6. Juli 2014 - 3. Sonntag nach Trinitatis "Einladung zum Leben"
06. Juli 2014
Predigt über Hes. 18, 1-4. 21-23. 30-32 anlässlich der Wiedereinweihung des südlichen Beichtstuhls in der St. Jacobi Kirche zu Gingst / Rügen
„Einladung zum Leben“
Liebe Gemeinde,
Gott will das Leben. Er gönnt es uns. Er ruft uns dazu auf, sich ihm zuzuwenden und mit seiner Hilfe unser Leben zu leben. Darum geht es: sich Gott zuwenden und mit ihm zu leben.
Um Orientierung zu finden, haben wir Spruchweisheiten entwickelt, die Lebenserfahrung konzentrieren. Dazu gehört auch das Sprichwort, das der Prophet Hesekiel zu Beginn unseres Predigtabschnittes zitiert: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“ (V. 2). Die heutigen Formen dieses Sprichwortes lauten: „Dein Vater ist dein Schicksal; deine Mutter dein Verhängnis!“ und ja, ja, nur allzu häufig ist es auch wahr. „Wie er räuspert, wie er spuckt, das hat er alles seinem Vater abgekuckt.“ Wir übernehmen viel mehr an Verhaltensweisen und Verhaltensmöglichkeiten von unseren Eltern, als uns lieb ist.
Ein gängiges Beispiel dafür sind die Problemlösungsmechanismen, mit denen wir versuchen, unser Leben zu bewältigen. Vielleicht machen sie einmal die Selbstprobe, wenn sie nachher aus diesem Gottesdienst nach Hause gehen. Wie ist Ihre Mutter, Ihr Vater damit umgegangen, wenn sich ihr oder ihm etwas in den Weg gestellt hat, wenn ein Problem aufgetreten ist und nicht mehr alles so glatt lief? Und wie gehen Sie mit Schwierigkeiten um, die sich vor Ihnen plötzlich auftürmen?
Da gibt es die Einen, die beginnen zu schimpfen und zu schreien, manchmal vielleicht sogar zu schlagen, wenn sie nicht wissen, wie sie eine bestimmte unvermutete Herausforderung bewältigen sollen. Andere versuchen einfach dieser neuen Problemlage auszuweichen. Sie verdrängen das Problem. Sie ziehen sich zurück und warten ab, dass es sich von selber löst. Aber natürlich gibt es auch Menschen, die zur aktiven Konfliktbearbeitung fähig sind, z. B. durch erstmaliges genaues Hinschauen und Analysieren, wo das eigentliche Problem denn liegt, so dann durch Aufgliederung des unüberschaubaren Problemknotens in einzelne, überschaubare Schritte oder durch das Aushandeln eines Kompromisses bei anscheinend unüberwindlichen Gegensätzen. Wir wissen, Jungen übernehmen in hohem Maße ihre Problemlösungsmechanismen von ihrem Vater, Mädchen die ihrer Mutter.
Aber noch in einem anderen Sinne können unsere Eltern unser Schicksal sein. Bis heute hängt die Position, die wir in unserer Gesellschaft einmal erreichen, zu einem großen Teil von unseren Eltern ab. Eine Lehrerin berichtete mir dies aus den Erfahrungen in ihrer Schule. Ganz häufig spiegeln die Probleme, die die Kinder haben, die Probleme wider, die schon ihre Eltern hatten. Da ist ein besonders aggressives Kind und dann erfahren die Lehrer, dass schon der Vater wegen verschiedener Delikte ins Gefängnis gekommen ist. Das Tragische an diesen Zusammenhängen scheint zu sein: Sie sind offensichtlich kaum änderbar. Natürlich geben Erzieherinnen und Lehrer Hilfen. Aber sie können die viel dichter und intensiver erfahrenen Belastungen in der Familie der Kinder damit nicht so ohne weiteres ungeschehen machen.
Ja, wir wissen: Gegenwärtiges ist durch Vergangenes belastet. Das gilt sowohl für die Erfahrungen, die Staaten und Völker miteinander machen, als auch die, die Ehepartner miteinander erleben. Und so fragten damals, als der Prophet Hesekiel Anfang des 6. Jahrhunderts im Exil in Babylon auftrat, sich seine Zuhörer: „Ist die Wegführung nach Babylon die große Abrechnung, die wir nun für die Schuld unserer Elterngeneration abzutragen haben?“ Solche Überlegungen kommen in der Geschichte immer wieder vor. Mir haben Menschen in Seelsorgegesprächen erzählt, dass sie sich in den Jahren des Eingesperrtseins in der DDR gefragt haben, warum sie diese Folge der Schuld, die aus den Naziverfehlungen ihrer Elterngeneration herrührten, nun mit ihrem eigenen Leben bezahlen mussten. Wir merken: Das Sprichwort, das der Prophet zitiert, ist uns in seinem Inhalt nicht fremd. „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“. Aber diese Bindung an ein vermeintlich vorgegebenes Schicksal lässt sich aufbrechen. Deswegen redet der Prophet von einer Voraussetzung, einer Möglichkeit und einer Verheißung, die Gott uns gibt, damit unser Leben nicht in diesen Bahnen, die die Generationen vor uns gelegt haben, auf ewig festgelegt ist.
1. Die Voraussetzung: Jede Seele gehört Gott!
Die heutige Lutherübersetzung lässt den Propheten im Namen Gottes sagen: „Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut, wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben“ (V. 4). Und das ist großartig, dass Gott keine Unterschiede macht. Ihm kommt es auf jeden einzelnen Menschen an. Da spielt es keine Rolle, ob die Eltern viel Geld hatten oder ganz arm waren, welche Bildung sie hatten oder welche gesellschaftliche Stellung. Zweifellos ist genau dies gemeint, dass alle Menschen unabhängig von irgendwelchen Sonderungen und Unterschieden Gott gehören. Er ist unser Schöpfer. Deswegen hat er einen uneingeschränkten Anspruch auf unser Leben, wer wir auch sind, woher wir auch kommen, was immer wir mit unserm Leben machen wollen.
Trotzdem gefällt mir die ganz alte Lutherübersetzung von 1534 besser. Luther versucht, den hebräischen Text noch etwas genauer wiederzugeben, wenn er übersetzt: „Denn siehe, alle Seelen sind mein, des Vaters Seele ist sowohl mein als des Sohnes Seele. Welche Seele sündigt, die soll sterben.“ Das Lebendige in jedem Menschen, das uns Gott geschenkt hat, sein Lebensodem, „unsere Seele“, das macht uns vor Gott gleich. Alle Menschen sind angewiesen auf Gottes lebenserhaltende Kraft. Und die haben wir von ihm.
Und weil alle Menschen ihr Leben von Gott haben, deswegen ist Gott und nicht unsere Mutter unser Schicksal. Darin liegt eine unglaubliche Befreiung, dass wir nicht für die Schuld unserer Vorfahren büßen müssen, sondern dass Gott mit uns ein neues Kapitel aufschlägt. Das setzt uns allerdings auch in einen besonderen Stand der Verantwortung. Ich kann und muss für mich selber geradestehen. Weil Gott mir diese Freiheit schenkt, gibt er mir eine Unabhängigkeit allen anderen gegenüber. Selbst, wenn mich meine Geschichte auf meine Vergangenheit, meine Fehler und meine Schuld, meine Sünde und mein Versagen festlegt, gibt es immer noch – und das ist das Zweite – eine wunderbare Möglichkeit, nämlich die Umkehr zum Leben.
2. Eine wunderbare Möglichkeit: Umkehr zum Leben
Wenn wir mit unserem Leben auch bisher in eine falsche Richtung gelaufen sind, dann ist Umkehr doch immer möglich. Der Ruf der Propheten – wie hier Hesekiels –, die Verkündigung Johannes des Täufers, wie auch die Predigt Jesu kommen hierin überein, dass es Veränderung in unserem Leben geben kann: „Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben“ (V. 32). „Denkt um, verändert euer Leben, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!“, sagen Johannes und Jesus. Es geht nicht nur darum, etwas in unserm Leben zu verändern, sondern unser Leben zu verändern. Allerdings ist dies nicht eine einmalige Aufgabe, sondern eine täglich wiederkehrende Gelegenheit. Genau das war die erste der berühmten 95 Thesen, die Martin Luther am 31. Oktober 1517 veröffentlichte: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: ‚Tut Buße‘, so will er, dass das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden eine stete Buße sein soll.“
Eine Hilfe zu einer solchen Buße ist Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende lang die Beichte gewesen. Die Beichte ist die Gelegenheit, unser Leben im Lichte Gottes zu betrachten und dabei zu erkennen, was dem Willen Gottes nicht entspricht. So gibt jede Beichte die Chance zu Umkehr. Wir wissen, dass Martin Luther und Johannes Bugenhagen die Beichte sehr geschätzt haben. Auch bei uns hier in Vorpommern hat es deswegen Beichtstühle gegeben, die noch im 18. Jahrhundert neu errichtet worden sind, wie auch Ihr Beichtstuhl, den wir heute wieder einer gesegneten Nutzung übergeben wollen. Im Grunde ist so ein Beichtstuhl nichts anderes, als ein Ort, in dem es eine ruhige, den Augen anderer entzogene Möglichkeit gibt, im Gespräch das eigene Leben zu bedenken und dabei auch die Versäumnisse und die eigene Sünde wahrzunehmen. Und dann kann diese erkannte und bekannte Schuld vergeben werden. Damit die Zusage gilt: „Wenn sich der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat und hält meine Gesetze und übt Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden.“ (V. 21 f).
In Luthers Kleinem Katechismus, in dem doch wahrscheinlich viele von uns unterwiesen worden sind, gibt es ein Kapitel, das überschrieben ist: „Vom Amt der Schlüssel und von der Beichte“ (EG 806, 6). Hier verweist Luther auf die besondere Vollmacht, die Jesus Christus seiner Kirche und den berufenen Dienern gegeben hat, nämlich die Vollmacht, Sünden zu erlassen oder zu behalten. Natürlich hat kein Diener am Wort diese Vollmacht in sich, sondern nur aufgrund der Beauftragung durch Jesus Christus. So sagt der auferstandene Jesus im 20. Kapitel des Johannesevangeliums: „Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ (V. 20 f). Luther führt dann im Katechismus aus: „Die Beichte begreift zwei Stücke in sich: Eins, dass man die Sünde bekenne, das andere, dass man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger (das ist also die Person, die die Beichte hört) empfange als von Gott selbst und ja nicht daran zweifle, sondern fest glaube, die Sünden seien dadurch vergeben vor Gott im Himmel.“ Luther führt dann weiter aus, dass wir ja im Vaterunser vor Gott uns als Sünder bekennen, auch als Täter der Sünden, die wir selbst noch gar nicht erkannt haben. In der Beichte aber haben wir die Gelegenheit, Gott für die Sünden um Vergebung zu bitten, die uns bewusst sind: „Aber vor dem Beichtiger sollen wir alleine die Sünden bekennen, die wir wissen und fühlen im Herzen.“
Luther wird dann ganz praktisch und schildert, wie ein Beichtgespräch ablaufen kann: „So kannst du zum Beichtiger sprechen: Ich bitte, meine Beichte zu hören und mir die Vergebung zuzusprechen um Gottes Willen.“ Und Luther erläutert weiter: „Hierauf bekenne dich vor Gott aller Sünden schuldig und sprich vor dem Beichthörer aus, was als besondere Sünde und Schuld auf dir liegt. Deine Beichte kannst du mit den Worten schließen: ‚Das alles ist mir leid. Ich bitte um Gnade. Ich will mich bessern.‘“
Darauf soll die Vergebung der Schuld ausgesprochen werden. „Der Beichthörer spricht: ‚Gott sei dir gnädig und stärke deinen Glauben. Amen. Glaubst du auch, dass meine Vergebung Gottes Vergebung ist?‘
Darauf sollst du antworten: ‚Ja, das glaube ich.‘ Darauf spricht wiederum der Beichthörer: ‚Wie du glaubst, so geschehe dir. Und ich, auf Befehl unseres Herrn Jesus Christus, vergebe dir deine Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Gehe hin in Frieden!‘“
Natürlich kann darüber hinaus auch das seelsorgliche Gespräch Trost und Zuspruch zusprechen. Luther betont ausdrücklich, dass dies, was er beschrieben hat, „nur eine Weise der Beichte sein“ soll. So finden wir in unserer Ausgabe des Gesangbuches auch unter den Nummern 792 bis 802 Gebete und liturgische Stücke, die uns helfen, heute zu beichten. Ich hoffe sehr, dass die Gemeinde zu Gingst und vielleicht einige Außenstehende in Zukunft in diesem Beichtstuhl diese Hilfen nutzen.
Es ist sehr mutig von der Gingster Kirchengemeinde, zu versuchen, die alte, über Jahrtausende bewährte Beichtpraxis wieder ins Leben zu rufen. Ich würde mich freuen, wenn dieser Versuch gelingt und viele Menschen frei werden von Sünden, die sie belasten und Orientierung für ihr Leben gewinnen.
3. Eine Verheißung: Gott freut sich über jeden, der umkehrt
Das Alte Testament ist nicht das Neue Testament. Wir erkennen, je weiter die Bibel fortschreitet immer deutlicher, was der wahre Wille Gottes ist. So gibt es im Alten Testament viele Aussagen, die wir auf dem Hintergrund dessen, was wir von Christus gelernt haben, heute so nicht mehr nachvollziehen können. Aber die Menschen mussten langsam lernen, Gott richtig zu verstehen. Sein eigentliches Wesen kommt aber in unserem heutigen Predigtabschnitt des Propheten Hesekiel an verschiedenen Stellen wunderbar zum Ausdruck: „Meinst du, dass ich gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott, der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“ (V.23). Und noch einmal: „Ich habe keinen Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott, der Herr.“ (V. 32). Gott ist eben nicht einfach nur ein unparteiischer Richter, der mit möglicher Weise noch verbundenen Augen eine kalte Gerechtigkeit übt, sondern der liebende Schöpfer, der seine Geschöpfe kennt, liebt und auf den Weg des Lebens führen will. Aus den Gleichnissen Jesu wissen wir, dass Freude im Himmel herrscht über jeden Sünder, der Buße tut.
Es ist nicht schlimm zu fallen, aber es ist furchtbar, nicht wieder aufzustehen. Ja, falsche Dinge zu tun und die Gebote Gottes zu missachten, das ist allgemein menschlich. Es wird erst lebenszerstörend, wenn wir mit unserer Schuld nicht mehr zu Gott kommen, sondern meinen, sie irgendwie unter der Decke halten zu können. Wir lassen dann aus Stolz oder Rechthaberei nicht zu, dass Gott uns unsere Schuld vergibt. Das ist eine Missachtung des Kreuzestod Jesu, der ja für uns gestorben ist, damit unsere Sünden vergeben werden.
Es gehört zur christlichen Sicht des Menschen, dass wir Sünder sind. Jeder Mensch, wir alle, sind schuldig geworden, Väter wie die Söhne, Mütter wie Töchter. Und jede Lüge und jede Treulosigkeit, jede aus Selbstsucht geborene Tat ist eine Störung des Gottesverhältnisses, aber diese Störung kann behoben werden. Und wir werden wieder neu aufgerichtet.
Am Ende gilt: Gott gehört jedes Menschenleben und er möchte, dass wir von Schuld befreit und aufrecht durch das Leben gehen. Dazu helfe euch, liebe Gingster, in Zukunft wieder der heute neu einzuweihende Beichtstuhl.
Amen.