Rauhes Haus in Hamburg

31. Januar 2012 - Glaube und Toleranz

01. Februar 2013 von Gerhard Ulrich

Vortrag im Rahmen der Kandidatur zum Amt des Landesbischofs

I.

Wie viel Pluralismus verträgt der Glaube? Wie viel Glauben  braucht der Pluralismus? – diese Leitfragen sollen meinen Vortrag heute Abend durchziehen. Aus meiner Sicht ist das zentrale Fragestellungen, denen wir uns als Kirche in der Zukunft zuwenden müssen, und zwar innerkirchlich wie auch im Blick auf unser Wirken in der Gesellschaft.

 

Dass das so ist, können wir beispielhaft an der Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 29. November 2012 sehen. Dort heißt es als Headline auf der Titelseite: „Wo Gott nichts zu suchen hat“. Und in der Unterschrift dazu ist zu lesen: „Ob es um Gotteslästerung, Beschneidung oder Kruzifixe geht – wer mit Glauben Politik macht, schürt immer Unfrieden. Soll Religion deshalb Privatsache sein? Ein Streit, der zur Zukunftsfrage wird[1].

 

 Glaube + Politik = Unfrieden – bei dieser Gleichung bleibt, so scheint es, keine andere Wahl: die Religion muss raus.

Ein Misstrauensvotum, das natürlich auch uns als Kirche angeht.

Und es geht dabei nicht mehr um die klassischen Fragen: Wie politisch darf Kirche sein? Wo müssen wir von unserem christlichen Glauben her zu gesellschaftlichen Fragen Stellung nehmen oder Stellung beziehen?

Sondern es geht um eine neue Frage – oder besser: um eine alte Frage in neuem Gewand: Wie viel Religion soll oder darf in der Gesellschaft wirksam sein? Welche religiösen Traditionen sollen oder dürfen sich in gesellschaftlicher Ordnung, in Recht, in Traditionen und Gewohnheiten niederschlagen? Wie religiös dürfen Menschen sein, wenn sie in die Gesellschaft und in die Politik hineinwirken?

Um nicht missverstanden zu werden: Die Diskussion ist nicht angestoßen durch das Auftreten des religiösen Fundamentalismus, der zur Gefahr für die freiheitlich-demokratischen Grundordnung wird. Da wird man sich ja schnell einig unter Demokraten.

Was bei der gegenwärtigen Debatte im Blick ist, sind ganz schlichte Glaubensäußerungen. So schreibt die Journalistin Evelyn Freitag in dem erwähnten ZEIT-Artikel:  „In Norddeutschland wollte die evangelische Kirche neulich noch einmal bestimmen. Sie forderte ein Tanzverbot an ‚stillen Tagen‘ wie dem Buß- und Bettag. Aber wieso sollen Nichtchristen an christlichen Feiertagen nicht tanzen? Wenn die Kirche vergisst, was Demokratie heißt, macht sie sich lächerlich. Wenn sie im Namen Gottes weltfremde Verbote fordert, wird sie zum peinlichen Verein, in dem wirklich keiner mehr Mitglied sein will[2].

 

Nun will ich an dieser Stelle gar nicht darauf eingehen, dass es natürlich nicht so ist, dass die evangelische Kirche ein Tanzverbot an Stillen Tagen gefordert hat. Vielmehr gibt es auf Länderebene rechtliche Regelungen darüber, welche Art von Veranstaltungen an Feiertagen erlaubt sind und welche nicht. Hinter solchen Regelungen steht eine gesellschaftliche Verständigung darüber, dass bestimmte religiöse Traditionen, die sich im öffentlichen Raum auswirken, eben auch wichtige Werte in die Gesellschaft eintragen und deshalb nicht nur zu tolerieren, sondern zu schützen sind. 

Die Diskussionen über Werte in der Gesellschaft gehört eng mit der über Toleranz zusammen: Werte, die das Zusammenleben tragen, sind Verabredungen, die gerade darin ihren Wert haben, dass sie von allen getragen – toleriert – werden. Und sie haben ihren Wert darin, dass sie nicht je neu abgestimmt werden müssen.

Nun erleben wir eine weit verbreitete Klage darüber, dass in unserer Gesellschaft „die Werte“ verloren gegangen seien. Der „Zeitgeist“ (dieses unbekannte Wesen) frisst offensichtlich die Werte unermüdlich und unersättlich. Dabei wird eher seltener die viel wichtigere Frage gestellt: woher kommen eigentlich die Werte einer Gesellschaft? Werte bestimmen sich immer im Blick auf ihre Bezugsgröße. Also: wo wurzelt das, was wir wert schätzen?

Wir erleiden keinen Mangel an Werten, sondern einen Mangel an Grund-Bewusstsein. Denn Werte gibt es zu Hauf: Glück, Einkommen, Leistung, Fortkommen… Aber ob eine Gesellschaft sich nicht nur auf einen Wertekanon einigt, sondern auch noch den Grund toleriert, aus dem sie wachsen: das entscheidet über Frieden und Gerechtigkeit – und über Demokratie mit. Und ob dabei die Religion(en) eine hilfreiche Rolle spielen können – darum geht es. Ob deren Wahrheitsanspruch vereinbar ist mit der Freiheit einer pluralen Gesellschaft.

 

Der eigentliche Kernpunkt der Kritik an Religion liegt ja in der Behauptung: Religion ist als solche nicht demokratiefähig. Denn eines scheint ja festzustehen – zumindest für Evelyn Freitag: „Religion zielt auf Letztes und Unbedingtes. Demokratie zielt auf Offenheit und Pluralismus. Da knirscht es im Gebälk der freien, aber religiös geprägten Gesellschaft.[3]

 

Das Knirschen im Gebälk ist übrigens auch von kirchlicher Seite wahrgenommen worden. „Reformation und Toleranz“ – so lautet das Jahresthema 2013 der EKD auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017. Und in dem dazu gehörigen Themenheft schreibt Thies Gundlach: „Es gilt …ein Thema der Scham- und Schuldgeschichte der reformatorischen Kirchen zu benennen“[4]. Auch der innerkirchliche Blick registriert also vor allem ein Defizit und trifft sich an dieser Stelle mit der weltlich-journalistischen Analyse.

Und es stimmt ja: Die Reformation beginnt mit notwendiger Intoleranz. Man konnte und wollte die Macht der Kirche nicht mehr ertragen.

Und das auf die Reformation folgende Zeitalter der Religionskriege etwa ist nicht gerade geeignet, Toleranz als Grundmotiv der Reformation zu beschreiben. Am Ende brauchte es ein Toleranz-Abkommen, um zu einem Religionsfrieden zu kommen.

Der alte Luther mit seinen scheußlichen Äußerungen über die Juden ist schlicht nicht tolerierbar und unerträglich. Zwiespältig ist sein Verhältnis zu den Bauern und den Täufern – zu den so genannten radikalen Kräften innerhalb der Reformation.

Während des 1. Weltkrieges erlebten wir eine Verherrlichung des Krieges auch durch Christen. Noch schlimmer während der Nazizeit, als den Verbrechern viel zu wenig Widerstand, viel zu wenig Intoleranz entgegengebracht worden ist.

Es ist ja schlichtweg auch wahr: „Die Verbindung von Religion und Gewalt ist, leider Gottes, kein Relikt aus alten Zeiten, …Nein, die religiöse Aufladung von Gewaltkonflikten ist auch ein modernes Phänomen“[5], wie Hans-Martin Gutmann in seinem Buch „Gewaltunterbrechung“ schreibt. Es muss im Blick bleiben, dass es eine Spannung zwischen der Wahrheitserkenntnis von Religionen auf der einen Seite und der Forderung nach Toleranz auf der anderen Seite gibt, die konfliktträchtig bleibt. Aber es muss auch in den Blick genommen werden, dass „Religion Gewalt [bindet], indem sie … “  eine Beziehung zu dem Gott anbietet „der menschliches Gewalthandeln in einer »Unterbrechung der Rache« übernimmt und überflüssig macht. Oder indem sie – positiv – im Glauben an Gottes Liebe, Frieden und Gerechtigkeit ein über alle Maßen machtvolles Vorbild anbietet, das von Menschen mimetisch in eigene Handlungsperspektiven übernommen werden kann: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr« (3 Mose 19,18).“[6]

 

Es lohnt also ein näherer Blick auf das Thema Pluralismus und christlicher Glaube – das in der Tat ein Zukunftsthema ist, nicht nur der pluralen Gesellschaft, sondern auch der Kirche und unserer evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland.

 

II.

Wie viel Pluralismus verträgt der Glaube? Wie viel Glauben  braucht der Pluralismus? Ich beginne mit einem ersten Blick auf das Selbstverständnis des Glaubens und mit einer Scherzgeschichte.

 „Ein Jude unterhält sich mit einem christlichen Geistlichen.

Der Jude: ‚Wie kann ein vernünftiger Mensch wie Sie an eine leibliche Auferstehung nach dem Tode glauben?‘

‚Warum wundert Sie das?‘ erwidert der Geistliche,‘ Sie als Chassid glauben doch auch, dass Ihr Rabbi zum Beispiel auf einem Taschentuch einen Fluss überqueren kann.‘

Darauf der Jude: ‚Nun ja, aber das ist doch wahr!‘“[7]

 

Bei aller Dialogbereitschaft, bei allem Argumentieren und Zuhören – am Ende geht es beim Glauben um die Überzeugung: Aber das ist doch wahr!

In der Scherzgeschichte wird dieses Bekenntnis dem jüdischen Menschen in den Mund gelegt. In der Realität ist es eine Grundüberzeugung aller Religionen – dass sie wahr sind! Dass die Erfahrungen, die ich mit dem Glauben mache, nicht Täuschung oder Selbsttäuschung sind, sondern lebenswirkliche Erfahrungen. Wenn ich im 84. Psalm lese: „Wohl den Menschen, die dich, Gott, für ihre Stärke halten – sie gehen von einer Kraft zur anderen“, dann sage ich: Ja, das ist wahr. Das habe ich auch so erlebt. Dass die Kraft des Glaubens nicht einfach wieder vergeht wie alles andere, sondern bleibt und immer neu wird. Nicht verblasst, sondern meinem Leben Farbe und Fülle gibt. Mich ergreift, auch wenn ich mich in mir selbst schwach fühle.

 

IIch persönlich bin ja lange Zeit ohne das ausgekommen, was ich irgendwann für wahr erkannt habe. Wie habe ich eigentlich damals leben können – mit welchen Wahrheiten? Gibt es eigentlich so etwas wie eine lebensmächtige Grundtoleranz?

Ja, die gibt es. Denn ich kannte ja aus Kindheit und Jugend die Wahrheiten der Christenmenschen – ohne dass ich sie teilte. Und da war niemand, der mich zwang, sie zu teilen. Wahrheit wächst nicht aus der Hierarchie, aus der Intoleranz der Macht. Wahrheit wächst aus dem Diskurs. Und Wahrheit braucht den „Kairos“, den Haftpunkt, an dem sie sich einnistet in meine Lebensgeschichte, sich verbindet mit Erfahrungen – leidvollen oder heilvollen. Und indem sie sich vermittelt mit Menschen, die als Trägerinnen und Träger dessen, was sie selbst für wahr erachten, mich tolerieren.

So war das damals: mein „altes“ Leben, alles, was vorher war, erschien nun in einem anderen Licht. Aber es wurde und war nicht entwertet. Es war, so durfte ich lernen, auch von Gott!

 

Ich weiß aus meiner Geschichte: auch das von mir als wahr Erkannte ist allenfalls fragmentarisch. Wahrheit habe ich nicht ein für allemal. Sie muss immer neu sich erweisen in meinem Leben. Ich habe erlebt: ich bin ergänzungsbedürftig – und ergänzungsfähig. Und das bleibe ich. Toleranz ist Lebensgrundlage, Voraussetzung für Entwicklung überhaupt . Aber zur Toleranz gehören auch deren Grenzen (sonst wäre die Rede von der Toleranz überflüssig, bestenfalls unerheblich).

Toleranz äußert sich darin, dass ich das, was ich für wahr und richtig erkannt habe, in das öffentliche Gespräch einbringe, mich dem Disput und der Debatte darüber bewusst aussetze.  Das, wovon ich mich abgrenze, weil ich es nicht weiter tolerieren und hinnehmen kann, weil ich es nicht für wahr und richtig halte, demgegenüber formuliere ich meine Überzeugung und bringe diese in die Debatte ein.[8]

 

Aber es ist doch wahr!“ – das ist ja für einen Menschen im Glauben nicht nur eine theoretische Sache, sondern sozusagen Alltag. Gerade der gelebte Glaube ist selbstverständlich von sich überzeugt.

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“, fragt der Heidelberger Katechismus gleich zu Anfang. Und er antwortet: „Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben, nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“ Das zeigt: Der Glaube ist eine Frage von Leben und Tod. Es geht dabei um mich als ganze Person, um meine Identität, um meine Angst und meinen Trost. Das Lamm Gottes, „…qui tollis peccata mundi“ – die Theologie der Toleranz gehört zur Kreuzestheologie, ist Christologie. Weil da einer trägt und erträgt über alles menschliche Maß hinaus, kann auch ich tragen und ertragen die Widersprüche dieser Welt. Und auch die Grenzen des Erträglichen sind vorgezeichnet in ihm, vorgelebt in dem einen: was dem Leben nicht dient, ist nicht tragbar.  Und so ist auch Intoleranz ein Motiv, ein Motor der Wahrheitssuche.

Und deshalb scheint es zunächst auf der Hand zu liegen: Der, dem der eigene Glaube etwas bedeutet, kann nicht einfach sagen: Gut, die anderen haben auch recht. Es gibt noch andere Wahrheiten außer meiner. Und es mag ein jeder nach seiner Facon selig werden. Denn spätestens im Sterben hört ja der Pluralismus auf. Da ist jede und jeder sehr allein. Da ist nicht Toleranz gefragt, sondern Kraft – um loszulassen, um die Angst auszuhalten, um den einen Schritt ins Leere, Unbekannte zu gehen.

Glauben ist lebenswichtig und sterbensernst. Die Frage von Glaube und Pluralismus kann nicht mit faulen Kompromissformeln gelöst werden, die da beispielsweise lauten: Im Grunde glauben wir doch alle an denselben Gott. Im Grunde ist es doch gar nicht wichtig, an was jemand glaubt. Im Grunde sind doch alle Religionen gleich. Wer allzu schnell und von vorneherein diese Karte zieht, um Konflikte und Auseinandersetzungen erst gar nicht aufkommen zu lassen, wird scheitern. So kommt etwa ein interreligiöser Dialog überhaupt gar nicht zustande. So wäre die Ökumene – die einzige zukunftsfähige Form von Kirche in der Welt – gar nicht lebbar.

 

Wir werden als Kirche, als Christen nicht pluralismusfähig, indem wir unseren Glauben, das, woran unser Herz hängt, was uns unbedingt angeht, zu einer Möglichkeit unter anderen machen. Indem wir uns selbst nicht mehr ernst nehmen und den Rückzug antreten, bevor überhaupt klar ist, wofür wir stehen.

Und in einer pluralistischen Gesellschaft ist das übrigens ganz besonders wichtig. Denn in der Vielfalt wird ja nur der zum wirklichen Gegenüber, der sein Gesicht zeigt, der zeigt, was ihn ausmacht, der gerade durch seine Ecken und Kanten und Konturen erkennbar wird. Und damit zum wirklichen Gesprächspartner. Der Glaube zeigt Flagge – das ist eben nicht nur eine Ursache von Unfrieden, sondern es ist ein Beitrag zu einer vielgestaltigen, bunten, interessanten und dialogfreudigen Gesellschaft.

„Ich bin getauft!“ – So hat es Martin Luther auf seine Tischplatte geschrieben, um stets erinnert und vergewissert zu sein, in jeder Anfechtung, in jedem Zweifel, wohin er gehört, wessen Kind er ist. Das erst, diese Bindung, machte ihn frei, zu stehen, wo er nicht anders konnte.

Pluralismus braucht nicht weniger Bekenntnis, sondern mehr! Denn aus einem selbstbewussten Glauben, der mit seiner Überzeugung nicht hinterm Berg hält, erwächst auch Respekt vor anderen Menschen und anderen Überzeugungen. Respekt, der sich im „careful dialogue“ bewährt, in einer Dialogbereitschaft, die den Gesprächspartner nicht „umdrehen“, sondern die wirklich mit ihm ins Gespräch kommen will. Also nicht wie Methusalix aus den Abenteuern von Asterix und Obelix: „Du weißt, ich habe nichts gegen Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier…!“

 

 

III.

Nun zeigt sich unser christlicher Glaube nicht immer und überall in dieser die Welt bereichernden Form und Gestalt. Nicht zu Unrecht wird auf die dunklen Spuren christlicher Engstirnigkeit und christlichen Fanatismusses hingewiesen. Zwar ist gerade den reformatorischen Kirchen die Toleranz in die Wiege gelegt, aber leider ist sie dort allzu oft auch liegen geblieben[9]. Um zu Offenheit zu kommen, muss der Glaube einen Weg gehen.

 

Ein Beispiel dafür ist Jesus selbst. Beim Evangelisten Markus lesen wir:

Und er stand auf und ging von dort in das Gebiet von Tyrus. Und er ging in ein Haus und wollte es niemanden wissen lassen und konnte doch nicht verborgen bleiben, sondern alsbald hörte eine Frau von ihm, deren Töchterlein einen unreinen Geist hatte. Und sie kam und fiel nieder zu seinen Füßen – die Frau war aber eine Griechin aus Syrophönizien – und bat ihn, dass er den bösen Geist von ihrer Tochter austreibe.

 Jesus aber sprach zu ihr: Lass zuvor die Kinder satt werden; es ist nicht recht, dass man den Kindern das Brot wegnehme und werfe es vor die Hunde.

 Sie antwortete aber und sprach zu ihm: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brosamen der Kinder.

Und er sprach zu ihr: Um dieses Wortes willen geh hin, der böse Geist ist von deiner Tochter ausgefahren.

Und sie ging hin in ihr Haus und fand das Kind auf dem Bett liegen, und der böse Geist war ausgefahren“(Mk 7, 24-30).

 

Eine bemerkenswerte Erzählung – die sich natürlich als Geschichte einer besonderen Glaubensprüfung für die Mutter des kranken Mädchens lesen lässt. Die ich aber auch als Geschichte lese,  in der Jesus seinen Glauben überprüft und verändert.

Lass zuerst die Kinder satt werden…“. Zuerst die eigenen Leute, das eigene Volk, die eigene Gemeinde. Darauf ist der Blick gerichtet – auf die, die Kinder sind. Die anderen stehen weit unter denen, die dazu gehören. Sind „Hunde“. Mit ihnen muss man sich nicht befassen, geschweige denn ihre Bedürfnisse ernst nehmen. Mit ihnen hat Gott nichts zu schaffen.

So redet Jesus.

Bis die Frau mit ihrer schlagfertigen Antwort eine ganz neue Perspektive aufmacht. Das Brot ist eben nicht nur auf dem Tisch, sondern auch anderswo. Nicht nur dort, wo Jesus es haben will. Nicht nur dort, wo er seine Sache macht und sieht. Nicht nur dort, wo die einen satt werden. Sondern auch anderswo. Und auch dort ist das Brot und macht satt, selbst wenn Jesus das nicht sehen und nicht wahrhaben will – und wir oft genug ja auch nicht.

Was die syrophynizische Frau Jesus vorhält, ist schlichtweg dies: Gott kann auch anderswo sein. Nicht nur bei denen, an denen dein Herz hängt, sondern auch bei denen, an denen mein Herz hängt. Du kannst den Segen und die Güte Gottes nicht einschränken. Es gibt einen Teil von Gottes Segen, der nicht gebunden werden kann, sondern dort ist, wo es Not tut, wo er heil macht.

Auch hier wird deutlich: die Wahrheit des Evangeliums wächst aus der Offenheit, im Diskurs mit der Fremden, der ganz Anderen.

 

Um dieses Wortes willen geh hin, der böse Geist ist von deiner Tochter ausgefahren“, sagt Jesus, denn er hat etwas gelernt: Mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit allen Kräften und mit allem Verstand kann ich an Gott hängen, ihm dienen, sein Werk tun – und zugleich kann Gott auf ein Mal , auf der anderen Seite auftauchen, mir gegenüber, ein echtes Gegenüber, eine Herausforderung, weil Gott mich auffordert, herauszugehen aus meiner Überzeugung, weil Gott mich auffordert, meinen Standpunkt zu verlassen und zu erleben: Gott ist dennoch auch jenseits meines Standpunktes da und nah und wahr.  Er kann auch ganz anders.

 

Man kommt dem Weg des Glaubens in dieser Sache auf die Spur, wenn man sich in die berühmte Ringparabel aus dem Drama „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing vertieft. Die Ringparabel erzählt von dem einen Ring, der die geheime Kraft hatte, vor Gott und Menschen angenehm zu machen. Über Generationen wurde er vom Vater auf den Sohn vererbt, bis er zu einem Vater kam, der drei Söhne hatte. Weil er sich nicht entscheiden konnte (und wollte), welcher Sohn den Ring bekommen sollte, ließ er zwei weitere Ringe machen, die dem ersten und eigentlichen auf’s Haar glichen und nicht zu unterscheiden waren. Alle drei Söhne bekommen vom Vater einen Ring. Und als der Vater stirbt, stellen alle drei fest: Die anderen haben auch einen Ring. Ein Streit beginnt. Der Richter aber, vor den die Söhne ziehen, um je ihr Recht durchzusetzen, sagt so:

 

Mein Rat ist aber der: Ihr nehmt

Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von

Euch jeder seinen Ring von seinem Vater:

So glaube jeder sicher seinen Ring

Den echten.- Möglich, dass der Vater nun

Die Tyrannei des einen Rings nicht länger

In seinem Hause hat  dulden wollen! Und gewiss;

Dass er euch alle drei geliebt, und gleich

Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,

um einen zu begünstigen. – Wohlan!

Es eifre jeder seiner unbestochnen

Von Vorurteilen freien Liebe nach!

Es strebe von euch jeder um die Wette,

die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag

zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut,

mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,

mit innigster Ergebenheit in Gott

zu Hilf! [10]

 

Die Ringparabel verbindet beides, die überzeugte Praxis der eigenen Religion, des eigenen Glaubens und die Annahme, die Hypothese, dass auch in den anderen Religionen womöglich ein Stück der Liebe Gottes stecken könnte, die die eigene so menschlich, so vertraut, so wahr und wirklich macht.

Was aus meiner Sicht wichtig und jedenfalls für unseren Glauben bleibend richtig ist, ist dies: Der christliche Glaube wird nicht dadurch pluralismusfähig, dass man ihn begrenzt und aufs Private beschränkt. Im Gegenteil: Unser Glaube wird pluralismusfähig, indem er sich auslebt. Indem er es wagt, sich zum Maßstab zu machen für die Dinge der Welt. Und indem er das, was zu beurteilen ist, an  der eigenen Überzeugung misst. Indem er sich selbst ernst nimmt und lebendig und neugierig genug ist, mit dem lebendigen Gott zu rechnen – dessen Geist weht, wo er will.

 

IV.

Wir werden als Christenmenschen gegenüber der Forderung nach Toleranz immer beide Haltungen einnehmen: die zustimmende Bejahung auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite die kritische Nachfrage, ob einem damit nicht einfach nur das Wort abgeschnitten und der Mund gestopft werden soll.

 

Udo Lindenberg  textet in seinem Lied „Gegen die Strömung“ markant-einprägsam: „Ich geh mit dir durch dick und dünn, aber nicht durch dick und doof“. Toleranz meint nicht Ignoranz. Meint nicht  Gleichgültigkeit. Ist kein nobel verpackter Opportunismus, der es sich mit niemandem verderben will und vor allem die eigene Seelenruhe und den eigenen Vorteil im Blick hat. Das kann es nicht sein! Toleranz  hält mit den eigenen Überzeugungen nicht hinter dem Berg, Toleranz benennt auch das, was eben nicht mehr mitgetragen, nicht mehr toleriert werden kann und darf. Zugespitzt formuliert: Toleranz ist nicht zahm, sondern bissig! Nämlich dann, wenn die Würde des Menschen auf dem Spiel steht.[11] 

 

Und genau deshalb werden wir als Kirche uns eben nicht ins Privatissimum des persönlichen Glaubens und der schönen Gottesdienste verweisen lassen. Der Glaube braucht beides: die Rückwendung zur Quelle, aus der er sich speist, den Gottesdienst, das Gebet, das gemeinsame Mahl am Tisch des Herrn, die Gemeinschaft der Getauften. Und er braucht die Öffnung hin zur Welt, in der das Wort immer neu Fleisch werden will.

Beim Propheten Ezechiel im 47. Kapitel ist diese Doppelbewegung wunderbar beschrieben: da steht einer im Tempel an der Quelle, aus der das heilige Wasser entspringt. Er steht da andächtig, angezogen von der Lebensmacht, fasziniert und – ängstlich, dass die Quelle womöglich versiegen möchte, wenn er sich von ihr abwendete. Da spürt er, wie einer eine Hand auf seine Schultern legt und ihn hinaus führt, vor die Tür des Tempels. Und da sieht der Beter, wie das Wasser, das im Inneren entspringt, unter der Schwelle der Tür hervor strömt, wie es durch die Fugen der Mauern bricht und sich ergießt auf das Land, anschwillt zu einem reißenden Bach, der das Tal fruchtbar macht und Pflanzen und Bäume bewässert, die Frucht tragen. „Du, Menschensohn, hast Du das gesehen?!“

So ist es: drinnen, im Heiligtum, entspringt alles, was lebt, dort hat es seinen Anfang, im Schöpfungswort des Herrn. Aber draußen erst entfaltet es seine großartige Kraft!

 

Christenmenschen sind auch kritisch-solidarische Bürger und Bürgerinnen unseres Staates. Wir treten mahnend ein für Recht und Gesetz – aber eben so, dass klar bleibt: Auch Recht und Gesetz verändern sich ständig und sind einer permanenten Verbesserung bedürftig. Wir treten ein für die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Grundgesetzes, weil sie eine gute Gabe ist. Aber eben auch eine permanente Aufgabe, die uns auffordert, immer besser für „Recht und Frieden zu sorgen“. So hat es die Barmer Theologische Erklärung von 1934 richtungsweisend gesagt, um dann fortzufahren: „Die Kirche … erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“

 

Also: Als Kirche haben wir einen Auftrag dem Staat – und ich füge hinzu: auch gesellschaftlichen Gruppen und Entwicklungen – gegenüber. Als Kirchenleute sind wir nicht die besseren Politiker. Aber als glaubende Menschen haben wir einen Maßstab für politisches Handeln und politische Entscheidungen, den wir einbringen können und einbringen müssen: nämlich die Erfahrungen mit dem Gott, der ein unterdrücktes Volk in die Freiheit geführt hat, der gegen Unrecht und soziale Ungerechtigkeit sein Stimme im Mund der Propheten erhoben hat und der schließlich in Jesus Christus unübersehbar deutlich gemacht hat: „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde!“ (1. Tim 2,4). Mit diesen Erfahrungen wirkt unsere Kirche in die Gesellschaft hinein. Und sie wirkt dabei nicht in einen leeren Raum hinein, sondern greift die Grundlagen auf, die in unserer Gesellschaft schon vorhanden sind. Ich nenne dabei an hervorragender Stelle das Grundgesetz: „Im Bewusstsein seiner  Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat das deutsche Volk … dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.“ Mit diesem Satz aus der Präambel des Grundgesetzes wird alles staatliche Tun in einen spezifischen Verantwortungszusammenhang gestellt: „Vor den Menschen“, aber eben auch „vor Gott“ will und soll sich das Tun der politische Handelnden verantworten. Damit ist das „Gewissen“ der Menschen, die politische Verantwortung übernehmen, in einer besonderen Weise angesprochen: vor den Menschen, aber eben auch vor Gott handeln er oder sie. Und wir sind davon überzeugt: Wenn man auch nicht mit der Bergpredigt die Welt regieren kann, so kann das Reich Gottes, das in der Bergpredigt aufscheint, doch die Herzen derer regieren, die in der Welt Verantwortung tragen. Das wird nicht ohne Folgen für die Art und Weise bleiben, wie diese Verantwortung wahrgenommen wird.

Ein Beispiel dafür ist die friedliche Revolution 1989. Es waren Kirchengemeinden, kirchliche Gruppen und Kirchenleute; es waren Christenmenschen, die, bewegt von ihrem Glauben sich an die Spitze der Bewegung in der damaligen DDR setzten und ihre Türen auch jenen öffneten, die sich nicht mit dem Glaubensbekenntnis zu ihnen bekannten. In den Friedensgebeten kamen Tausende zusammen, auf Gottes Wort zu hören, zu beten, zu streiten und zu diskutieren, bevor es hinaus auf die Straße ging. Weil dort Wut und Klage ihren Ort fanden, mussten sie sich nicht auf der Straße entladen.  Es waren die Kirchen mit ihrer Verkündigung, die die Menschen ermutigten – auch jene, die bis heute nicht glauben. Aber die Botschaft hat sie gestärkt. Und sie hat die Kraft gehabt, die Gewalt zu unterbrechen, das System zu stürzen. Und folgerichtig waren es in den ersten Jahren nach der Wende nicht zuletzt Kirchenleute, die Verantwortung für den Neuaufbau übertragen bekamen!

Für mich macht das auch deutlich, wie wir das Grundanliegen der Lehre Luthers von den zwei Regimentern, dem geistlichen und dem weltlichen, modern verstehen können.  Denn natürlich „muss man die beiden Regimente sorgfältig voneinander unterscheiden“[12]. Aber auch das weltliche Regiment führt kein Eigenleben, sondern hat eine Funktion von Gott: nämlich „äußerlich Frieden schaffen“ und „bösen Werken wehren“[13]. Eine sehr nüchterne Funktion, die – und auch das ist Luther klar – am besten so ausgefüllt wird, dass sich die staatliche Ordnung gerade in Gewissens- und Weltanschauungsfragen zurück zu halten hat. Luther sagt: „Weil es denn einem jeden auf seinem Gewissen liegt, wie er glaubt oder nicht glaubt, und weil damit der weltlichen Gewalt kein Abbruch geschieht, soll sie auch zufrieden sein und sich um ihre Sachen kümmern und so oder so glauben lassen, wie man kann und will, und niemand mit Gewalt bedrängen“[14]

Gewiss muss und soll also der moderne Staat religiös und weltanschaulich „neutral“ sein.

Und gewiss muss Kirche sich sagen lassen und sich bewusst machen, dass sie mit ihrem Hinweis auf Gott nicht allein auf weiter Flur steht.

Aber das heißt nicht, dass wir uns auf eine private Frömmigkeit festlegen und beschränken lassen könnten.

Deshalb werden wir Toleranz gegenüber Menschen nie mit Toleranz gegenüber Ideologien und fundamentalistischen Einstellungen verwechseln.

 

Wir werden natürlich – und zwar als Christen und als Kirche – gegen rechtsradikales Gedankengut protestieren und gegen Neo-Nazi-Aufmärsche demonstrieren. Und wir werden nicht davor die Augen verschließen, dass es solches Gedankengut, z.B. in Form von Islamfeindschaft und antisemitischen Einzelaussagen[15], auch in unseren Gruppen und Kreisen gibt.

Die Untersuchungen zu rechtsextremen und antisemitischen Einstellungen in unserer gesamtdeutschen Gesellschaft zeigen u. a. auch: wenn wir die Suche nach Wahrheit aufgeben und den öffentlichen Disput darüber nicht suchen, dann verbreiten sich gefährliche Einstellungen und Haltungen und werden in einer Gesellschaft untergründig selbstverständlich. Dann kann es geschehen, dass selbst Behörden eines demokratischen Rechtsstaats zu massiven und folgenschweren Fehleinschätzungen kommen – weil die öffentliche Debatte über grundlegende Werte fehlt oder nicht entschieden genug gegenüber ihren Verächtern geführt wird.[16]

Toleranz geht dem Disput nicht aus dem Weg. Vielmehr: Toleranz entsteht und bildet sich als Haltung eben durch das Gespräch und den Disput aus.

 

Ein anderes Thema: Wir werden – als Christen und als Kirche – daran erinnern, dass die gesetzliche Ordnung des arbeitsfreien Sonntags und wichtiger Festtage keine Domäne kirchlicher Selbstbehauptung ist, sondern  dass dieser Ordnung – wie das Bundesverfassungsgericht im Blick auf die Regelungen des Grundgesetzes gesagt hat –  ein „religiöser, in der christlichen Tradition wurzelnder Gehalt eigen [ist], der mit einer dezidiert sozialen, weltlich-neutral ausgerichteten Zwecksetzung einhergeht[17].

Und wir werden – als Christen und als Kirche – uns stark machen für einen Religionsunterricht, der seinen Namen verdient. Die Diskussionen, die durch den Abschluss von Verträgen mit muslimischen Verbänden in Hamburg in dieser Hinsicht in Gang gekommen ist, macht noch einmal im Konkreten deutlich: Nur wenn wir als glaubende Menschen und als Glaubensgemeinschaft kenntlich werden, wenn wir als Kirche sichtbar werden, dann sind wir pluralismusfähig. Im Fall des Religionsunterrichtes ist das ganz klar. Die Herausforderung liegt u.a. darin, dass wir die Grundsätze unserer Religionsgemeinschaft sehr klar formulieren und sie gerade in dieser Klarheit in den Zusammenhang eines gemeinsamen Konzepts „Religionsunterricht mit anderen Religionsgemeinschaften“ einbringen. Es geht darum, den Glauben selbst ins Gespräch zu bringen, die Geschichten, die davon erzählen, zu erzählen, die Lebensgeschichten, die damit zusammen­hängen, zu verstehen und insgesamt eine Dimension menschlicher Wirklichkeit zu erleben, die überaus stark und tief in Persönlichkeit und Sozialstrukturen hineinwirkt. Und das ist ein Beitrag zum gegenseitigen Gelten lassen und zur Fähigkeit, gemeinsam Zukunft zu gestalten, wie er kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Dafür ist  natürlich eine gute religiöse Bildung eine wichtige Voraussetzung. Wir brauchen wirkliche Kenntnisse von religiösen Positionen und Traditionen, nicht nur Schlagworte und Schlagzeilen im Kopf. Toleranz braucht Wissen. Sonst bleibt nur Angst und  Arroganz. Toleranz braucht Bildung.

Gerade in einer pluralen Gesellschaft zeigt sich: Wahrheit ist nicht etwas, was wir besitzen. Wahrheit erweist sich im Dialog der Kulturen und Religionen. Die Spannung zwischen der eigenen Wahrheitserkenntnis und den Wahrheitsansprüchen der anderen Religionen ist nicht aufzulösen. Sie ist Gegenstand und Energie des Dialogs.

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, sagt Jesus. Und: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich!“

Der, der dieser Weg ist, lehrt mich die Offenheit für das Andere, das fremde; lehrt mich die Möglichkeit, in dem anderen etwas zu vermuten, was mir womöglich fehlt und was mich ihm, der die Wahrheit ist, überraschend nahe bringt!

Das gilt nicht nur für den Dialog zwischen den Religionen. Es gilt auch für Konflikte, die es innerhalb unserer Kirche zwischen verschiedenen Frömmigkeitstraditionen gibt. Wenn Angst und Enge herrschen, kann der Glaube nicht dazu beitragen, dass das Herz weit wird und Arme sich öffnen.  Eine Grundlage der Toleranz ist es, dass wir einander nicht reduzieren auf das, was wir je fremd oder anders aneinander wahrnehmen. Wie gehen wir selbst um mit den unterschiedlichen Wahrheitserkenntnissen, mit unterschiedlichem Bibelverständnis, mit unterschiedlichen Glaubenskonsequenzen? Bleiben wir im Dialog oder legen wir einander fest? Toleranz und Glaubensfestigkeit schützen, dass wir den je anderen nicht reduzieren auf seine Sexualität, seine politische Beheimatung, seine Stärke oder Schwäche.

Gottes Wort ist Mensch geworden und hat die Sünde und Todverfallenheit der Welt getragen (lateinisch: tollere). Das ist der Grund dafür, dass wir einander tragen und ertragen, auch und gerade in unserer Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit. Das ist der Grund für Toleranz.

 

V.

Wir in unserer Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland haben konkret erlebt, wie aus der Pluralität von Traditionen und Gewohnheiten, Rechten und Vorschriften, Erfahrungen und Vorlieben eine neue Kirche geworden ist. 

In mühevollen Schritten des Zusammensitzens, des Redens, Missverstehens, Weintrinkens, Diskutierens und gemeinsamer Ermüdung durch lange Sitzungen haben sich Menschen aus der Nordelbischen, der mecklenburgischen und der pommerschen Kirche kennengelernt. Haben sich ein gemeinsames Projekt vorgenommen. Haben immer wieder Anlauf genommen und Grundsätze erarbeitet und Arbeitsgruppen eingerichtet und …und ..und. Vor allem aber ist eines immer wichtig gewesen: Wenn die Grundsatzkritik kam: „Wir passen einfach nicht zusammen!“ und wenn diese Kritik auch eine allgemeine Gefühlslage widerspiegelte, die durch konfliktreiche Detailarbeit immer wieder einmal in den Vordergrund rückte, dann haben wir uns irgendwann – vielleicht in einem gemeinsamen Gottesdienst oder einer Andacht – darauf besonnen, dass das nicht wahr sein kann. „Wir passen nicht zusammen“, ist unter Christen eine unmögliche Aussage! Denn der Apostel Paulus sagt mit recht: „Hier ist nicht Jude noch Grieche. Hier ist nicht Sklave noch Freier. Hier ist nicht Mann noch Frau, sondern ihr seid alle eins in Christus Jesus unserem Herrn“ (Gal 3, 24). Da gibt es also den einen gemeinsamen Grund, der jenseits aller Unterschiede in sozialer, religiöser und menschlicher Hinsicht besteht und Halt gibt. Jede und jeder gehört zu Christus, also gehören alle zusammen, gerade weil sie sich im Einzelnen gehörig unterscheiden. Darin liegt eine enorme sozial-integrative Kraft -  die Kraft nämlich, die eigene Sache auch mit den Augen der anderen sehen zu lernen. So können wir Unterschiede, Vielfalt und Pluralismus wirklich wertschätzen und als Gottes bunte Welt genießen, bestaunen und uns darüber freuen. Wir haben auch strukturell in unserer Verfassung z.B. dafür gesorgt, dass die unterschiedlichen Kulturen und Geschichten leben, sich entfalten können. Dass der Reichtum der Vielfalt energetisch ertüchtigt wird. Die Vielfalt in der Kirche, die gerade im Protestantismus manchmal beklagt wird, ist keine Schwäche, sondern gerade eine Stärke. Weil sie nämlich deutlich macht, dass nicht Macht und Herrschaft, dass nicht Struktur und Recht „den Laden zusammenhält“, sondern Gottes Gegenwart in seinem Wort und in dem Glauben, der darauf antwortet.

 

 

VII.

Fazit: Natürlich mag es merkwürdig erscheinen, dass ein Kandidat zur Wahl als Landesbischof über den Segen des Pluralismus spricht. Denn das Amt des Landesbischofs verkörpert ja das Bedürfnis nach Klarheit und Einheitlichkeit. In Wahrheit aber ist es das Amt der Einheit, nicht das Amt der Einheitlichkeit. Es geht nicht um Hierarchie und Gleichmacherei dadurch, dass „einer was zu sagen hat“. Sondern es geht diesem leitenden geistlichen Amt eben genau darum – um geistliche Leitung. Um das Zusammenhalten von spannungsvollen Zusammenhängen. Um das Zusammen­führen von gespannten Verhältnissen. Und um die Würdigung und Bewahrung des vielgliedrigen und vielgestaltigen Leibes Christi. Einheit und Vielfalt schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.

In seinem Hohepriesterlichen Gebet (Johannes 17) bittet Jesus den Vater um die Einheit der Glaubenden: „…Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien“.

Während aber wir, wenn wir von „Einheit“ reden, oft im Blick haben unsere Zusammenarbeit, den organisatorischen oder institutionellen Rahmen, dann müssen wir auch sehen, dass Jesus zunächst und vor allem etwas Anderes im Sinn hat: er spricht von der Einheit, in der er selbst mit dem Vater ist: „…dass sie eins seien wie wir!“ Diese Einheit sollen wir leben; eins sollen wir sein gleich ihm mit dem Vater, damit die Welt sieht, dass er gesandt ist. Das aber ist nun eine Einheit, die wir nicht selber schaffen können mit Vereinbarungen untereinander. Sie wird uns vielmehr geschenkt. Und es kommt darauf an, ob wir diese Einheit in versöhnter Verschiedenheit in den vielen Wohnungen, die Gott bereit hält, leben, gestalten – jede und jeder Einzelne und als Gemeinschaft der einen Kirche Jesu Christi.



[1] DIE ZEIT, 29. November 2012, Nr. 49, Titelseite.

[2] A.aO., S. 66.

[3] Ebenda.

[4] Thies Gundlach, Verdunkelter Christus, in: Der lange Weg zur Toleranz, Das Magazin zum Themenjahr 2013 Reformation und Toleranz, hrsg. vom Kirchenamt der EKD, 2012, S. 4ff, hier: S.???

[5] Hans-Martin Gutmann, Gewaltunterbrechung Warum Religion Gewalt nicht hervorbringt, sondern bindet, S.119 ff

[6] A.a.O., S.

[7] Der jüdische Witz, hrsg. von Salcia Landmann, 198312, S. ???

[8] So Bischöfin Ilse Junkermann in ihrer Ansprache zur Eröffnung des Themenjahres der Reformationsdekade „Reformation und Toleranz“ am 11. Dezember 2012 in Erfurt

[9] Vgl. Walter Fleischmann-Bisten, Die Stiefkinder der Reformation, in: Schatten der Reformation, Der lange Weg zur Toleranz, Das Magazin zum Themenjahr 2013 Reformation und Toleranz, hrsg. vom Kirchenamt der EKD, 2012, S. 14-17, hier: S.16.

[10] Nathan der Weise, Dritter Aufzug, Siebenter Auftritt

 

[11] Vgl . Wolfgang Huber, Von der Freiheit, München, 2012, S. 184 f und 193 f.

[12] Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, S.46.

[13] Ebenda

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