6. Juni 2013 - Hauptkirche St. Petri

6. Juni 2013 - Ökumenischer Gottesdienst zum 15. Bundeskongress der Notfallseelsorge und Krisenintervention

06. Juni 2013 von Kirsten Fehrs

Markus 2, 1-12

Liebe Gemeinde!

 

Da ist ein Sehnen tief in ihm.

Dass das alles nicht passiert wäre. Dass er wieder genau so laufen könnte wie früher. Vor dem furchtbaren Unfall bei „Wetten dass“. Dass es wieder in seinem Körper prickelt – und er ihn fühlt. Damit er allein essen kann. Trinken. Telefonieren.

 

Samuel Koch zeigt mir  - und den dreitausend anderen bei der Bibelarbeit auf dem Kirchentag - ein Bild. Da macht er Handstand auf den Dächern Hamburgs. Sein schlanker Körper ist in direkter Parallele zum Turm des Michel fotografiert. Ein Raunen geht durch den Saal. Ich frage ihn, ob er eigentlich nie Angst hatte. Als Kunstturner. Akrobat. Mir mit meiner Höhenangst würde ja schon schwindelig werden, wenn ich auf eine Kanzel soll. Er lacht sein Lachen – .und erzählt, nicht nur von seinem Unfall und dass er ein komisches Gefühl vorher hatte. Nein er erzählt auch, dass Menschen, die Schweres erleben, ihn anrufen. Ihn kennen lernen wollen. Ihn fragen, warum Gott das zuließe. „Gott hat mir einen freien Willen gegeben“, sagt er, und ich habe furchtbar falsch entschieden.

Natürlich ist da ist ein Sehnen tief in ihm, dass das anders ausgegangen wäre. Aber er  möchte auch annehmen, dass es nun ist wie es ist. Dass er angewiesen ist. Wie eigentlich alle. Gleich welche Ausbildung wir haben, welche Hautfarbe, ob wir Lasten tragen oder italienische Slipper. Wir sind angewiesen auf Nähe und Hoffnungswort, auf Strohhalme, Lachen und Zärtlichkeit, alles, was nur andere einem geben können. Dann kann man auch frei sein im Rollstuhl, sagt Samuel, und es wird auf einmal ganz still im Saal.

 

Da wohnt ein Sehnen  tief in ihm. Danach, dass seine Not sich wendet. Und so tragen ihn seine Freunde kurzerhand auf die Dächer der Stadt. Die vier sind ein beherztes Kriseninterventionsteam. Da wird nicht lange geredet. Und also kracht und klirrt  es und Dachziegel zerbrechen. Die vielen Menschen im Haus, die sich aufgeregt um Jesus scharen, schauen nach oben: Wer stört?, fragen sie. Vorsichtig wird der Gelähmte auf einer Trage hinuntergelassen. Alle kennen sie ihn. Und seine Geschichte. Jesus hört auf zu reden. Störungen haben Vorrang. Und brauchen es, genau angeschaut zu werden. In unserem Leben. Aber auch in unserer Gesellschaft. Manchmal muss man dazu Leuten aufs Dach steigen. Um etwas aufzubrechen. In Gedankengebäuden, Strukturen, Asylgesetzen, im Verharren dessen, was uns unbeweglich macht und heillos.

Störungen sagen Bescheid, dass etwas gehörig nicht stimmt. Ja, viel mehr noch: dass Leben am seidenen Faden hängen kann.

 

Wer wüsste das besser als Sie. Sie, die Sie in der Notfallseelsorge und Krisenintervention ja dauernd mit  der Ausnahmesituation rechnen. Und bei aller Routine und Kompetenz und Erfahrung ja genau wissen, wie anstrengend das auch ist. Jeden Moment auf dem Sprung. Innerlich mit einer Anspannung, im nächsten Moment die totale Krise bewältigen zu müssen. Dinge zu sehen, die sich in einem als Bilder fortsetzen. Todesnachrichten, die einen selbst zum Verstummen bringen. Und lähmen vor Betroffenheit.

Und auf unsere Geschichte geschaut frage ich mich: was ist eigentlich mit den Vieren danach? Nachdem der Gelähmte selbst sein Bett genommen hatte und gegangen war?

 

Vielleicht sind sie auf einen Kongress gefahren. Weil es gut ist, wenn man sich unter den Teams austauscht, die das Tragen gewöhnt sind. Die mitdenken. Die die Lähmung vor-tragen. 40 Referenten etwa und 400 Teilnehmende. Gerade weil es um Grenzsituationen geht, braucht es mindestens vier, die das tragen, was uns selbst erschöpft und erstarrt sein lässt. Vier auch, die einem einmal beherzt ins Oberstübchen steigen und sich auf die Kunst verstehen, von oben zu schauen, zu super-vidieren. Damit man ins eigene Lebenshaus einen Blick wagt. Was einen verstört hat und ängstigt. Ja, und was nach Versöhnung ruft.

 

Und Jesus sprach: deine Sünden sind dir vergeben. Vergebung ist das Schlüsselwort in unserer Geschichte. Für den Gelähmten. Für uns hier. Leicht gesagt und schwer getan?

„Sie immer mit Ihrem Versöhnungsgerede! Es fehlt die Gebrauchsanweisung“, sagte mir mal ein Verzweifelter. Der mit seiner Schuld eben nicht leben konnte. Ich habe darüber viel nachgedacht. Denn obwohl man natürlich ungern des Geredes überführt sein möchte, hat mich vor allem die Verzweiflung dieses Menschen erreicht. Und mit ist blitzartig der Gedanke gekommen, ob  uns nicht manchmal viel mehr die Verzweiflung als die Schuld selbst von Gott trennt.  Weil Verzweiflung die Hoffnung blind macht. Weil sie einen verführt, sich abzufinden mit dem, was ist. Und so ist es mehr eine Frage anstatt einer Gebrauchsanweisung, die mich beschäftigt: Ob nicht beides zusammen gehen muss: Sich zuzugestehen, wo Unfall war und Versäumnis, Trauer und Schuld. Aber sich auch zu fragen, was jetzt ist und wo das ganze Leben hinsoll und die Lust, und ob wir nicht viel mehr diesen Jesus nachgehen sollten, der sagt: es ist nicht vergessen, aber vergeben. Steh auf und geh!

 

Samuel hat am Schluss unserer Bibelarbeit gebetet. Ich danke dir, Gott, für diese Stunde. Das Singen. Für die Techniker, die es schaffen, dass auch Menschen mit einer schwachen Stimme wie ich in einem so großen Saal gehört werden. Und hilf uns, guter Gott, dass wir das Leid, das wir einfach nicht verstehen können, tragen als wäre es ein Freund. Amen

Datum
06.06.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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