Dom zu Lübeck

5. Februar 2012 - Predigt zu 1 Kor 9, 24-27

05. Februar 2012 von Kirsten Fehrs

Predigttext: 1. Korinther 9, 24-27„Wisst Ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht selbst predige und selbst verwerflich werde.“

„Hände hoch, oder ich küss dich!“ 
Das ist jetzt keine bischöfliche Avance, liebe Gemeinde, sondern ein wunderbar provokantes Lied. Es könnte auch heißen: Unterschätzt nicht die Kleinen, die ein wenig Schrägen, die sogenannten Leistungsschwachen. Unterschätzt nicht die positive Kraft der - angeblichen -Verlierer in unserer Gesellschaft. Es könnte dich das Leben kosten. Überraschend ließ sich das jüngst auf einem Senatsempfang lernen. Da haben „Rosi und die Knallerbsen“ innerhalb kürzester Zeit den Saal aufgemischt. Haben uns mit einer Lebensfreude überwältigt, die jegliches Protokoll überflüssig machte. Die Knallerbsen sind eine Band junger Männer und Frauen mit Behinderungen – hochmusikalisch, mit nachdenklichen Texten, rockender Blockflöte und einer faszinierenden Kindnähe. Und als Hanne mit Down-Syndrom, vor allem aber mit Strassgürtel und Seidenbluse empört vergnügt ins Mikrofon ruft: „Ihr da müsst aber auch MITMACHEN!“, war´s um alle geschehen. Sie haben uns inkludiert, wie es heute so schön heißt. Eine hinreißende Umkehrung der Verhältnisse. Aus Zuschauern wurden Mitstreiterinnen der Lebendigkeit. Prägnanter lässt sich die Botschaft des Evangeliums nicht erden! Denn das Urbild aller Inklusion ist Gott selbst. Der Allmächtige wird Mensch – und am Übergang von der erleuchtenden Epiphaniaszeit hin zur Passionszeit wird wiederum deutlich, was das heißt: Gott schließt alles Menschliche ein, nimmt es in sich hinein. So wie es ist. Mit seinen Versehrtheiten, Brüchen, den Handicaps und dem Unversöhnlichen. Aber auch mit der Lebenslust, die zu siegen versteht.

Was sich hinter diesem so spröden Begriff der Inklusion verbirgt, ist in Wirklichkeit eines der aufregendsten christlichen Projekte der Moderne. Doch wem erzähle ich das hier in Lübeck, dem Ort der Vorwerker Diakonie! Inklusion ist ein Projekt, das Verhältnisse ändert, wenn man mit ihm ernst macht. In Schulen, Betrieben, Theatern, Diskotheken. Denn es müssen alle mitmachen. Mit einem Ziel, das Barriere-Freiheit heißt. Und das bedeutet: Zuallererst müssen wir über Barrieren springen. Und zwar über innere. Mitleid ist so eine Barriere, oder Gedankenlosigkeit, oder unsicheres Wegschauen oder Ungeduld. Alles Verhaltensweisen, die andere zu Verlierern machen.

Gelernt habe ich das von Simon. Simon hat unsere ganze Familie erfolgreich inkludiert in sein Sonnenscheintemperament. Er ist ein Sieger, ein Sieger der Herzen allemal. Und das, obwohl er in seinen bisher 25 Lebensjahren viel zu kämpfen hatte. Gemeinhin bezeichnet man ihn als körperbehindert; er selbst sieht das anders. Nahezu umgekehrt manchmal… Als ich ihn zuletzt sah, bereitete er sich intensiv auf die Paralympics vor. Mit seinem voluminösen Oberkörper, den seine von Geburt an schwachen Beine kaum noch tragen, ist er als Torwart der Eishockey-Nationalmannschaft scheint´s eine Idealbesetzung. Er ist stolz. Zu Recht. Denn er hat drei entbehrungsreiche Jahre hinter sich. Selbstkasteiung der besonderen Art: drei Trainingsstunden pro Tag, Kraftsport, Angstbekämpfung, damit man nicht zuckt, wenn mit dem Puck auf den Kopf gezielt wird, 6000-8000 Kalorien täglich (das muss man erst einmal essen, liebe Gemeinde!, das ist ja auch fast ein Sport für sich), kein Alkohol, keine Feiern und „beziehungstechnisch“ - wie er sagt – „ ist kaum noch was möglich“. Dabei betont er das „kaum“ ganz charmant.

Mich beeindruckt seine Leistung. Seine Disziplin. Seine Vitalität dabei. Und mir wird bewusst, was das für ein gnadenloser Kampf ist, wenn man oben mitspielen will! In unserer hochgerüsteten Sportwelt - und nicht nur da. Will man Anerkennung oder gar Ruhm, muss man lange Zeit hart dafür arbeiten und muss verzichten können, salopp gesprochen auf alles, was Spaß macht. Insofern ist der allererste Kampf offenbar nicht der gegen die Konkurrenten, sondern der gegen sich selbst, gegen die eigene Trägheit und Schwäche. Und gegen die Verzweiflung, weil der vermaledeite Körper einem so viel Mühe macht.

Paulus kennt diesen Kampf gut. Obwohl er nun wirklich nicht sportlich war. Eher klein und untersetzt und von Krankheit gezeichnet, so beschreibt er sich selbst. Dass der Apostel Sport getrieben hat, halte ich, wenn Sie mir den Vergleich gestatten, für genau so unwahrscheinlich wie im Fall von Winston Churchill, von dem kein Zitat berühmter geworden ist als sein unnachahmliches: No sports. Anders die Korinther, an die Paulus schreibt. Sie leben direkt an dem Ort, an dem ein Teil der Olympischen Spiele in der Antike stattfand. Sie haben die Arena buchstäblich vor Augen. „Wisst Ihr nicht“, knüpft Paulus an, „dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? …Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, …und bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht predige und selbst verwerflich werde.“

O je, was für ein harter Kampf mit sich selbst! Mit den Fäusten, liebe Gemeinde, schlägt Paulus die Lüste des Körpers nieder! Damit der Geist frei wird, „Barriere frei“. Geht es ihm doch darum, das Christsein zu leben, damit ernst zu machen in den Kampfarenen des Lebens, wie immer die heißen. Glaubwürdiger Zeuge will er sein und nicht nur leere Worte predigen. Wir wissen, es gelang ihm. Doch frage ich mich stets, ob dazu dieser feindselige Kampf gegen den eigenen Körper nötig war? So wenig hat der mit dem Blick der Gnade gemein, mit dem Jesus im Evangelium die Menschen anschaut – eben: unabhängig von dem, was sie leisten.

In dieser eigentümlichen Spannung zwischen Kampf und Gnade sehe ich das zentrale Thema in unserem Predigttext. Und in der Geschichte unseres Lebens. Wie viele hier unter uns kämpfen! Wie viele kämpfen mit ihrem Körper, weil er krank ist oder schwächer wird und bei aller Disziplin droht zu versagen! Wie viele kämpfen mit Zeitdruck, Leistungsdruck, der Angst, nicht „genug“ zu sein. Wie viele kämpfen mit dieser feindseligen Intoleranz in unserem Land und dieser demütigenden Ungerechtigkeit, die die ganze Welt erschüttert. Wie viele kämpfen mit dem Neid und mit Eifersucht, die alles mies macht, was schön sein könnte, kämpfen mit Einsamkeit und Tristesse, mit Friedlosigkeit an viel zu vielen Orten auf der Erde und mit Gottesferne. Wir kämpfen mit so vielem und sehnen uns nach Gnade, nach einem erlösenden Wort. Suchen das Ziel, um endlich auszuruhen und aufzuatmen.

Paulus hat ein Ziel. Christ-Sein, Christus sei in dieser Welt – das ist sein Lebensziel. Doch wer hat solch ein Ziel heute noch? Wer weiß schon so genau, wofür er oder sie sich abkämpft? Was sein Projekt ist? Simon z.B. fasziniert es, einer von denen zu sein, die im fairen Wettkampf zur Völkerverständigung beitragen. Doch er will auch gewinnen. Der Ruhm, heutzutage ja medial höchst attraktiv in Szene gesetzt, ist der Traum eines jeden Sportlers. Ich verstehe das so gut! Nur leider, Paulus hält wieder einmal dagegen, ist solch ein Siegerkranz vergänglich. Unserer aber, sagt er, der ist unvergänglich.Wir können aufatmen. Wir sind am Ziel.

Denn es gibt einen solchen unvergänglichen Siegerkranz, und der ist Ziel und Ursprung zugleich: Er ist nicht das Kennzeichen für einen unvergänglichen Ruhm, sondern für eine unverlierbare Würde. Dieser Kranz verdankt sich nicht unserer menschlichen Kraft, sondern der Güte Gottes. Er ist nicht einem Einzigen vorbehalten, sondern wird uns allen angeboten. Wer diesen Siegerkranz erhält, verweist keinen anderen auf einen zweiten Platz. Und: Er wird reichlich vergeben. Ganz am Anfang, in der Taufe ist er uns schon verliehen worden.

Dazu ein kleiner Ausflug: In vielen Dorfkirchen gibt es Taufengel. Sie kennen sie sicher: Sie hängen an einem Seil von der Decke herab und halten schwebend die Taufschale. Wenn eine Taufe ansteht, wird der Engel heruntergezogen; wird er nicht gebraucht, schwebt er wieder nach oben und macht Platz. Manche Engel nun halten nicht nur die Taufschale in der einen, sondern auch einen Siegerkranz in der anderen Hand. Ich hatte mich immer gefragt, warum das so ist. Paulus gibt die Antwort. In der Taufe ist uns wie ein unvergänglicher Siegeskranz verheißen, dass Gott uns trägt. Uns würdigt. Anerkennend anschaut und sagt: „Wie bist du wunderbar gemacht!“ Sein Segen spannt sich wie ein Bogen über unser Leben – von der Geburt bis zum Tod. Ihm und seiner Gnade verdanken wir unsere Würde, jede Stunde, die wir leben und die wir manchmal auch durchkämpfen müssen. Wir verdanken uns…und sind nicht aus uns selbst heraus. Wir verdanken uns - Paulus macht mich darauf aufmerksam, dass auch dies eine Haltung, wenn man so will: eine Disziplin ist. Es ist die Disziplin des Glaubens, die klare Bahnen kennt und Aufgaben für uns bereithält – und sicherlich manch´ inneren Kampf.

Von solchen inneren Kämpfen wissen die Mitarbeitenden in der Telefonseelsorge hier in Lübeck eine Menge. Letzte Woche durfte ich sie besuchen. 96 Ehrenamtliche leihen jeden Tag und jede Nacht Menschen ihr Ohr und ihr Mitgefühl. Sie überwinden innere Barrieren, z.B. weil es viel zu viele sogenannte Spaßanrufe gibt. Bei anderen überwinden sie Mitleid, Ungeduld, Unsicherheit, all das, was Menschen in einem auslösen, die voller Verzweiflung sind, Einsamkeit, Wut und Lebensangst. Sie versuchen, dass der Mensch auf der anderen Seite wieder „herüberkommt“ auf die Seite des Lebens. Dass er Kontakt mit sich aufnimmt, und damit zu dem Menschen, der er einmal war oder die sie sein möchte. Letztlich geht es nicht allein um Krisenintervention. Es geht darum, wieder Ursprung und das Ziel zu finden. Indem man sich in einem Gespräch gemeinsam auf den Weg macht. Manchmal gar in eine Kampfarena. Und alle Ehrenamtlichen, die dort arbeiten, erzählen, wie enorm dankbar sie diese Arbeit macht. Weil sie erlebt haben, dass tatsächlich bei dem einen oder der anderen das Leben siegt. Mit ihrer Hilfe. Und das lässt sie selbst empfänglich werden. Für das gnädige Wort in der Stille. Für die Kraft im Segenswunsch. Für das Lebensbrot beim Abendmahl. Das zu erfahren, ist jede Stunde wert, sagen sie und deshalb telefonieren sie und hören und telefonieren, laufend und laufend.

In der Begegnung mit diesem segensreichen Projekt Christi ist mir wieder einmal klar geworden, liebe Gemeinde, wie wenig den Menschen an vergänglichem Ruhm liegt. Sie suchen das Unvergängliche, das sie hält. Die Vergewisserung, dass in unsere Welt die Welt Christi hinein geboren ist, immer wieder. Eine Welt, in der nicht der Wettkampf herrscht, sondern das Erbarmen, nicht die Feindschaft, sondern die Liebe. Und wir hören das und sind eingebunden, gemeinsam, in dieses Bündlein des Lebendigen. Du und ich. So Gott will. Und dann wirst du, dann werde ich so dankbar, auf der Welt zu sein. So wunderbar gemacht. Auf vielleicht manchmal schwachen Beinen, doch ganz bestimmt von zahlreichen Engeln getragen und geliebt.

Lauft also, sagt Paulus. Und was wir dazu brauchen, werden wir bekommen – so wie dies Gedicht, es sei der Schluss:

Flügel möchte ich besitzen,
bis zum blauen Himmel dringen, 
wo die schönen Sterne blitzen – 
schöner Engel, schenk mir Schwingen.

Als der Engel mich vernommen,
griff er in die Silbertruhe – 
und was habe ich bekommen?
Gute feste Wanderschuhe!

Hedwig Diestel

Geht, festen Schrittes, unter der Gnade Gottes!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

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