5. Oktober 2013 - Albertinen-Haus, Hamburg-Schnelsen

5. Oktober 2013 - Vortrag bei der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft christlicher Ärzte - „Die Kirche und das christliche Krankenhaus: Wer braucht wen?“

05. Oktober 2013 von Kirsten Fehrs

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

herzlich danke ich Ihnen für die freundliche Einführung, lieber Herr Dr. Sick, wie auch für die Einladung hierher zur Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft christlicher Ärzte. (Kleiner persönlicher Einstieg, dann:)

„Die Kirche und das christliche Krankenhaus: Wer braucht wen?“ – auf diese Ihre Frage lautet die allererste Antwort natürlich: Beide brauchen sich gegenseitig. Was wären wir ohneeinander?

Denn beide sitzen wir in einem Boot und das heißt: lebenswertes Leben. Leben, das zu leben Freude macht. Selbst wenn oder gerade weil man sich bewusst ist, dass es begrenzt ist. Die Kostbarkeit von Leben, das von Gott schon vorm Mutterleibe ausnahmslos allen Geschöpfen zugeliebt ist, die Kostbarkeit und die Würdigkeit jeden Lebens ist das Boot, das uns beide in die Verantwortung nimmt, es möglichst heil durch die Widrigkeiten der Zeitläufte hindurch zu bringen.

Wunderschön hat dies ein Poet auf den Punkt gebracht –

Rudern zwei – von Reiner Kunze

 

Rudern zwei

Ein Boot,

der eine kundig der Sterne,

der andere kundig der Stürme

wird der eine führn durch die Sterne

wird der andere führn durch die Stürme

und am ende

ganz am ende

wird das meer in der Erinnerung

blau sein.

 

Ein schönes Bild, finde ich. Denn es geht hier nicht um verzweifeltes Rudern, etwa angesichts von Kostendruck und Pflegenotstand. Sondern um eine konkrete Utopie. Um die Aussicht, dass das Boot heil bleibt, weil sich Ruderer trauen, auch einmal ins Blaue zu denken. Den Horizont auszumessen. Und zwar gemeinsam.

Das christliche Krankenhaus dabei: kundig der Stürme des Lebens, der Bedrohung der Gesundheit. Und kundig der vielfältigen Möglichkeiten, dem erkrankten Menschen zu helfen, wenn Diagnosen auf ihn einstürmen und Ängste, Schmerz und Bodenlosigkeit.

Und da ist „die“ Kirche: kundig der Sterne – und zwar in dem Sinne, dass wir von einem Himmel erzählen, der uns wie ein weites Zelt in ein größeres Ganzes aufnimmt. Jeden Menschen, ganz individuell. Mit allen nur möglichen existentiellen Fragen nach dem Woher und Wohin. Und ganz oft auch nach dem Warum. Was wären wir – Ärzte wie Patientinnen – ohne diesen Himmel, der uns deshalb Trost und Orientierung gibt, weil er gerade über das hinausweist, was wir selbst wissen und uns geben können?

 

Die Kirche und das christliche Krankenhaus – beide sind also aufeinander angewiesen. Die Kirche braucht die christlichen Krankenhäuser zum ersten als Konkretionen des Glaubens: die „christliche Liebestätigkeit“ [Buchtitel von G. Uhlhorn, S. 1882ff], so der frühere, anschauliche Name für die „Diakonie“, diese tätige Liebe ist eine unverzichtbare Lebensäußerung der Kirche. Sie ist das, was auch kirchenfernen Menschen unmittelbar als gut und sinnvoll einleuchtet. Nicht umsonst doch hat Albertinen binnen kurzem eine sagenhaft großherzige und weiträumige Unterstützung erhalten, als Sie für die OP eines serbischen Jungen – wohlgemerkt eines kleinen „Menschen ohne Papiere“ – zu Spenden aufgerufen haben! Den Hamburgern war sofort klar: bei diesem Krankenhaus steht „christlich“ nicht nur drauf; hier ist „Christus“ drin. Mitten unter ihnen. Er, dessen Name ja nicht nur Friedefürst lautet und Wunderrat, sondern auch von Kind an Flüchtling und vom Tode Bedrohter…

 

Entscheidend also ist, was „drin“ ist… Und hier nun kommt ins Spiel, wie das christliche Krankenhaus die Kirche brauchen könnte. Denn Kirche steht für den besonderen Inhalt und damit für das besondere Profil des konfessionellen Krankenhauses. Noch genauer: für die spezifische Identität. Wobei eben deutlich zu unterscheiden wäre zwischen „Identität“ und „Profil“ : denn „Identität“ meint den inneren Wesenskern, „Profil“ die äußere Sichtbarkeit. „Ein Profil verleiht der Identität eine wahrnehmbare Kontur, ist aber nicht dasselbe. Vielmehr setzt ein authentisches Profil immer schon eine gelungene Identitätsfindung voraus.“ (M. Fischer, in: Verbandsmitteilungen DEKV, Dez. 2009, S. 10)

Und das heißt: von außen können viele Krankenhäuser ähnlich aussehen, entscheidend ist, dass sie „drin“ ist, die Nächstenliebe.

 

  1. „Nächstenliebe“ als Beschreibung der christlichen Identität

 

Als christlicher Ur-Impuls liegt die Nächstenliebe im Wesenskern einer Einrichtung, die sich als christlich versteht. Zugleich drängt sie danach, äußerlich und profiliert sichtbar zu werden. Beides ist schon in der biblischen Geschichte selbst angelegt, die dem „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zugrunde liegt: das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter.

 

Dieses Urbild motiviert – individuell wie institutionell – einen radikalen Perspektivwechsel vom eigenen Nabel zum Nächsten hin. Heißt: ich versetze mich mit all meinen Fähigkeiten der Einfühlung und der Phantasie und des Denkens in die Perspektive derer, die mich brauchen. Von ihnen lasse ich mich in Anspruch nehmen, so wie ich wirklich gebraucht werde. Und zwar nicht, weil sie an mich appellieren würden. Sondern weil Zuneigung einen „überfällt“ wie den Samariter. Ausgerechnet er, nur (!) er, der von der jüdischen Gesellschaft Ausgestoßene, sieht hin, hört hin und „es jammerte ihn“, genauer: es rührte ihn bis an die Eingeweide. Und so kann er gar nicht anders als von seinem Esel zu steigen, sich zu dem Verletzten hinab zu beugen, ihn zu verbinden, ihn aufzuheben und ihn – auf eigene Kosten! – in Obhut eines Pflegedienstes zu geben.

Es sind diese zwei Bewegungen des Samariters, die das charakterisieren, was wir unter „Nächstenliebe“ verstehen: Die eine Bewegung geht aus ihm heraus – raumgreifend und impulsiv –, das ist die Liebe. Sie erfasst den Nächsten oder die, die einem zufällig begegnen, die Ferneren, den Flüchtling, ja, auch der Feind. Und die andere Bewegung, die unbedingt zur Liebe gehört, ist das Absteigen vom Esel. Das Herunterkommen. Das Absteigen steht für den Verzicht auf die eigene Bedeutung, die eigene Macht, die Unversehrtheit, den eigenen Erfolg. Das Absteigen ist Statusverzicht. Die christliche Vorstellung von Gott selbst ist das Muster für diese Art zu leben. Gott als der heftig Liebende steigt ab in die Niederungen menschlichen Lebens. In aller Konsequenz. Und so ist es keine Moral, die uns sagt, was gut ist. Sondern unser Glaube. Unsere Gottesvorstellung. Absteigen und Herabbeugen vor lauter Liebe – die Tradition nennt es humilitas. Niedrig sein. Wir haben auf der Erde, Humus, zu bleiben, sozusagen auf dem Teppich. Nur indem wir dort unten bleiben, mit Verstand und Gefühl, verstehen wir, was andere bewegt und was zu tun ist.

 

So gesehen scheint die altbekannte Geschichte in unserem Zusammenhang nun doch überraschend radikal. Es gilt, vom Esel des sozialen Ranges, vom Esel der Ansprüchlichkeit, vom Esel der Unversehrtheit herunter zu steigen. Denn du kannst mit keinem solidarisch sein, wenn du oben bleibst. Du wirst keinen verstehen, den du nicht anschaust, die du nicht wenigstens ein bisschen magst. Mehr noch: Willst du wirklich jemanden aufrichten, der gefallen ist, musst du dich hinknien und dich unter den Verletzten begeben. Nur von ganz unten vermagst du ihn aufzuheben. Die Heilung, aber auch die Pflege eines Menschen verlangt einem das Ganze ab, konzentrierte Kraft und Liebe von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüt, die ganz viel hält und aushält. Wer wüsste das besser als Sie. Ich danke Ihnen dafür. Für das Halten und das Aushalten des manchmal Unaushaltbaren.

 

Mit ganzem Gemüt… es geht ums Ganze menschlichen Lebens. Um den Jammer, die Verlegenheit, die Scham, die Endlichkeit, das nicht hinsehen können. Und immer wieder die Liebe, die einen wehrlos macht und impulsiv. Und so lässt Jesu Gleichnis uns gerade nicht aus der Pflicht heraus fragen, was muss ich tun? Sondern vielmehr haben wir die Freiheit zu fragen: Was will Gott in mir an Kräften frei setzen? Und was tue ich mit diesen Kräften meiner Seele und meines Körpers, was tue ich sinnvoll mit meinen Träumen, meinem Hoffen, meinem Humor, meiner Lebensfreude? Wem werde ich damit zu einer, zu einem Nächsten?

In dieser Frage, meine sehr geehrten Damen und Herren, kulminiert das, was man die „besondere Werteorientierung kirchlicher Einrichtungen“ nennt. Und so ist es eine theologisch gegründete Folge, dass hier besonderer Wert gelegt wird auf die Seelsorge, und zwar Seelsorge bezogen auf die Patientinnen und Patienten wie auch des ärztlichen und pflegerischen Personals. Seelsorge an der Grenze zwischen Leben und Tod.

 

Denn die Seelsorge, so wird es überkonfessionell beschrieben, ist die Muttersprache der Kirche. Sie ist uns mitgegeben – von dem Moment an, in dem Jesus den Verwirrten beruhigt hat, Kranke geheilt, die Sünderin angehört, den Suchenden gefragt hat: Was willst du, dass ich dir tu? Mit Gestus, Wort und Ritual ist sie eine vielschichtige Sprache der Zuwendung, die Menschen hilft, sich selbst zu verstehen, sich selbst zu befragen und sich in den Grenzsituationen des Lebens getragen zu fühlen. Und so ist sie die Sprache, die wir als Kirche in die Gesellschaft einbringen. Und, wie ich finde, die wir vermehrt einbringen müssen. Pastorale, seelsorgerliche Identität, die der Ausnahmesituation nicht ausweicht, sondern sich ihr stellt – sie ist heute notwendiger denn je. Denn sie hat und gibt Tiefe. Und vermittelt den Menschen, die mit Schmerzen kämpfen und mit Lebenshunger, dass sie verstanden werden. Und begleitet. Professionell. Sensibel. Zeitgemäß und zuverlässig. Im Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamtlichen, Pflegepersonal und Ärzteschaft, im Zusammenspiel auch institutionell von Stadt, Diakonie und Kirche.

 

  1. Gesundheit in ethischer Perspektive

 

Was nun wäre der Samariter ohne den Wirt gewesen? Ohne den Ort, an den er den Verletzten guten Gewissens abgeben kann, weil sich dort professionell um ihn gekümmert wird? Und damit verbunden ist die Frage: war diese Herberge, dieses Hospiz ein besonderes? Auf unser Thema übertragen: wird man in konfessionellen, der Nächstenliebe verpflichteten Krankenhäusern gesünder als anderswo? Oder anders gesund? Was überhaupt umfasst dieses „gesund sein“?

 

Bekanntermaßen ist laut Weltgesundheitsorganisation Gesundheit nicht auf das körperliche Wohlbefinden beschränkt, sondern schließt auch das innerste Selbst und die äußeren Bezüge zu meinen Mitmenschen mit ein. Allein: haben Sie diesen Zustand völligen Wohlbefindens je erlebt? Ich fühle mich wohl, aber völlig? Ungebrochen?

Näher kommt der Realität meines Erachtens die Auffassung, wie sie der Theologe Trutz Rendtorff in seiner Ethik beschreibt: Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern vielmehr die Kraft, mit Störungen zu leben. Gesund bin ich auch dann noch, wenn es mir gelingt, mit meiner Krankheit und den damit verbundenen Einschränkungen zu Recht zu kommen und zu leben. Und so mag es gerade in einem konfessionellen Krankenhauses die Chance geben, diese Fähigkeit des Menschen zu stärken: nämlich die, Störungen zu integrieren.

Auch deshalb braucht im christlichen Krankenhaus die Seelsorge Raum. Buchstäblich. Abschiedsräume, Andachtsräume, Orte der Besinnung und des zu sich Kommens. Orte, an denen das Kreuz zu sehen ist. Denn das Kreuz ist unser Zeichen dafür, dass Gott selbst in seinem Sohn den Schmerz des Todes erlitten hat. Gott selbst hat gelitten. Er ist ein sympathischer, mitleidender Gott, der mit aushält, was unerträglich scheint.

 

  1. Bleibende Ambivalenzen

Aber wie kann hier die Umsetzung gelingen? In kleiner Münze, in der täglichen Arbeit? Hier finden sich, als immer wieder deutliche Zeichen unserer unerlösten Welt, Ambivalenzen und Dilemmata. Wie soll man einerseits ein besonderes christliches Profil in der Zuwendung zum Nächsten sicherstellen, wenn andererseits der Kostendruck so groß ist, dass für den einzelnen Menschen nicht mehr genug Zeit bleibt. Nächstenliebe und Wirtschaftlichkeit schließen sich zumeist aus, müssen aber immer wieder zusammen gebracht werden. Es sind klassische Dilemmata, bei denen man akzeptieren muss, dass jede Lösung Nachteile hat. Ein Dilemma ist ein einziges Dazwischen. Zwischen Stühlen ist man hin- und hergerissen, die alle wichtig sind gleichgewichtig zu besetzen, sonst fällt man. Entweder ins desaströse Minus oder vom Glauben ab.

 

Hier wiederum genau hingeschaut: Es sind ja oft gar nicht die großen, vielmehr die kleinen Worte und Gesten, die bei der Begegnung im Krankenhaus oder Pflegeheim zählen. Die liebevolle Berührung, das klare Wort, der wahrhafte Händedruck, der aufmerksame Blick sind heilsame Zeichen inmitten hoch professioneller Abläufe und Apparate. Aber selbst für diese kleine Zeichen braucht es Zeit. Zeit, die – subjektiv empfunden! – häufig zu fehlen scheint – angesichts enger Dienstpläne, hoher Dokumentationsverpflichtungen und Pflegenotstand. Sie als Ärzte und Sie, die Pflegenden, wissen aber genau um deren Wichtigkeit. Gerade weil sie mit Grenzsituationen konfrontiert sind, mit Ängsten, bangen Fragen und Traurigkeit, mit Ausnahmezuständen, die einen bei allem Konflikthaften auch daran erinnern, warum man den Beruf eigentlich ergriffen hat: Menschen umfassend an Leib und Seele pflegen zu wollen. Liebestäter zu sein wie der Samariter. Zugewandt und lebensnah und professionell.

 

Dies in eine Balance zu bringen, also zum einen die Ressourcen sparsam einzusetzen und zugleich über das Technische hinaus menschliche Nähe und Zuwendung zu vermitteln, ist eine hohe Kunst. Nicht umsonst gehören der Ärztestand und die Pflege laut einer Forsa-Umfrage von 2011 zu den Berufen mit dem besten Image. Denn offenkundig gibt es wenig Berufe, bei denen man Menschen so nahe kommt und bei denen so klar auf der Hand liegt, dass dies nur gehen kann mit einem hohen emotionalen, mentalen und körperlichen Einsatz, dass dies nur gehen kann mit Verstand und Herz.

 

Vielleicht braucht das christliche Krankenhaus gerade hier die Kirche: dass dieser Einsatz in der Gesellschaft öffentlich mehr gewürdigt wird. Durchaus auch als eine Instanz des Erbarmens, die diejenigen achtet, die täglich im Dilemma stehen zwischen dem was wünschbar wäre und dem was machbar ist, zwischen Sein und Sollen, zwischen Kunst und Leben. Ihnen zu sagen: Liebe den Nächsten. Aber auch dich selbst!

 

Meine Damen und Herren, der große Hippokrates wird häufig mit dem Satz zitiert: „Das Leben ist kurz – die Kunst lang“. Auch dieser Gedanke gilt nicht mehr nur für den ärztlichen Stand sondern für alle, die an der Gesamtorganisation „Krankenhaus“ beteiligt sind. Denn der Aphorismus lautet vollständig:

„Das Leben ist kurz, die Kunst lang,

der günstige Augenblick ist flüchtig,

der Versuch trügerisch, die Entscheidung schwer:

nicht der Arzt allein muss bereit sein das Notwendige zu tun –

ebenso müssen es

der Kranke, die Anwesenden, die äußeren Umstände.“

 

Hinter diese Einsicht führt kein Weg zurück – und das gilt für alle Berufsgruppen, die im Krankenhaus verbunden sind.

So Gott will, mit Geist und Segen.- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

Datum
05.10.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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