6. September 2014 - Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Lebenswelten“ im Rahmen der „Nacht der Kirchen: beherzt!“
06. September 2014
Es gilt das gesprochene Wort
Ich möchte beginnen mit einer kleinen jüdischen Legende. Sie geht so: "Vor seinem Ende sprach Rabbi Sussja: In der kommenden Welt werde ich nicht gefragt werden: Warum bist du nicht Mose gewesen? Die Frage wird lauten: Warum bist du nicht Sussja gewesen?" Jeder Mensch, das will diese Legende sagen, ist vor Gott ein Original. Nicht unbedingt mit einmaligen Eigenschaften, aber mit einer einzigartigen Würde, die ihn liebenswert macht - wenigstens geliebt von Gott. Er muss sich nicht normieren lassen. Niemand darf ihn zwingen, ein anderer zu sein, als er – oder natürlich sie – nun einmal ist. Im 139. Psalm heißt es dazu: "Ich danke dir, Gott, dass ich so wunderbar gemacht bin.“ (Psalm 139,14)
Zum Menschsein unbedingt dazu gehört natürlich der Körper, auch er einzigartig, jeder für sich ein wenig anders als all die anderen vielen Körper. Ich habe es nie verstanden, warum man so großes Aufhebens macht um Sätze wie: "Es gibt keine zwei Menschen auf der Welt, die genau dieselben Fingerabdrücke haben" oder: "Schon eine winzige Hautschuppe lässt sich aufgrund einer DNA-Analyse nur einem einzigen Menschen zuordnen." Auch ohne Lupe und Labor weiß ich doch, dass jeder Mensch so nur einmal vorkommt. Der Augenschein gibt's doch schon her! Das sehe ich, wenn ich Sie alle hier anschaue, und genau das können wir auch an den Fotos hier sehen, an den Lebenswelten. Hundert einzigartige Menschen sind hier in Lebensgröße dargestellt, und das Wort "Lebensgröße" meine ich durchaus in doppelter Bedeutung: Die Größe eines individuellen Lebens zeigt sich in diesen wunderbar lebendigen Bildern.
Zu verdanken haben wir diese Schau verschiedenen Umständen. Am Anfang stand das große Plakat am Haus gegenüber, das einen menschlichen Kopf zeigt: die Haut abgezogen, der Schädel aufgesägt, die Augen weit aufgerissen. Da ich oben im 1. Stock arbeite, habe ich über Monate hin jeden Tag diesen namenlosen Toten vor Augen, der für die Ausstellung „Körperwelten – eine Herzenssache“ wirbt, die seit Mai dort gegenüber im Souterrain gezeigt wird. Die Ausstellungsmacher versprechen einen „unvergesslichen Blick in Ihr Innenleben, auf einzelne Organfunktionen und die häufigsten Erkrankungen“. Seit 17 Jahren tourt die Leichen-Schau „Körperwelten“ in wechselnder Ausstattung durch Deutschland.
Die Ausstellung ist erstaunlich schlecht besucht – man sieht größere Gruppen meist nur in Gestalt von Biologie-Leistungskursen oder Schulklassen. Offenbar langweilt irgendwann auch der größte Tabubruch. Doch es gibt auch Menschen, die Anstoß daran nehmen, dass hier Tote zur Schau gestellt werden. Ich gehöre dazu. Warum eigentlich? Wer kann schon etwas haben gegen die „Aufklärung“, die dort angeblich stattfindet? Man könnte einwenden: Hier wird die Totenruhe auf gröbste Weise gestört. Und das stimmt ja auch. Aber so einfach ist das nicht: Was ist, wenn die betroffenen Menschen zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt haben?
Ich glaube, mein Unbehagen hängt mit der Art der Ausstellung zusammen. Sie nutzt die Toten als Objekt. Sie präsentiert die nackten und zerteilten Menschen als „Körpermaschinen“ und spricht ihnen damit letztlich das Subjektsein ab, das ihnen doch auch nach dem Tode noch bleibt. Das Herz, das der Untertitel „eine Herzenssache“ verspricht, wird auf den Muskel reduziert. Ein echtes Herz, das in einem Menschen wuchs und ihn am Leben hielt, wird zum Ausstellungsstück. Der Mensch ist aber Körper und Seele in einem – das ist es doch, wenn wir vom Menschen als „Gottes Ebenbild“ sprechen. Man wird das Einzigartige im Menschen nicht finden, wenn man ihn seziert.
Kurz und gut, eine kleine Gruppe hier im Ökumenischen Forum hat sich zusammengetan, Frau Heider-Rottwilm, Frau Massow, Herr Dr. Kroll, Frau Severin-Kaiser – den Ball aufgenommen hat dann Frau Schmidt. Es sollte etwas anderes werden als ein schlichter Protest; es sollte ein kluges und eindrückliches Gegenbild entstehen. Ein beherztes Bekenntnis zum Leben, wenn man so will.
Mit tatkräftiger Unterstützung von Pastor Carsten Hokema, der so eine ähnliche Aktion bereits einmal in seiner freikirchlichen Gemeinde in Bochum veranstaltet hat, wurden hier die "Lebenswelten" verwirklicht. An einem Tag wurden mehr oder weniger zufällig vorbeikommende Passanten aufgefordert, sich selbst, ihre Person, ihr Leben zu zeigen, zu inszenieren. Dabei halfen ausliegende Requisiten. Und dann wurde das Resultat im Bild festgehalten, so wie Sie es hier sehen können.
Jedes Bild hat eine eigene Ausstrahlung. Und man denkt sofort über sie nach. Und über ihre Botschaften: Die Mutter mit dem Kind im Tragetuch, das sie wie einen kleinen grünen Augapfel „behütet“; der Mann im Anzug, dessen Gesicht glückliche Warmherzigkeit und ernste Geradlinigkeit in ganz besonderer Weise verbindet; die alte Dame mit Nordic-Walking-Stöckern und Sonnenbrille, die sagt: „Alter, das ist ein Potential!“; der vielleicht elfjährige Junge mit einer gefühlt dreimal so großen E-Gitarre, der in die Welt lächelt: „Man wächst mit seinen Aufgaben!“; die springende Frau und die Ästhetik dabei; das Paar, bei dem sich Welten küssen.
Mir gefällt die Lebensfreude, die sich in jedem Bild zeigt. Und die Schönheit, die doch jedem der abgebildeten Menschen zu eigen ist. Sie hat nur wenig zu tun mit Alter, Gewicht, Kleidung oder Körperhaltung. Auch Ausstrahlung ist nicht unbedingt das richtige Wort. Es ist eben genau das, was hervortritt, wenn Menschen sich so zeigen dürfen, wie sie gerne sein möchten. Es ist Angenommensein und Würde. Und aus allen Gesichtern spricht das, was der Psalm so unvergleichlich schön in Worte fasst: "Ich danke dir, Gott, dass ich so wunderbar gemacht bin."