9. November 2014 - Grußwort anlässlich der Feier des Landtages Schleswig-Holstein zum 25. Jahrestag des Mauerfalls
09. November 2014
Freiheit ist die Einzige, die zählt. So sang, oder besser: röhrte es der Rockmusiker Marius Müller-Westernhagen im November 1989, drei Tage nach dem Fall der Mauer. Sein Lied trifft den Nerv der Nation: "Alle, die von Freiheit träumen, sollen‘s Feiern nicht versäumen" – Einfügung beim Live-Auftritt in Berlin: „So wie ihr heute hier“, und es brandet Applaus von Abertausenden auf. Gänsehaut allerorten – Freiheit, singt es auf einmal ganz Berlin, Freiheit ist die einzige, die zählt.
Und war es nicht wirklich so? Dieses Gefühl von im wahrsten Sinne wunder-voller, einigender Freiheit, an die im geteilten Deutschland doch keiner mehr wirklich geglaubt hat? Genau einen Monat, nachdem die Mauer gebaut, wurde, bin ich geboren. Und mein inneres Bild dieser Welt war 28 Jahre geprägt von Ost gegen West, kaltem Krieg, Kommunisten- respektive Imperialistenbeschimpfung, Nato-Doppelbeschluss, der Trennung meiner Familie – ein Leben mit Grenzen, die andere gemacht hatten.
Und dann stürzte die Mauer. Gewaltfrei. Weil der Widerstand der Menschen immer klarer wurde und stärker, auch nicht mehr zu brechen durch Stasi-Willkür auf der einen und Angst auf der anderen Seite. In den Kirchen fing‘s an, Monate vorher schon. Sie waren Schutzraum. Ermutigungsort für gewaltlosen Widerstand. Aus den Friedensgebeten, aus den Kirchen in Leipzig und später in Schwerin, Stralsund, Greifswald tragen Tausende ihre Kerzen auf die Straßen und demonstrieren gegen die finstere Macht des totalitären Regimes. Was für eine Geschichte! Mit allem hatten die Machthaber gerechnet, heißt es später, nur nicht mit Kerzen und Gebeten.
Mir ist in den vergangenen Wochen, in denen uns die Ereignisse um den 9. November medial vor Augen geführt wurden, noch einmal klar geworden, wie sehr es im Herbst 89 auf Messers Schneide stand. Was, wenn dem erstaunlich unsortierten Schabowski auf der Pressekonferenz nicht das alles umstürzende Wort „unverzüglich“ herausgerutscht wäre? Oder am 9. Oktober in Leipzig: Was, wenn auch nur einer in die Menge der siebzigtausend schweigenden Demonstranten hinein geschossen hätte? Doch kein Schuss fällt. Stattdessen brennen Kerzen in friedlichen Fäusten von Christen und Nichtchristen, Akademikern und Arbeitern, Alten und Jungen. Sie rufen: Wir sind das Volk! Und: Keine Gewalt! Sie glauben daran. Und die Mauer fällt.
Eine friedliche Revolution – das Wort trifft‘s. Ich hätte außerdem anzubieten: ein Wunder! Denn auch das, glaube ich, war vielen gemeinsam: dass man, religiös oder nicht, doch im Innersten berührt war und empfunden hat, dass hier eine Macht am Wirken war, die das Menschliche sprengt. – Sie werden mir nachsehen, wenn ich gar nicht anders kann, als die alte biblische Wundergeschichte von Jericho zu erinnern. Da zieht das Volk an sieben Tagen um die Stadt herum und schafft es zuletzt mit seinen Trompeten und deren höchst aktivem akustischen Einspruch, dass die Mauern fallen. Die Machthaber kapitulieren vor dem Getöse. Das Faszinierende an der Geschichte ist, dass das Unerwartete tatsächlich herbei geglaubt wird. Mit Pauken und Trompeten sozusagen.
Natürlich war‘s 1989 nicht der Protest allein. So laut oder auch eindringlich still er gewesen sein mag. Ohne eine Politik, die beharrlich mit ihrem Instrumentarium auf das Aufheben der Trennung von Ost und West hingewirkt hat, würden wir alle heute hier nicht sitzen. Und zwar Politik, Verbände und Kirche in Schleswig-Holstein gemeinsam; ich bin sehr dankbar für diese gemeinsame Feierstunde an diesem besonderen Ort mit all ihrer Symbolkraft und all ihrer Nachdenklichkeit.
Wie nun fällt die Bilanz aus? Auch diese Frage beschäftigt. Wie gut sind Ost und West zusammengewachsen in dieser Zeit? Immer wieder stelle ich fest, dass die Generationen das ganz unterschiedlich empfinden. Für die, die es miterlebt haben, ist die Veränderung, die in ihrem Leben stattfand, einzigartig und nicht wegzudenken. Auch wenn es in den 25 Jahren Enttäuschungen gab. Für die junge Generation, die den Schmerz der Mauer nicht spürbar erlebt hat, ist diese Spaltung kaum noch vorstellbar. Und es ist – dankenswerterweise – für diese Generation auch nicht mehr von Bedeutung, ob einer Ossi oder Wessi ist.
Dennoch ist es eine bleibende Aufgabe, diese manchmal zu selbstverständlich gewordene Freiheit als Kostbarkeit zu schätzen und zu wahren. Denn noch – und immer wieder – sind Rechtsextremismus und überhaupt: fundamentalistische Strömungen attraktiv für die Frustrierten, die Benachteiligten, die Aggressiven. Warum sonst lassen sich junge Menschen aus unserer Mitte zu Kämpfern ausbilden, die Andersdenkende und -glaubende mit brutaler Gewalt terrorisieren, ja töten?
Ich sehe es als unsere gemeinsame Aufgabe an – für alle Religionsgemeinschaften ebenso wie für die Politik - dafür zu sorgen, dass diese radikalen Gruppierungen demaskiert werden. Und das können wir nur erreichen, indem wir schon früh junge Menschen verstehen und sie aufklären; das Wissen über die Folgen von diktatorischen Regimen ist in unserem Land wach zu halten! Nicht nur, weil wir selbst eine Vergangenheit aufzuarbeiten haben – ist doch auch der 9. November 1938 heute so präsent! –, sondern weil wir eine Verantwortung tragen für unsere Demokratie. Für die Gedanken-, Meinungs- und Religionsfreiheit, jetzt und für die nachfolgenden Generationen. Verantwortung eben für unser Land, das die Werte der Toleranz und Würdigung allen Lebens zu ihrem höchsten Gut erklärt.
Und also gilt es zu lernen aus diesen wunderbaren, historischen Stunden beim Fall der Mauer vor 25 Jahren. Denn da erlebten wir doch gerade in den ersten Wochen eine große Herzlichkeit. Aufrichtige Hilfe statt gönnerhafter Gesten von oben herab. Und besonders wichtig: Die engagierte Suche danach, wie gutes Leben für alle aussehen kann. Diese Haltung jetzt und heute wieder zu entdecken und denen gegenüber einzunehmen, die als Flüchtlinge in unser Land kommen, ist für mich ein Auftrag, den das Gedenken heute anmahnt. Gerade doch in unserem Land. Eine innere Mauer der Fremdenfeindlichkeit dürfen wir genauso wenig dulden wie die Mauer, die 28 Jahre quer durch unser Land verlief. Vielmehr gilt, heute mehr denn je, wie es ein französisches Freiheitslied singt: „L‘ámour est l‘enfant de la liberté“ – Die Liebe ist das Kind der Freiheit. Zuneigung – sie ist der erfolgreichste Widerstand gegen Mauern in den Köpfen. Und mehr noch: Zuneigung ist ein Zeichen der Dankbarkeit, die dieser Stunde zutiefst innewohnt.
Darin weiß ich mich mit Ihnen sehr verbunden. Darin, Horizonte zu öffnen und Mauern zu überwinden. Durch ein mutiges, weites, glaubendes Herz. Denn nur das macht wirklich frei.
Für diese herzliche Verbundenheit danke ich Ihnen – und ebenso für Ihre Aufmerksamkeit.