im nächsten Jahr.
Jeder kann sich entscheiden zu leben, wie Christus es will. Das meint er, wenn er sagt: "Wenn euch der Sohn frei macht, seid ihr wirklich frei. Wer sich nicht entscheidet, bleibt der Knecht der Sünde, bleibt im Leben der Halbwahrheiten stecken.
Denn wir sind ja gerade nicht umso freier, je weniger wir uns entscheiden. Es ist doch genau umgekehrt: Nur von einem Standpunkt aus kann ich etwas verändern. Ein geschärftes Gewissen, eine Weltsicht, ein Glaube – das ist das Fundament, das mir erst die Freiheit bietet, mich zu entscheiden.
Dann allerdings die Wahrheit zu sagen oder zu bekennen, ist nicht einfach. Weil es unbequem ist. Oder jemandem zu nahe tritt. Oder sich nicht gehört. So ist mir sehr das Gespräch mit einem Banker nachgegangen, der vor einigen Wochen im kleinsten Kreis sagte: "Natürlich sind die Grenzen des Wachstums erreicht. Aber ich darf das nicht sagen, sonst bin ich meinen Job los. Aber ihr, als Kirche, ihr müsst das laut und oft sagen!"
Tun wir. Denn Freiheit, auch und gerade von der Angst, diese Botschaft legt das Krippenkind in unser Herz. Mit seiner Geburt hat etwas Neues begonnen. Eine Zeitenwende. Es ist hohe Zeit, sagt die große Erzählung, dass wir die Dynamik dieses neuen Anfangs annehmen und das Alte aufbrechen, damit diese von Kriegen erschütterte Welt sich verändert. Die Wahrheit, so sagt es die Bibel, liegt dabei am Rand. Nicht im Mainstream. Sie liegt in einer Krippe von Bethlehem. Sie ist dort, wo vergeben wird. Sie ist dort, wo gesegnet wird. Sie ist dort, wo sich Menschen trauen, Hetzrednern die Stirn zu bieten. Die Wahrheit ist nicht die Summe aller Fakten, geteilt durch die Zahl der Meinungen. Die Wahrheit ist die Entscheidung im Namen des Lebens. Das ist die wirkliche Freiheit.
Und deshalb muss man sie sagen. Klar. Ehrlich. Einfach, weil´s viele nicht mehr wissen, was wir glauben: Gott geht mit dir. Alle Aufbrüche des Lebens. Komme, was wolle. Sie ist da und bleibt, diese Nähe des Gotteskindes, Mensch geboren.
Hören wir nicht auf, davon zu erzählen, liebe Lübecker. Alles, was zählt im Leben, wirklich zählt, – unsere Zeit, das Kinderglück, unser Denken, Mitfühlen, Begehren und Verlieben, auch der Schmerz, der uns durchfährt – all dies liegt in seinen Händen. Nicht in der Hand machthungriger Despoten, sondern in den zärtlichen Händen eines allumfassend großen, ewigen Gottes. Der sich die Freiheit nimmt, in einem Kind zur Welt zu kommen. Und der damit die Wahrheit bezeugt, die in verletzlichem Leben liegt.
Geht also neu und unverletzt, zuversichtlich und frei ins neue Jahr, liebe Gemeinde, ein Jahr, in dem Gott uns bewahren möge und segnen, was immer kommt.
Von Herzen wünsche ich Ihnen einen wahrhaft frohen und segensreichen Übergang ins neue Jahr 2015. Voller Friede, der höher ist als alle Vernunft; er bewahre unsere Herzen in Christus Jesus, den lebendigen Gott. Amen