9. November 2014 - Dom zu Greifswald

9. November 2014 - Gottesdienst zum 25. Jahrestag des Mauerfalls

09. November 2014 von Kirsten Fehrs

Lukas 17, 20-24

Liebe Domgemeinde zu Greifswald,

an diesem Ort zu diesem Datum predigen zu dürfen, empfinde ich als unermesslich große Ehre. Wer bin ich, habe ich gedacht, es könnten doch wahrlich andere auf dieser Kanzel stehen und aus berufenerem Munde Zeugnis geben, um die friedliche Revolution zu würdigen. Doch zugleich hat es mich so gefreut, dass die Greifswalder sofort diese Kanzel-tauschidee der Bischöfe in der Nordkirche aufgenommen und mich eingeladen haben! In welcher Landeskirche in Deutschland hätte es näher gelegen, dass die Geschichten aus Ost und West gerade heute zusammengebracht, zusammengedacht und miteinander geteilt werden. Authentisch, so wie wir eben sind, mit unseren jeweiligen Erinnerungen, Bildern, Deutungen und Emotionen.

Es waren derer so viele! Hüben wie drüben, in aller Unterschiedlichkeit. Ich war als „Wessi“, die 1961 gerade einmal einen Monat nach dem Bau der Mauer geboren wurde, an diesem 9. November so überwältigt und fassungslos, konnte kaum glauben, was da geschah. Und stolz war ich auf die Menschen dort auf den Straßen. Eindringlich treffend dazu Worte des Dichters Reiner Kunze – ein sprachliches Denkmal des Mutes der

 

DEMONSTRANTEN

 

In der faust

eine Kerze

 

Für den Sturz!

 

Bedacht,

dass aufs straßenpflaster

kein Wachs tropft

 

Niemand

Soll stürzen

 

(aus: Reiner Kunze, ein tag auf dieser Erde. gedichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 59)

 

Kunze bringt es auf den Punkt: Niemand stürzt, kein Mensch. Aber die Mauer. Sie stürzt durch Menschen mit Mut. Und durch Kerzen und Gebete. Welch‘ Symbol sind diese Kerzen in den schützenden Fäusten! Aus den Friedensgebeten, aus den Kirchen in Leipzig, in Schwerin, in Stralsund und hier in Greifswald tragen Tausende sie vorsichtig heraus auf die Straße. Wie haben wir im Westen mitgebangt und gehofft, dass das Licht nicht wieder zertreten wird! Endlich Licht gegen die Finsternis totalitärer Gewalt. In den Kirchen beginnt‘s, was sich auf den Straßen fortsetzt. Sie sind Schutzräume. Hier wird offen geredet, hier bekommen Angst, Sehnsucht und Beklommenheit einen Namen. Hier gibt‘s immer wieder Rückenstärkung für den Widerstand ohne Gewalt.

 

Mir ging damals bei all den Bildern von den Montagsdemonstrationen nach, wie nackt und bloß einen die Angst vor Willkür machen kann. Aber auch, wie das gemeinsame, friedliche Aufbegehren Angst zu überwinden hilft! Immer mehr Menschen mischen sich ein. Die Luft brennt. Und es stand im Herbst 89 doch sehr auf Messers Schneide, oder? Was, wenn dem erstaunlich unsortierten Schabowski auf der Pressekonferenz nicht das alles umstürzende Wort „unverzüglich“ herausgerutscht wäre? Oder am 9. Oktober in Leipzig: Was, wenn auch nur einer in die Menge der 70.000 Demonstranten hinein geschossen hätte? Doch kein Schuss fällt. Stattdessen brennen Kerzen in friedlichen Fäusten von Christen und Nichtchristen, Akademikern und Arbeitern, Alten und Jungen. Sie rufen: Wir sind das Volk! Und: Keine Gewalt! Sie glauben daran. Und die Mauer fällt.

 

Was für eine Geschichte. So treffend genannt: die friedliche Revolution. Ja, und, liebe Gemeinde – war es nicht auch ein Wunder?! Unfassbar, wie jedes Wunder. Denn bei allem Respekt vor religiöser Distanz: jeder Mensch war doch im Innersten berührt und hat gefühlt, dass hier eine Macht am Wirken war, die das Menschliche sprengt. Göttliche Gnade lebensnah, so empfand ich es.

 

Sicher, es bahnte sich über mehrere Monate an, auch hier in Greifswald. Im Mai 1989 der Zorn über die gefälschten Kommunalwahlen. Am 11. Juni der äußerst umstrittene Dombesuch Erich Honeckers. Am 18. Oktober dann das erste Friedensgebet hier im Dom, just an dem Tag, an dem Honecker zurücktrat. Weitere Friedensgebete folgten, einen „Mut-Monat“ haben Sie, lieber Bruder Gürtler, den Oktober 1989 genannt. So ging es weiter, schon bald nach dem 9. November wurde hier in Greifswald begonnen, die Stasi-Akten zu sichern. Die erste freie Wahl dann am 18. März 1990.

 

Was müssen Ihnen, liebe Gemeinde, bei all diesen Stichworten für Bilder durch den Kopf gehen! Etwa davon, wo Sie waren an diesem Abend des 9. November (überhaupt hat das ja kaum jemand vergessen, der alt genug war). Es gibt wunderschöne Geschichten, nicht nur aus Berlin. Von tanzenden Menschen, die sich in die Arme fallen, Spaliere an den Grenzübergängen, die den Trabbis entgegenfeiern, Familien, die sich wieder finden mit all ihren Brüchen und all ihrem Glück.

Ich war und bin überzeugt: Gott war mitten unter ihnen. Unter ihnen, die sich ein Herz gefasst hatten. Unter ihnen, die sich nicht mehr mit brutaler Stasigewalt und den Demütigungen abfinden wollten, sondern aufstehen, immer klarer. Mutiger. Mit Geduld und Ungeduld.

 

Es wird aber der Tag kommen, da werden sie begehren….“, heißt es im Evangelium. Und: siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“, sagt Jesus. Siehe! Das Wörtchen hat es in sich. Denn zum Sehen der ganzen Wirklichkeit braucht es nicht allein wache Augen. Sondern ein berührbares Herz. Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man‘s – quasi aus der Distanz – beobachten kann. Nein, es mitten unter, es ist in euch. Unberechenbar. Blitzartig. Es ist da, wenn dein Herz brennt, weil du etwas glaubst, hoffst, weil du liebst. Und es ist da, wenn du dich für die, die du liebst, riskierst.

 

Der Evangelist Lukas liebt den Begriff vom Reich Gottes. In ihm sieht er all das zusammengefasst, was Jesus für ihn ist und was er für uns sein will: Einer, der Frieden stiftet, vor Dämonen rettet, einer, der den Nächsten liebt und die Freiheit und ihren Feind. Einer, der die richtigen Worte findet und Gesten, die aufrichten, weil sie einen erreichen. Tief innen, im Herzen. Und so bedeutet das Reich Gottes für Lukas großen Trost. Denn er schreibt sein Evangelium zu einer Zeit, als den Menschen die Gräuel des jüdischen Krieges noch tief in der Seele stecken. Er sieht traumatisierte Menschen vor sich, die mit dem Schrecken nicht fertig werden. Menschen mit der Angst davor, was kommen wird.

 

„In der Welt habt ihr Angst, doch meinen Frieden gebe ich euch“, sagt Jesus. Seine Botschaft ist ein einziger, friedlicher Protest gegen die Angst. Weiß er doch, dass Menschen, die innerlich gefangen sind, nicht entdecken können, was sie stärkt und frei macht. Und deshalb erzählt er ihnen vom Reich Gottes. Es gibt mehr als das, was jetzt ist, sagt er ihnen damit. Es gibt ein Darüberhinaus. Sieh hin! Über deinen Schrecken hinaus. Über deine Traurigkeit, deine Wut hinaus. Aber auch über deinen Alltag, deine Unzufriedenheit, deine Eile, deine Sorge, durch die Woche zu kommen, über das kleine Karo und all die kleinen Zeiten, die es zu bestehen gilt, über all das hinaus gibt es die Erwartung des Großen, die Erwartunggroßer Zeiten. Welch‘ Katastrophe, liebe Gemeinde, würden wir diese Zukunft vergessen und die Gegenwart verewigen. Dann ginge ja alles weiter wie bisher!

 

Nein, es gibt so vieles, was wir jetzt noch nicht sehen können, aber trotzdem unseren Glauben braucht: Eine Gesellschaft etwa, die dem Flüchtling mit Freundschaft entgegen kommt, und zwar allerorten, gerade doch in unserem Land! Ein Weltenhaus, in dem den Kriegstreibern und religiösen Fanatikern die Tür gewiesen wird. Eine Kirche, die mutig, viel mutiger noch aufsteht und dafür eintritt, dass Schwerter zu Pflugscharen werden. Eindrücklich, liebe Gemeinde, wie diese alte biblische Vision, die die Menschen auch 1989 zum gewaltfreien Widerstand ermutigt hat, mit diesem Kunstwerk hier im Altarraum sichtbar wird. Möge es auf seiner Reise nun durch die Nordkirche viele Menschen dazu beflügeln, Demonstranten einer unaufgebbaren Friedenssehnsucht zu sein!

 

Mit Kerzen und Gebeten für das Leben demonstrieren, um Gottes willen. Christus hat uns eben nicht ohne Aufgabe gelassen: Er hat uns mit seinem ganzen Sein gelehrt, dass man Gewalt, Angst und Traumata nicht unbeachtet lassen darf. Dass man die Opfer nicht vergessen darf, wenn man keine neuen Täter will. Gerade im Gedenken, im Erinnern steckt doch vitale Kraft, das Leben zu wollen! Und Zukunft.

So wie es im Herbst 1989 ja auch zu erleben war: Da war doch eine sagenhafte Leidenschaft fürs Leben zu spüren! Eine Leidenschaft für die freie Reise jenseits der Grenze, die andere gesetzt hatten. Mein Mann und ich haben das auf einer Studienreise 1989 nach Prag hautnah miterlebt. 30. September. Wir schauten gebannt vom Hradschin hinunter auf die über und über mit Menschen gefüllte deutsche Botschaft. Tausende auf engstem Raum. Die Stimmung war angespannt, die Straßen gesäumt von ausgeschlachteten Trabbis. Endlich tritt Genscher auf den Balkon. „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise …“. Der Schrei, der diese Worte zu dem berühmtesten Halbsatz machte, dieser Freudenschrei Tausender hat die ganze Stadt innehalten lassen. Es war, als wäre für eine kleine Zeit die Welt aus den Angeln gehoben. Ein historischer Moment, wir spürten es sofort. Freiheit ist die einzige, die zählt.

 

Tags darauf gehen wir in das jüdische Viertel in Prag. Eine Achterbahn der Gefühle. Der Euphorie folgt der Schrecken über die große Schuld. Das jüdische Viertel in Prag ist fast unzerstört geblieben. Denn Hitler, so sein zynisches Diktum, wollte dieses Viertel zum Museum einer ausgelöschten Rasse machen. Wir sehen die Gräber, die Gedenkstätte mit den unzähligen Namen der Ermordeten, und wir sehen Bilder, die Kinder in Theresienstadt kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz gemalt haben. Da war keine Freiheit mehr. Keine Zukunft.

 

Die Geschichte unseres Volkes holt uns ein.

So und so.

An einem Tag wie heute ist es geradezu unsere Aufgabe, liebe Gemeinde, uns von ihr einholen zu lassen. So dass wir innehalten. Und auch der jüdischen Männer, Frauen, Kinder gedenken, die am 9. November 1938 dem Rassenwahn des Naziregimes zum Opfer gefallen sind. Wir gedenken ihrer in Berlin, später in Prag, Auschwitz, an so vielen Orten. Wir gedenken ihrer, die keine Leidenschaft mehr leben konnten – die nichts mehr hoffen, oft auch nichts mehr glauben konnten und die keinen Menschen mehr lieben durften. Wir gedenken ihrer und hören damit ihre Mahnung zum Schalom.

 

Schalom! Unsere Geschichte schreibt dies in unser jeder Lebensbuch: Jedes Volk auf dieser Erde braucht eine Heimat mit Menschenrecht und Freiheit. Ein Reich, wie es das Evangelium in unsere Gegenwart hineinliebt und hineinerinnert. Ein Reich, in dem es keine Mauern der Abgrenzung gibt und Feindschaft der Verschiedenen. Ein Reich ohne Stacheldraht zwischen Ost und West, Arm und Reich, zwischen Muslimen, Juden und Christen, ein Reich ohne eine schmerzhafte Mauer, wie sie derzeit zwischen Israel und Palästina wieder wächst. Dafür aber ein Reich mit schützenden Mauern, die ein sicheres Zuhause geben, gutes Leben, Brot und Arbeit. Wie aber, liebe Gemeinde, schaffen wir das: Eine Heimat, ein Haus Deutschland, ohne Ossis und Wessis – es ist ja längst noch nicht fertig? Wie schaffen wir das: Ein Haus Europa und keine Festung, vor der Tausende Flüchtlinge ihr Leben lassen? Ein Haus auf dieser Welt und kein Armenhaus im Süden? Ein Haus, (griechisch =) Ökumene, in dem wir leidenschaftlich füreinander beten, miteinander handeln und den Frieden in die Wirklichkeit hinein hoffen?!

 

Wir brauchen Gott dazu. In unserer Mitte. Licht und klar. Dazu gilt es zu stehen! Gerade jetzt in diesen Zeiten, wo man allerorten wieder auf die Kraft der Waffen setzt. Welche Kraft steckt dagegen in Menschen, die Christus in ihrer Mitte wissen! Wer sich von ihm geachtet weiß, muss nicht einsteigen in all die Abwertungen und Entwertungen. Der kann sich öffnen. Auch für die großen Erwartungen. „Schwerter zu Pflugscharen“ – diese prophetische Vision will doch ungebrochen auch heute zu Widerstand befreien. Deshalb müssen wir sie erinnern, immer wieder, gerade angesichts von Feindschaft und Verfolgung. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, sagt Micha, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock wohnen, und niemand wird sie schrecken.“

 

Ich wünsche unserem Land und ich wünsche unserer Kirche diese visionäre, vitale Friedenskraft und dieses Gottvertrauen. Denn gerade wir als Kirche können doch davon erzählen, dass Wunder geschehen! Mit Kerzen und Gebeten für eine menschlichere Welt. Schalom, liebe Schwestern und Brüder. Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre auch weiter unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Datum
09.11.2014
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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