9. Dezember 2014 - Adventsfeier des Landfrauenvereins Reinfeld
09. Dezember 2014
Liebe Landfrauen, liebe Schwestern,
Ich danke Ihnen sehr für die Einladung zu Ihrer Adventsfeier – und dass ich Sie kennen lernen darf und zu Ihnen reden. Schätze ich doch die Landfrauenvereine immer schon als Bildungseinrichtung und Gemeinschaftsorte. Und gerade in dieser Zeit als Ort, zur Besinnung zu kommen.
Sie haben mich gebeten, zu einem aktuellen Thema zu reden – und da liegt natürlich zweierlei obenauf: Zum einen all die Gewalt und Kriege – im Irak, Syrien, in der Ukraine. 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten und 75 Jahre nach dem des Zweiten Weltkrieges scheint die Welt mehr denn je von Gewaltexzessen durchzogen – und der Engelgesang vom „Friede auf Erden“ mag im Moment nicht so recht Hoffnung machen. Kein so schönes Thema für eine Adventsfeier, oder?
Zum zweiten, damit zusammenhängend, haben wir in diesem Jahr eine enorm steigende Zahl von Flüchtlingen, eben aus jenen genannten Ländern, die uns alle – nicht nur Politik, sondern auch Zivilgesellschaft - vor Herausforderungen stellt. In Hamburg suchen monatlich 600 Menschen Zuflucht. Sie sind geflohen vor Verfolgung wegen ihres Glaubens, vor Bürgerkrieg, Vergewaltigung und Zwangsverheiratung mit IS-Kämpfern, sie sind Getriebene und Vertriebene. Auf der Suche nach Ruhe. Nach Wärme in mehrerlei Hinsicht. Vielleicht auch nach einer neuen Heimat. Wer könnte das nicht verstehen?
Heimat – das brauchen wir alle, um leben zu können. Heimat ist Menschenrecht. Und so aktuell es ist, passt das Thema gerade auch in die Advents- und Weihnachtszeit. Ist es doch die Zeit fürs Ankommen. Weihnachten, da kommen doch alle nach Haus. In ihre Familien. Auch deshalb, das wissen immerhin noch die meisten, weil Gottes Sohn in dieser Welt Wohnung nimmt. In einer heiligen Familie, die ob ihrer Lebensbedingungen heute jedes Jugendamt auf den Plan rufen würde. Die Heimat des göttlichen Kindes ist ein Armenhaus. Die zugige Ungastlichkeit. Die Existenz eines Flüchtlings vom ersten Atemzug an. So gesehen kommt Weihnachten Gott an die Grenzen des Menschlichen. Immer dorthin, wo Menschen ihrerseits auf der Flucht sind und auf der Suche nach Gerechtigkeit und Frieden. Dorthin auch, wo Menschen persönlich an der Grenze sind. Denn in solchen Grenzsituationen, die wir alle kennen, wird man sich doch besonders dessen bewusst, was wirklich trägt. Da geht es existentiell um das Eigentliche des Lebens. Um die Liebe. Die Nähe eines anderen. Anerkennung. Wir Theologen sagen dazu: An der Grenze beginnt Erkenntnis. Zuerst die, dass wir Gast auf dieser Erde sind. Alle sind wir das, an jedem Ort der Welt. Gast mit dem Anspruch, wie ein Gast behandelt zu werden, also mit Menschenwürde. Als jemand, der geborgen sein darf, unbedroht, lebensfroh. Mit einer Heimat eben. Und deren typischen Ritualen. Wie Landfrauen-Adventsfeiern. In denen man zur Ruhe kommt, die alten Lieder singt und Geschichten hört.
Nun denn: „Pelle zieht aus“ von Astrid Lindgren gehört zu den ältesten und schönsten Heimatgeschichten des Advent. So fein nachempfunden ist da die kleine Kinderseele von Pelle. Und diese Seele ist zunächst schwer gekränkt. Der Vater hat ihn nämlich zu Unrecht beschuldigt. Deshalb wird Pelle jetzt für IMMER von zu Hause ausziehen, ja sogar bis nach Weihnachten. Vielleicht fährt er nach Afrika, und wenn er dann von einem Löwen gefressen wird, werden sie alle so traurig sein. Ja, so ist das. Erst einmal aber will er nach Herzhausen umziehen. Das ist das kleine Häuschen im Garten mit dem Herz darin. Da soll es gar nicht so schlecht sein. Pelle packt seine Tüte mit seinem Ball, der Mundharmonika und „Hänschen im Blaubeerwald“, alles halt, was der Mensch wirklich braucht. Was für ein Bild, als die kleine traurige Gestalt in hellblauem Wintermantel durch den Schnee stapft und hinter der Tür mit dem Herzen verschwindet! Kurze Zeit darauf sieht die Mutter ein kleines Licht im Fenster und hört Pelle leise spielen: Nun, ade, du mein lieb Heimatland.
Es ist eine in ihrer Komik auch berührende Geschichte. Denn ob Kinder- oder Erwachsenen-Seele: Es geht darum, wie man sich mit seiner ganzen Liebe und Verletzung, die sich in einem angesammelt hat, wie man sich trotz all des Unrechtes in der Welt mit seinem Herzen beheimaten kann. Wie man einen Ort findet – und da gibt es sicherlich gemütlichere Orte als das tatsächliche Herzhausen – wie man einen Ort findet, an dem man sich geborgen fühlt. Wo man mit Menschen zusammen lebt, die man liebt, die einen tragen und manchmal auch ertragen. Heimat ist etwas unerhört Wertvolles. Sie ist sozusagen das Haus fürs Herz. Da darf ich sein, die ich bin. Heimat ist mehr als die Landschaft, in die hinein ich geboren bin und mehr als die Nation, zu der ich gehöre. So schön beides sein mag, mit einer Muttersprache in einem Vaterland beheimatet zu sein, Heimat reicht doch an eine tiefere Schicht. Sie geht an den Ursprung der Existenz. Und deshalb tut es weh, Heimat zu verlieren. Nicht wieder heimkommen, nach Haus kommen zu können, ist ein ganz tiefer und schneidender Verlust eines Teiles der eigenen Geschichte, ist im wahrsten Sinne Herz-Schmerz.
Kein Zufall , dass die Heimatfilme der 50er Jahre die verlorene Heimat geradezu glorifiziert haben. Achja, die gute alte Heimat, hat man geseufzt. Mit Sonja Ziemann, Rudolf Prack und der immer gleichen Bergkulisse.
Dabei war´s doch in der Nachkriegszeit genau das Gegenteil. Da veränderte sich die Welt für alle rapide. Da wurde fast jedes Dorf heftig aufgewühlt und aufgemischt. Auch durch die große Zahl der Flüchtlinge, die Heimatvertriebenen. Meine Familie, nach traumatischer Flucht im Mai 1945 in Schleswig-Holstein gelandet, weiß noch genau zu erzählen, wie beschämt sie sich fühlten.–Total abgerissen, ausgehungert, teilweise mit großer Abneigung behandelt. Und wie dankbar war man für Höflichkeit, Gesten des Anstandes, Hilfe! Etwa dass jeden Morgen ein Glas frischer Milch vor der Tür gestanden hat und dass der Bauer extra ein paar große Kartoffeln auf dem Acker hat liegen lassen. Man hat in dieser Zeit Freundschaften geschlossen, die durch Dick und Dünn trugen. Hunderttausenden ist es so ergangen. Sie haben – früher oder später – hier eine neue Heimat gefunden. Und das alles zusammen heißt ja: Heimat ist nichts Statisches. Sie kann sich verändern. Das ursprüngliche Zuhause kann zur Fremde werden, und ein unbekannter Ort zur zweiten Heimat. Immer aber wird zur Heimat ein Ort nur dann, wenn das Herz zum Haus wird, also Zuneigung, Freundschaft und Achtung ein Bleiberecht bekommen.
Und ich sehe Andreas vor mir. Er ist einer von 80 libyschen Flüchtlingen, die vor einem Jahr monatelang in der St. Pauli-Kirche in Hamburg geschlafen haben. Seine Flucht war traumatisch, er weiß, was es heißt, in ein kleines Boot gesetzt zu werden und täglich Todesangst zu haben. In ihm kämpfen die Schatten seiner Fluchtgeschichte immer noch mit seinem sonst so sonnigen Gemüt. Auch jetzt noch, während er glücklich eine Arbeitserlaubnis und Arbeit bekommen hat und mit guter Aussicht auf ein Bleiberecht hofft. Die über hundert Ehrenamtlichen, die über fast ein Jahr mit so viel Herz für ihre afrikanischen Gäste gesorgt haben – afrikanisches Essen kochen, waschen, mit ihnen Fahrräder reparieren, Deutsch unterrichten, Babysachen und Schuhe organisieren – sie teilen auch diese Ängste, heimatlos zu bleiben.
Und dieses Teilen-Können, sowohl der schweren als auch der schönen Erlebnisse – dieses Teilen-Können macht einen Ort zur Heimat. Weil nämlich auch sie damit Einzug hält: die Nächstenliebe. Ohne Ansehen der Person. Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst. Die Zustimmung in vielen Teilen der Stadt, ja im ganzen Land war ein Hinweis, dass die Hilfe der Kirche als total richtig empfunden wurde. Als sinnhaft und einfach gut. Weil man konkret etwas zur Humanität beitragen kann und konnte. So gibt es zahlreiche anrührende Geschichten in St. Pauli und Co. Beispielsweise von der Klasse 10 der Stadtteilschule neben der Kirche. Ca 2/3 der Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund. Vor allem aber haben sie Herz. Als es im letzten Herbst drohte zu kalt in der Kirche zu werden, schrieben sie mir einen Brief. Die Afrikaner nebenan seien sehr, sehr nett. Und sie würden sehr leiden, auch dass sie aus der Kirche heraus verhaftet werden könnten. Sie, die Zehntklässler, würden gern ihre Turnhalle als Winterquartier zur Verfügung stellen, und ob ich nicht die Turnhalle segnen könnte, damit die Flüchtlinge dort sicher seien? Sie würden einem Gespräch mit Freude entgegensehen.
Es war eine Begegnung der besonderen Art. Weil sie alle – black und white together – überwinden wollten, was sie verstört und traurig gemacht; sie wollten dem Leiden mit Segen begegnen. Eben nicht länger zuschauen, wie Flüchtlinge vor den Augen der ganzen Welt an den Außengrenzen Europas grauenvoll untergehen. Sondern sie wollen ihnen sagen: „Willkommen in diesem, meinem (!) Land“.
Und die Afrikaner beantworten dies mit Dankbarkeit. Ich habe ja von Anfang an Kontakt zu ihnen gehabt, und ich war immer wieder angetan von ihrer Friedlichkeit, ihrer Integrität, ja auch von ihrem Willen, sich Hamburg zu ihrer Heimat zu machen. "Ich bin so jung, ich habe Träume, ich habe Pläne, ich will lernen", sagte Andreas. Ich frage mich: Ist das verkehrt?
Nein, sagen die vielen Herzensmenschen, die sich ihrer angenommen haben. Nein, sagen überhaupt immer mehr Menschen in Deutschland, die sensibel geworden sind und ihre Hilfe anbieten. Denn die letzten Monate und Jahre haben gezeigt: Verkehrt ist die Welt vor allem in dem jetzigen Asylrecht. Denn letztlich schiebt es mit einem Wust schwer verständlicher Gesetzestexte die Menschen hin- und her. Und zwar an der Menschlichkeit vorbei. An der grauenvollen Gewalt der Diktaturen und der IS-Kämpfer vorbei. An den Möglichkeiten der Mittelmeerstaaten vorbei. Nur nicht vorbei am Profitdenken von Schleppern und Schleusern.
Es wird Zeit, dass wir hier umdenken. Das heißt: dass wir uns zum einen konkret in der Situation vor Ort um die Menschen kümmern, die sich nach Heimat sehnen. Herzhausen ist überall, in München, Berlin, Hamburg, Lübeck, in Reinfeld, in Gudow. Gerade das großartige Willkommensprojekt in Gudow zeigt: Es ist dran, als Kirche gemeinsam mit Stadt und Dorf und Landfrauen als der Bildungsinstitution auf dem Lande zu zeigen, wie wir auf Mitmenschlichkeit halten und auf Toleranz. Und das heißt: den Fremden Gastfreundschaft auch in den Gedanken zu gewähren. Gemeinsam müssen wir an der Seite der Flüchtlinge stehen, wissend, dass wir hier kein Weltproblem lösen können. Als Haupt- und Ehrenamtliche aus Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechtsinitiativen, Feuerwehr, Landfrauen und Kirchen haben wir einen gemeinsamen Auftrag: nämlich zu geben, was viele von ihnen verloren haben: Hoffnung. Es gibt viel zu viele hoffnungslose Menschen in unserer Gesellschaft!
Deshalb jedes Jahr wieder: Gott will bei uns wohnen – in diesem kleinen Kind. So nackt und bloß in der zugigen Krippe, so wehrlos weiß es nämlich, worauf es wirklich ankommt. Und sagt mit seiner ganzen Existenz: Entwaffnet euch! Frieden hat etwas damit zu tun, der Hoffnung auch innerlich eine Heimat zu geben. In und mit dieser Hoffnung andere zu halten und sich zu verschenken. Sich zu verschenken mit der unaufhörlichen Sehnsucht nach Menschenrecht und Liebeswort.
In dieser Zeit der Geschichten wird dies besonders schön deutlich in der Anekdote vom kleinen Wirt – sie soll Abschluss dieses Vortrages sein: Der kleine Tim springt beim Krippenspiel für den erkrankten Wirt ein. Das einzige, was man ihm noch sagen kann ist, dass er immer Nein sagen soll, wenn er etwas gefragt wird. Nun denn: Maria und Josef erreichen müden Schrittes die Herberge und fragen: „Habt Ihr ein Zimmer frei?“ Antwort vom kleinen Wirt: „Aber ja!“ Und als nach dem ersten Schock der verzweifelte Josef entgegnet: „Ihr lügt!“ antwortet er warmherzig: „Nein, nein, kommt nur herein!“ Das Chaos wird zwar während der Aufführung noch irgendwie geordnet. Doch danach, hinter der Bühne geht‘s dann zur Sache. Der Josef hätte so eine traurige Stimme gehabt, verteidigt Tim sich gegen die wütenden Mitspieler, da hätte er nicht nein sagen können und zu Hause hätten sie auch immer Platz für alle, notfalls auf der Luftmatratze. Nach etlichen Ermahnungen schließlich gelobt er Besserung. Dennoch getraut sich bei der zweiten Aufführung das hochheilige Paar schon gar nicht recht an die Herberge heran. Als sie zaghaft klopfen, bleibt alles still. Maria entringt sich ein verzweifeltes Schluchzen. Schließlich ruft Josef mit lauter Stimme: „Hier ist wohl kein Zimmer frei?“ Und in die atemlose Stille hinein ertönt ein leises, aber eindeutiges: „Doch.“
In diesem ordnungswidrigen kleinen „Doch!“ steckt die gesamte Weihnachtsbotschaft. Denn an Weihnachten stehen wir nicht vor verschlossener Tür, sondern sind von Herzen willkommen. Mit offenen Armen nimmt Gott uns auf, samt dem Lebenspäckchen, das wir tragen. Samt unserem Glück und unserer Trauer vom vergangenen Jahr. Samt unseren Nöten und Hoffnungen. All dies hat Raum in der Herberge; wir können zur Ruhe kommen. Wir müssen hier nun nichts mehr erreichen – außer uns selbst. Und unsere neuen Hoffnungen.
Übrigens, liebe Schwestern, auch für Tim hat sich seine Hoffnung erfüllt. Man hatte ein Einsehen mit seiner Herzlichkeit und hat ihn zum Engel befördert. So hat er denn manch Halleluja gesungen und konnte einfach nicht aufhören damit, glücklich, endlich am richtigen Platz im Leben angekommen zu sein.