4. Mai 2014 - Dom St. Nikolai Greifswald

4. Mai 2014 - Ordinationsgottesdienst am Sonntag Miserikordias Domini

04. Mai 2014 von Hans-Jürgen Abromeit

Predigt zu 1. Kor 9,19

Gewinnende Freiheit

Der Apostel Paulus schreibt an die Korinther: “Denn obwohl ich allen gegenüber frei bin, hab ich doch mich selbst zum Knecht aller gemacht, damit ich möglichst viele gewinne.“

1.Kor. 9, 19; vgl. 20-23

 

Liebe Ordinanden,
liebe Angehörige,

liebe Gemeinde,

es gibt Menschen, die haben eine Botschaft, für die sie als Person stehen. Wer den Namen Martin Luther Kings hört, der weiß: Dieser Mann steht für die Überwindung der Rassendiskriminierung. Alice Schwarzer ist ein Synonym für Frauenemanzipation. Der Dalai Lama symbolisiert ein buddhistisches, von China freies Tibet. Alle diese Menschen haben eine Botschaft und wollen andere dafür gewinnen. Ohne solche Menschen und ihre Botschaften wäre die Welt ärmer und die Entwicklung stände still. So hat auch der Apostel Paulus eine Botschaft, für die er andere gewinnen will: Jesus Christus ist der Grund aller Freiheit. Wer sein Leben darauf gründet, der ist wirklich frei. Diese Botschaft hat in der Weltgeschichte unendlich viel in Bewegung gebracht. Und Paulus will Menschen für diese Botschaft gewinnen.

Wie steht es mit uns? Haben wir eine Botschaft? Wollen wir gewinnen? Wollen wir als Christen, als evangelische Kirche, wollen Sie als junge Pastorinnen und Pastoren Menschen gewinnen für das Evangelium? Haben wir ein Interesse daran, dass Frauen und Männer, die bisher religiös und christlich unmusikalisch gewesen sind, beginnen, das Lob Gottes zu singen? – Ich nehme sehr unterschiedliche Reaktionen auf diese Fragen wahr. Die einen entfalten eine unglaubliche Aktivität, weil sie diese Botschaft weitersagen wollen: Neue Gottesdienstformen und Hauskreise, Glaubenskurse und Besuchsdienst und gelegentlich eine Großveranstaltung. Andere vermuten, dass mit diesen Aktionen überwiegend kirchliche Insider erreicht werden und kritisieren das vermeintlich innerkirchliche Um-Sich-Selbst-Kreisen. Ein westlicher leitender Geistlicher, ein Kirchenpräsident, soll dazu gesagt haben: „Im Osten braucht man nicht viele Pfarrstellen und Verkündigung, sondern evangelische Krankenhäuser.“ Dadurch würden Menschen Christen. Die Verkündigung durch die Tat würde gehört. Das Wort bewege nichts. Die meisten kirchlichen Mitarbeiter allerdings sind mit der Pflege und Erhaltung des Bestehenden so ausgelastet, dass keine Energien mehr frei sind, um sich in der einen oder der anderen Weise an Außenstehende zu wenden. Menschen gewinnen? Wir sind doch keine Propagandisten und Schreier auf einem religiösen Markt. Die Menschen wollen auch nicht, dass ihnen etwas übergestülpt wird. Sie sind autonome Subjekte und legen sehr viel Wert auf Freiheit. Sie wollen selbst verantwortlich sein.

Aber war das eigentlich zur Zeit des Paulus anders? Nein. Auch Paulus hatte nicht mit Menschen in selbst verschuldeter oder schicksalhafter Unmündigkeit zu tun. Die hellenistische Gesellschaft war in höchstem Maße pluralisiert und die Menschen sich ihrer eigenen Freiheit sehr bewusst. Auch damals wollte keiner sich etwas überstülpen lassen. Das wollte Paulus auch nicht. Das Evangelium will gewinnen. Mission steht nicht quer zur Kommunikation, sondern Mission ist Kommunikation des Evangeliums. Paulus möchte Menschen innerlich überzeugen, in aller Freiheit einladen. Er ist selber fasziniert, in Beschlag genommen, eine Anangke, ein Schicksal liegt auf ihm. Er kann gar nicht anders. Er ist so hingerissen von dem Messias Jesus; der Glaube an ihn ist eine so besondere, lebensentfaltende Beziehung, dass er möglichst vielen anderen diese Erfahrung auch gönnt. Für Paulus ist die Frage des Glaubens an Jesus Christus, das „In – Christus – Sein“, keine Beliebigkeit, sondern eine Sache um Leben und Tod.

Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Mitmenschlichkeit hat es nicht immer gegeben und wird es nicht immer von allein geben. Beides sind zerbrechliche Güter. Beide sind Folgen des Evangeliums, der Verkündigung Jesu und seines Geschicks. In Jesu Reden und Handeln begegnet ein wirklich freier Mensch. Er war weder dem Terror der Meinung der anderen verfallen, noch der unbeschränkten Geltung des eigenen Ichs ausgeliefert. Frei und den Menschen zugewandt, die seinen Lebensweg kreuzten, ging er seinen Weg.

Liebe Ordinanden, etwas von der Freiheit Jesu fällt auch in unser Leben als Menschen, die wir uns der Verkündigung seiner Botschaft verschrieben haben. Wir sind frei, weil Jesus uns befreit hat. Wir haben aber auch einen Beruf, in dem – auf Jesu Ruf hin – diese Freiheit in besonderer Weise zum Ausdruck kommt.

Freiheit ist nicht die größtmögliche Selbstverwirklichung. Wer sich nur immer selbst verwirklichen will, der tut zum Schluss Dinge, die er bedauert. Dieses Ausgeliefertsein an die eigene Meinung und die andern kommt sehr schön in einem Bonmot zum Ausdruck: „Manche Leute kaufen sich von dem Geld, das sie nicht haben, Sachen, die sie nicht brauchen, um damit Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen.“ - Frei –auch vom Konsumzwang – wird man nicht durch eigene Taten, sondern nur durch die Befreiung durch Jesus Christus. Freiheit ist immer Geschenk und muss sich bewähren. Wer die Freiheit nur für sich in Anspruch nimmt, ist nicht wirklich frei. Freiheit ermöglicht auch Selbstzurücknahme. Wer durch Christus befreit ist, kann sich auch selber anderen verpflichten. So ist das christliche Menschenbild geprägt von der Dialektik von Freiheit und Bindung, von Selbstverwirklichung und Selbstzurücknahme. „Denn obwohl ich allen gegenüber frei bin, hab ich doch mich selbst zum Knecht aller gemacht.“

Martin Luther hat in diesem Bibelvers die Grundlage für seine Epoche machende Freiheitsschrift von 1520 gesehen und fasst seine Aussage in der paradoxen Wendung zusammen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Die Natur des Menschen ist eben nicht so primitiv oberflächlich, dass sie mit der einfachen Aussage, der Mensch sei frei, das heißt unabhängig, zutreffend wiedergegeben werden könnte. Das Geheimnis des menschlichen Lebens liegt in einer anscheinend widersprüchlichen Aussage. Nur der Mensch, der sich selbst verschenken kann, gehört sich selbst. Es gibt keinen Menschen, der nicht auch Mitmensch ist.

Die Botschaft des Paulus ist in diesem Sinne die gleiche wie die Botschaft Jesu. Wenn du ein reiches und erfülltes Leben leben möchtest, musst du es verschenken. Wer den Reichtum seiner Kraft, seiner Möglichkeiten und seiner Freude allein leben will, bleibt arm. Biblisch und christlich ist die Freiheit nur, wenn sie nicht hält, sondern loslässt; wenn sie nicht für sich sammelt, sondern den anderen austeilt.

Die neuzeitliche Freiheitsgeschichte hat bei Luthers in sich verschränkter Aussage von der Freiheit durch Christus, die sich dem Nächsten zuliebe selbst versklavt, ihren Ausgangspunkt genommen. Sie wurde erst problematisch, als die Freiheit als ein Besitz verstanden wurde, den ich für mich habe und der nicht meinem Nächsten dienen soll. Sehr schön hat der Lutheraner Dietrich Bonhoeffer dieses biblische Freiheitsverständnis in seiner frühen Vorlesung „Schöpfung und Fall“ aufgenommen: „Denn Freiheit ist in der Sprache der Bibel nicht etwas, das der Mensch für sich hat, sondern etwas, das er für den andern hat. Kein Mensch ist frei ‚an sich’, d.h. gleichsam im luftleeren Raum, so wie er musikalisch, klug oder blind an sich ist. Freiheit ist keine Qualität des Menschen, keine noch so tief irgendwie in ihm aufzuckende Fähigkeit, Anlage, Wesensart. Wer den Menschen auf Freiheit hin durchforscht, findet nichts von ihr. Warum? Weil Freiheit nicht eine Qualität ist, die aufgedeckt werden könnte, kein Besitz, kein Vorhandenes, Gegenständliches, auch keine Form für Vorhandenes, sondern weil Freiheit eine Beziehung ist und sonst nichts. Und zwar eine Beziehung zwischen Zweien. Frei sein heißt ‚Frei – sein – für – den – Anderen’, weil der andere mich an sich gebunden hat. Nur in der Beziehung auf den anderen bin ich frei.“

Dieses Menschenbild, das die Freiheit immer als Freiheit für andere versteht, meint der Apostel Paulus, wenn er sich aus Freiheit zurücknimmt und zum Knecht seiner Mitmenschen (der griechische Urtext meint den Sklaven) macht.

Ist dies alles eine tiefe, aber dem einfachen Menschen kaum zugängliche Wahrheit? Der Kirchenpräsident mit seinem Hinweis auf evangelische Krankenhäuser ahnt etwas Richtiges. Diese Freiheit kann nicht nur deklariert werden. Sie entfaltet ihre Wirkung erst, wenn sie gelebt wird, wenn den Worten Taten folgen. Freilich, ohne Worte geht es nicht. Doch wenn durch das Leben nicht deutlich wird, wie Menschen ihre Freiheit, die ihnen Gott geschenkt hat, für andere einsetzen, dann hat das Wort keine Resonanz. Trotz unserer Verkündigung und der fast inflationären Vermehrung der Worte hören Menschen, die weder Gott noch die Kirche kennen, diese Worte nicht. Sie sind so sehr auf Abstand, dass wir versuchen müssen, diesen Abstand zu verringern.

Eine junge Pastorin aus Pommern erzählt, wie ein Elternpaar - beide nicht in der Kirche – zu ihr kommen und ihr Kind taufen lassen möchten. Die Pastorin macht sich Mühe und erklärt die ganze Taufhandlung, ihre Formen und ihre Bedeutung. Dabei erfährt sie, dass beide noch nie in einer Kirche gewesen sind. Sie lädt sie ein, doch eben hinüber ins Kirchengebäude zu gehen. Ganz erschrocken fragt die junge Mutter: “Was, kann man da einfach so reingehen?“

Wie können wir Menschen, die innerlich orientierungslos und misstrauisch sind, die keinen Zugang zum Glauben haben, für das Evangelium gewinnen? Für viele Kirchenferne in unserem Bundesland ist das Evangelium von Jesus Christus eine mit dem Kapitalismus verbundene Tradition. Sie sehen in der stärkeren öffentlichen Präsenz der Kirchen eine vom Westen ausgehende Privilegierung. Deswegen sind die Menschen im Osten immer noch misstrauisch. Man hat ihnen eingeredet, dass Kirche und Kapitalismus zusammengehen. Und irgendwie glauben sie es tief innen immer noch. Und dann kam dazu die Erfahrung des Verlustes des Arbeitsplatzes. Nein, sie hungern nicht, aber viele sind immer noch tief gekränkt. Peter Beier, der ehemalige Präses der Ev. Kirche im Rheinland und Ratsvorsitzende der EKU, hat von ihnen in seinem Gedicht Stralsund gesagt:

„Die Leute sind

ohne Arbeit,

aber im Brot.

Kam mit dem Westwind die Leere?“

Bei vielen unserer Mitmenschen haben sich Misstrauen, Resignation und Hoffnungslosigkeit zu einem gewissen Trotz gegenüber dem Glauben verdichtet.

Jede und jeder von Ihnen, die Sie nun beherzt in das Pfarramt gehen, wird eine eigene Antwort auf die Frage geben, was es bei der Verkündigung des Evangeliums bedeutet, Knecht zu sein, um möglichst viele zu gewinnen. Sei es mit sozialen, diakonischen, missionarischen oder pädagogischen Angeboten, sei es mit dem Lebensstil, wie Sie Menschen an Ihrem Ort begegnen. Irgendjemand hat es einmal so ausgedrückt: Es gibt fünf Evangelien: vier in der Bibel und das fünfte das Leben der Christen; und viele Menschen lesen nur das fünfte.

Die Menschen aus Hamburg und Husum, aus Pommern und Pankow werden gewonnen werden, wenn sie die Freiheit zur Selbstzurücknahme erfahren. Wer sich als geliebt empfindet, der ist schon beinahe gewonnen. Auch religiös Unmusikalische stimmen dann in das Lob Gottes ein. Das ist die Botschaft, für die wir als Pastorinnen, Pastoren und Bischöfe stehen, für die die evangelische Kirche insgesamt steht. Unsere Botschaft ist die Freiheit, die durch den christlichen Glauben kommt. Weil sich Jesus Christus in freier Tat an uns Menschen gebunden hat, ermöglicht er uns wahre Freiheit, Freiheit für andere – für Gott und unsere Mitmenschen. Wer diese Freiheit erfahren hat, der möchte dafür auch andere Menschen gewinnen.

Amen.

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