31. Oktober 2012 - Reformationsgottesdienst der Propstei Rostock
31. Oktober 2012
Predigt zu Gal 5,1-6
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder!
Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.“ (Gal 5,1)
Wie steht es um unsere Freiheit? Und was hat das Zeug dazu, uns zu knechten?
Ein halbes Jahr vor seinem Tod erklärt Albert Einstein zur Lage der Wissenschaftler in Amerika:
„Wäre ich noch einmal ein junger Mensch und stünde ich erneut vor der Entscheidung über den besten Weg, meinen Lebensunterhalt zu verdienen,
so würde ich nicht ein Wissenschaftler, Gelehrter oder Pädagoge,
sondern ein Klempner oder Hausierer werden wollen,
in der Hoffnung, mir damit jenes bescheidenes Maß von Unabhängigkeit zu sichern, das unter den heutigen Verhältnissen noch erreichbar ist.“
Prompt wurde Einstein die Ehrenmitgliedschaft der Klempnergewerkschaft verliehen. Aber wichtiger ist wohl, dass seine Aussage eine heftige Diskussion über die Freiheit auslöste. Wenn Einstein, der Prototyp des genialen, geistig unabhängigen Wissenschaftlers zu solchen Urteilen kam, wie frei konnte man denken, leben und arbeiten?!
Dass der Mensch frei sei, ist keineswegs selbstverständlich. Einstein selbst bezieht sich auf Schopenhauer, der überzeugt war:
„Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.“
In der Tat, wir werden beeinflusst von äußeren Zwängen und inneren Notwendigkeiten:
von Menschen, die uns erzogen und geprägt haben,
von gesellschaftlichen Rollen und Konventionen,
von unseren Bedürfnissen nach Anerkennung und Geborgenheit.
Wir leben und arbeiten im Kontext von Sachzwängen:
in den Abhängigkeiten von wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen,
inmitten widerstreitender Notwendigkeiten.
Dennoch ist uns verheißen – oder sollte ich besser sagen – es ist uns aufgetragen: „Zur Freiheit hat uns der Messias befreit, steht also aufrecht und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Sklaverei zwingen.“
Paulus erörtert die Frage von Gefangenschaft und Freiheit anhand eines Themas, das in den letzten Wochen unvermutet Aktualität gewonnen hat. Ich meine das Thema der Beschneidung. Heutzutage werden dabei Fragen des Kindeswohls und der religiösen Selbstbestimmung diskutiert. Für Paulus war es damals eine ganz andere Frage: ‚Brauchst du über Christus hinaus einen Halt, eine Sicherheit für dein Leben? Brauchst du ein Ritual, eine Konvention, die dich bergen und dir ein Gefühl der Zugehörigkeit verleihen sollen? Und mehr noch: Setzt du dein Vertrauen darein, dass die pünktliche Befolgung solcher Normen dich mit Gott versöhnt? Und glaubst du, es bedürfte dessen, um dich mit Gott zu versöhnen? Dann lass dir sagen: Von Christus her, im Vertrauen auf ihn, ist das nicht nur überflüssig: Es bringt dich ab von dem Vertrauen, das dir die Freiheit schenkt.‘
Bedürfnisse nach Sicherheit und zusätzlichem Halt kennen auch wir:
Menschen suchen das Vertraute. Manch Konflikt in unseren Gemeinden hat seinen Grund darin, dass Veränderungen beunruhigen. In einer sich immer rasanter verändernden Welt soll es wenigstens in der Kirche altgewohnt und verlässlich bleiben. Gleichzeitig wissen wir, dass, wer sich treu bleiben will, offen sein muss für Wandel und Veränderung.
Ganz aus dem Vertrauen auf Christus zu leben – persönlich, als Gemeinde, als Kirche: Im Blick auf die Realitäten erscheint das denn doch sehr verwegen, um nicht zu sagen als traumtänzerisch. Muss man da in der Leitung von Gemeinde und Kirche nicht ein wenig Sicherheit einbauen z. B. in finanzieller Hinsicht, im Blick auf die Gemeindegliederzahlen? Es heißt doch: „Der kluge Mann baut vor.“ Zugleich ahnen wir: Wenn wir uns allzu sehr auf dieses Denken einlassen, sind wir schnell darin gefangen: Wir kalkulieren, wo wir – um Christi willen – etwas riskieren sollten! Wir geben der Sorge Raum, wo wir das Leben unserer Gemeinden, unserer Kirche wie auch unser eigenes Leben fröhlich-gelassen aus dem Gottvertrauen gestalten könnten.
Zur Wahrheit über uns Menschen gehört es, dass wir zwei gegensätzliche Tendenzen in uns tragen:
Eine, die uns niederdrückt – dass wir immer wieder hinter unseren guten Vorsätzen zurück bleiben; dass wir verwickelt sind in hoffnungslose Versuche, unser Daseinsrecht, unsere Würde, unseren Wert zu erweisen durch die Art, in der wir leben, durch unsere Arbeit, unsere Leistung, unseren Erfolg.
Anderseits ist da aber auch etwas Beflügelndes in uns – eine unstillbare Sehnsucht, ein guter Mensch zu sein, zu lieben, für andere zu leben. In uns ist das tiefe Bedürfnis, in der Ordnung der Dinge, im Geschehen der Welt einen Anhalt für diese Sehnsucht zu finden, einen Sinn, der das Leben lohnt– so wie es von Gott her gemeint ist.
Welche Seite gewinnt die Oberhand?
Das hängt allein ab von unserer Beziehung zu Christus – nicht in einem allgemeinen Sinn der Frage, ob man überhaupt glaubt oder nicht, sondern davon, wie man glaubt: Auch in der Beziehung zu Gott kann man unfrei bleiben. Auch in der Beachtung von Frömmigkeitsregeln kann man gefangen bleiben, wenn man versucht, durch ihre Einhaltung das eigene Daseinsrecht, den eigenen Wert zu erweisen und Gottes gewiss werden zu wollen.
Frei jedoch wird man, um mit Bonhoeffer zu reden, „wenn man ganz darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen . . . dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst . . . und so wird man ein Mensch . . .“
Sich Gott ganz in die Arme werfen, das Leiden Gottes in der Welt ernst nehmen – das ist „der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). An Aufgaben dafür ist wahrlich kein Mangel:
Die Kinderarmut in dieser Stadt, in unserem Land verlangt unseren Einsatz. Als Gemeinden diakonisch zu wirken, mit der Kraft, die da ist und die ja manchmal größer ist, als man zunächst vermutete – als Gemeinde diakonisch aktiver zu werden, auch in Zusammenarbeit mit der Rostocker Stadtmission –, das ist nicht nur ein Akt tätiger Liebe, sondern trägt zur Erneuerung von Gemeinden bei. Als wir in meiner ehemaligen Gemeinde den „Mittagstisch für Leib und Seele“ auf den Weg brachten, waren da auf einmal etliche Ehrenamtliche, die ich noch nie in der Gemeinde gesehen hatte. Das normale Programm unserer Arbeit mit verschiedensten Kreisen und Angeboten, unser schönes ‚Veranstaltungskarussell’, war nicht das Richtige für sie. Aber für Kinder eine warme Mahlzeit kochen, das wollten sie gern. Auch heute noch, fünf Jahre danach, mangelt es dort nicht an Freiwilligen. Sie haben unsere Gemeinde verändert.
Die Gerechtigkeitslücken in unserem reichen Land – denken wir allein an prekäre Arbeitsverhältnisse, dass Millionen von Menschen als Minijobber, Leiharbeiter, unbezahlte Praktikanten, unter Mindestlohnniveau Bezahlte nicht von ihrer Arbeit leben können: All das ist ein Skandal, mit dem wir uns nicht abfinden werden. Wir haben ein Armutsproblem, und wir haben ein Reichtumsproblem. Wenn sich einerseits das Vermögen in den Händen von immer weniger Menschen konzentriert, und andererseits der Staat Mühe hat, Bildungschancen für alle, die unverzichtbare Energiewende oder gerechte Renten zu finanzieren, dann stimmt da etwas nicht in den Rahmenbedingungen.
Manchmal leidet Gott ganz gewiss auch an der Art und Weise, wie wir Kirche sind: Wie schwer es uns fällt, den Zirkel des Binnenkirchlichen zu verlassen; gespannt zu sein auf Menschen, die mit Gott nicht vertraut sind; mit ihnen zu entdecken, wie offene Gemeinden aussehen könnten; von ihnen zu lernen, uns neu zu sehen, und diesen Menschen zu zeigen, was wir lieben – das ist doch eine hinreißende Aufgabe.
Ich finde es großartig, dass wir in Rostock eine Jugendkirche haben. Was für eine Chance! Aber sie braucht die tatkräftige Unterstützung aller Gemeinden. Sie sollte nicht als Konkurrenz der gemeindlichen Jugendarbeit missverstanden werden. Durchbrechen wir den Bannkreis des Gewohnten. Erliegen wir auch nicht der Logik des Arguments, dass die Jugendlichen die Gemeinde von morgen seien und deshalb eine Bindung an unsere Gemeinden entwickeln sollen. Denn realistisch gesehen bildet gute Konfirmanden- und Jugendarbeit in Mecklenburg vielfach die zukünftigen Gemeindeglieder Hamburgs heran. Na und? Es ist bedauerlich für unsere Gemeinden, aber wir behalten sie ja immerhin in unserer Kirche.
Große Herausforderungen, ja! Aber nun kommt alles darauf an, dass wir sie nicht zu einem neuen Joch machen. „Das Leiden Gottes in der Welt ernst nehmen“, jawohl, aber auch „sich Gott ganz in die Arme (werfen)“, sein ganzes Vertrauen auf den Christus setzen und dabei wissen: Wir müssen weder die Kirche garantieren noch „erst einmal die Welt retten“! Das ist der Freiheitsgrund, aus dem heraus wir tätig sein können.
Auch im Persönlichen wäre es verrückt, etwas aus seinem Leben ‚machen’ zu wollen – als wäre nicht schon alles Wesentliche da. Wir atmen, wir lieben, wir empfangen und gewähren Freundschaft, wir stehen füreinander ein . . . Es gibt meinem Leben einen sicheren Halt, zu wissen: ‚Ich bin ein Kind Gottes. Ein Wunschkind dazu. Und Gott traut mir zu, dass ich nicht so bleiben muss, wie ich bin.‘ In der Fülle der Aufgaben und Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, handeln und auf Gott vertrauen – das ist die Kunst, sich zu verlassen, sich auf ihn hin zu verlassen.
Zu dieser Freiheit hat Christus uns befreit.
Was uns knechten will, hat seine Grenze – und mehr noch: hat seinen Gegner in Gott.
Amen.