5. Juni 2012 - Predigt zur Bachkantate 131 „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“
05. Juni 2012
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
die musikalische Bewegung dieser Kantate hat uns aus der Tiefe menschlicher Verlorenheit ins Hoffen geführt. Und ich spüre, wie ich am liebsten einfach nur diesen hoffnungsvollen Gesang fortführte. Aber Hoffnung, die diesen Namen verdient, setzt den Blick in die Abgründigkeit menschlicher Existenz voraus.
So frage ich: Was kann der zweiundzwanzigjährige Bach schon von Sünde gewusst haben? 1707, in jungen Jahren also, komponiert Bach diese Kantate zum Bußpsalm 130 für die benachbarte Kirchgemeinde St. Marien in Mühlhausen. War es die Erschütterung des großen Stadtbrands, die sich in diesem Werk widerspiegelt? Ein Brand, der Mühlhausen verheerte, und die Menschen dort wohl fragen ließ: Womit haben wir das verdient, dass wir so heimgesucht werden? Auch Bachs persönliche Situation – er konnte durch seine Stellung in Mühlhausen endlich eine Familie ernähren – hatte sich durch den Brand verschärft. Ein Jahr später ging er dann auch nach Köthen.
Bach hat sich meines Wissens nicht zu diesen Zusammenhängen geäußert. Wichtiger ist ja auch das grundsätzliche Muster: Menschen, die von einer Katastrophe ereilt werden, versuchen zu verstehen, suchen nach einem Sinn in dem Geschehen. War es unsere Schuld, die dieses Unheil ausgelöst hat? Ist es blinder Zufall, dass ich so geschlagen bin? Oder ist es eine Strafe – vielleicht sogar eine Strafe Gottes? So schwer es für mich als Seelsorger auch auszuhalten war und ist: Manchmal scheint es für betroffene Menschen leichter zu sein, wenn sie selbst ihr Leid als Prüfung oder sogar als Strafe deuten. Dann gibt es wenigstens eine Spur von Sinn in der Katastrophe. Noch schwerer, so scheint es, lässt sich Sinnlosigkeit aushalten.
Der vertonte Bußpsalm als Antwort auf das erschütternde Geschehen des Stadtbrands – so könnte es gewesen sein:
„So du willst Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen? Erbarm dich mein in solcher Last.“
Wohlgemerkt, hier bittet der Beter nicht wie in vielen anderen Psalmen schlicht um Rettung aus der Not. Vielmehr geht es – jenseits moralischer Kategorien – um eine menschliche Verlorenheit, die einem die Luft zum Atmen nimmt. Das heutige Evangelium, das vermutlich auch im Gottesdienst der Uraufführung der Kantate gelesen wurde, macht deutlich: Moralisch hat der Pharisäer allerlei vorzuweisen – regelmäßiges Fasten, beachtliche Spendenbereitschaft (wer gibt schon den zehnten Teil seines Einkommens?!) –, und doch bleibt die unerbittliche Frage: Wer kann vor dir bestehen, Gott?
Halten wir einen Moment inne: Ist es das alte, üble PredigerSpiel, Menschen, denen es eigentlich ganz gut geht und die sich bemühen, verantwortungsvoll zu leben, das Bewusstsein ihrer Sündhaftigkeit einzureden, um sie dann mit dem Hinweis auf Gottes Güte wieder aufzurichten? Dies wäre nicht redlich. Ich bin überzeugt: Wir stehen hier vor einer allgemeinmenschlichen Frage. Auch Menschen, die sich nicht als Christen oder einer anderen Glaubensrichtung zugehörig verstehen, kennen sie als die existentielle Frage: WIE KANN ICH BESTEHEN?
Oft sind es gerade die Aufrichtigen, Unerbittlichen, die dem Fragen nach sich selbst und der Glaubwürdigkeit ihres Lebens nicht ausweichen, sondern standhalten. Einer der Wahrhaftigsten, Václav Havel, notierte am 5.Dezember 2005, als er schon nicht mehr tschechischer Präsident war:
Ich fliehe. Ich fliehe immer mehr. Ich fliehe unter den verschiedensten Vorwänden aus meinem Arbeitszimmer . . . hinunter in die Küche, wo ich dann aufräume, Radio höre, Geschirr spüle, mir etwas koche, über etwas nachdenke oder nur so auf meinem uralten Platz sitze und aus dem Fenster schaue. In Wirklichkeit fliehe ich vor dem Schreiben. Aber nicht nur davor. Ich fliehe vor der Öffentlichkeit, fliehe aus der Politik, fliehe vor den Menschen . . . und hauptsächlich wohl vor mir selber. Wovor fürchte ich mich eigentlich? Schwer zu sagen. Interessant ist, dass ich, obwohl ich hier allein bin und allein sein werde, niemanden erwarte und auch niemand vorhat zu kommen, ständig das Haus in gehöriger Ordnung halte . . . Also: es sieht so aus, als ob ich ständig jemanden erwarte. Aber wen? . . . Wie kommt es, dass ich niemanden sehen will und dabei immer jemanden erwarte? Jemanden, der zu schätzen weiß, dass alle Dinge an ihrem Platz und richtig geordnet sind? Ich habe nur eine Erklärung: Ich bemühe mich, allzeit auf das Jüngste Gericht vorbereitet zu sein. Ein Gericht, dem nichts verborgen bleibt, das alles, was zu schätzen ist, gehörig einschätzt, und ganz von selbst alles bemerkt, das nicht richtig ist. . . . Warum aber liegt mir so sehr an der endgültigen Bewertung? Das alles könnte mir doch egal sein. Es ist mir nicht egal, weil ich davon überzeugt bin, dass meine Existenz – so wie alles, was je geschehen ist – die Oberfläche des Seins gekräuselt hat, welches nach dieser meiner Welle, wie nebensächlich, unbedeutend und vergänglich sie auch war, anders ist als vorher und aus Prinzip für immer anders sein wird.
Schwestern und Brüder, unser Leben ist nicht gleichgültig. Darum wird es von der Frage begleitet: Kann ich bestehen? Vor wem auch immer. War vergeblich war, wofür wir gelebt haben und leben? Unser Leben, Lieben und Arbeiten ist wichtig und kostbar. Und weil es wertvoll ist, tragen wir die Frage nach seiner Bewertung mit uns. Man muss dazu nicht einmal mit Václav Havel an eine „endgültige Bewertung“ oder das „Jüngste Gericht“ denken. Schon die Bruchstückhaftigkeit meines eigenen Lebens und dessen, was es zu bewirken vermochte und vermag, stellt die Frage: WIE KANN ICH BESTEHEN? Aber auch der unheilvolle Satz unserer Epoche „Jeder ist seines Glückes Schmied“, der uns nötigt, aus unserem Leben etwas zu machen, als wären die wesentlichen Dinge des Lebens nicht allesamt Geschenk – auch dieses Diktat, das eigene Glück zu machen, bringt diese Frage mit sich: WIE KANN ICH BESTEHEN?
In dieser Tiefe nun nähern wir uns der Hoffnung: Die allgemeinmenschliche Frage – WIE KANN ICH BESTEHEN? – kennt kein Gegenüber. Sie könnte ins Leere gehen. Wohl dem, der in all seinem Fragen mit dem 130.Psalm um ein Gegenüber weiß: WIE KANN ICH BESTEHEN VOR DIR? Die Frage des Psalmbeters verliert sich nicht in den Weiten eines kalten, sinnlosen Universums, sondern findet Halt an Gott. Diese Frage ist damit zwar noch nicht beantwortet, verliert noch nichts von ihrer Dramatik; doch sie geht nicht ins Leere.
Gott, den Heiligen, als Gegenüber zu haben, gibt Halt, auch wenn es die Fragwürdigkeit unseres Lebens zunächst noch einmal verschärft. Elfmal wiederholt der Chor zum Abschluss der Kantate „aus allen meinen Sünden“ – gleichsam für jedes der zehn Gebote einmal und noch einmal darüber hinaus, als gäbe es kein Entrinnen aus menschlicher Unzulänglichkeit und Getrenntheit von Gott. Doch die bewegte, hoffnungsvolle Musik Johann Sebastian Bachs im Schlusschor macht deutlich: Bei Gott ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.
Denn: Kein unerbittlicher Buchhalter bewertet unser Leben, sondern der Barmherzige lässt sein Herz sprechen. Kein teilnahmsloser Gott betrachtet ungerührt vom Olymp aus das Treiben der Menschen. Nein, der, den wir Vater nennen sollen, und der für uns da ist wie eine liebende Mutter, nimmt mitten in unserem Leben Anteil an uns. In Jesus von Nazareth gibt Gott sich hin mit seinem ganzen Leben, damit wir zu ihm finden. Angesichts dieser Liebe verblasst, was uns von Gott trennen könnte – Versagen, Schuld, dass wir uns immer wieder von Gott abwenden und versuchen, aus uns selbst zu leben. Bei Gott ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.
Darum können wir bestehen – weil Gott unser Leben begleitet, mehr noch, weil er uns ins Leben rief und uns zu seinen Töchtern und Söhnen bestimmt hat. Ihn zu suchen, alle Tage neu zu entdecken und tiefer zu verstehen, unser Leben mit Gott zu teilen, uns ihm aufs Neue zuzuwenden, mit einem Wort: ihn zu lieben – darin erfüllt sich unser Leben. In den Tiefen unseres Lebens wie auf seiner Höhe ist er für uns da. Erhören wir sein Werben!
Amen.
Und der Friede . . .
Lied: EG 219, 2+3 Schmücke dich, o liebe Seele
Gebet
Gott, Geheimnis der Welt,
mit allem, was uns bewegt, kommen wir zu dir:
dankbar für empfangene Güte,
nach Antworten suchend,
mit den Müdigkeiten und Hoffnungen unseres Lebens.
Sei uns nahe, Lebendiger.
Stärke uns,
in der Liebe zu leben,
Menschen in Not beizustehen
und für gerechte Verhältnisse zu sorgen.
In der Stille breiten wir vor dir aus, was uns am Herzen liegt.
- Stille –
Gemeinsam beten wir:
VATERUNSER
Segen
Postludium