Adventsempfang der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland
04. Dezember 2025
Was Religionen zur Resilienz der Gesellschaft beitragen können Bischöfin Kirsten Fehrs, Ratsvorsitzende der EKD
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
wie schön, dass Sie heute Abend hier in die Hauptkirche St. Katharinen gekommen sind! Ich begrüße Sie an dieser Stelle nun schon zum sage und schreibe 15. Mal; und ich merke immer wieder, wie wichtig mir diese Tradition geworden ist. Einmal im Jahr mit Ihnen zusammen zu sein, ohne große Agenda, einfach zur Ruhe kommen in der adventlich geschmückten Kirche und gemeinsam singen, „Macht hoch die Tür“ und „Tochter Zion“. Begleitet von Posaunenklang, der immer etwas Besonderes ist – vielen Dank, lieber Daniel Rau, dass ihr dabei seid. Und diesmal auch die Folk-Pop-Band Fjarill, die einen anderen, nicht weniger zu Herzen gehenden Ton in diesen Abend bringt.
Lieder und Lichter. So einfach geht Advent. Eine Zeit, in der wir Kerzen anzünden, obwohl wir wissen: Die Dunkelheit wird dadurch nicht verschwinden. Und doch tun wir es. Nicht aus Illusion, sondern aus Haltung. Adventliches Licht ist keine Dekoration, es ist ein Versprechen: Sieh, dein König kommt zu dir. Das Kind, das den Frieden bringt. Wenn wir die Lichter am Adventskranz entzünden, sagen wir damit: Wir geben diese Hoffnung nicht preis. Die Hoffnung bleibt – auf Frieden, auf Versöhnung, auf Menschlichkeit.
Ich spüre, wie wichtig das gerade jetzt ist. Die Welt wirkt angespannter und empfindlicher denn je. Viele Menschen sind erschöpft von Krisen, von Konflikten, von der Härte öffentlicher Debatten; die Präses hat es schon angesprochen. Diese Erschöpfung ist eben nicht nur privat – sie sickert in unser Miteinander. Wenn dieses Gefühl zu groß wird, rücken Menschen auseinander: aus Angst und aus Misstrauen. Vielleicht auch, weil sie meinen, sich selbst schützen zu müssen.
Und genau hier stellt sich für mich die zentrale Frage: Wie gelingt es uns, als Gesellschaft nicht in dieser Erschöpfung stecken zu bleiben? Wie werden wir widerstandsfähig gegen Kräfte, die ganz gezielt die Menschen gegeneinander ausspielen? Wie überwinden wir die toxischen Kräfte und Polarisierungen?
Ich möchte dazu den Blick heute auf einen speziellen Bereich richten, der nicht weiter überraschen wird: auf die Religion, oder besser: auf die Religionen. Denn in Hamburg haben wir längst gelernt, sie im Plural zu denken. Ich bin der festen Überzeugung: Religionen sind eine Ressource, die zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen kann. Das geschieht allerdings nicht automatisch. Religiöser Glaube kann auch instrumentalisiert werden zur Abgrenzung und zur Angstverstärkung. Religion kann Fanatismus, ja, Terror beflügeln. Doch zugleich sind alle Religionen auch eine Quelle der Heilung, eine Kraft, die Menschen durch Krisen trägt, die Gemeinschaft stärkt und Frieden möglich macht.
In Hamburg ist in den vergangenen Jahrzehnten eine unglaubliche religiöse Vielfalt gewachsen. Niemand kennt genau die Zahl der Religionsgemeinschaften, mit Sicherheit sind es weit über Hundert. Kein Wunder, denn unsere Stadt ist seit Jahrhunderten von Handel, Migration und internationalem Austausch geprägt. Menschen kamen hierher, weil sie Arbeit suchten oder weil sie sich hier Freiheit versprachen. Mit ihnen kamen Sprachen, Kulturen und eben ihr Glaube.
Unser Stadtbild erzählt diese Geschichte, aber es erzählt sie unvollständig: Die evangelischen und katholischen Kirchen sind gut zu erkennen; die Synagogen und Moscheen sind es schon weniger; die alevitischen Cem-Häuser, die buddhistischen und hinduistischen Tempel bleiben oft unsichtbar. Und doch treten auch die nichtchristlichen Religionsgemeinschaften an die Öffentlichkeit: mit dem Chanukka-Leuchter auf der Reesendammbrücke, der in zwei Wochen wieder entzündet wird. Mit dem Ramadan-Pavillon an der Alster. Mit der hinduistischen Ganesh-Prozession durch die Innenstadt oder dem buddhistischen Vesakh-Fest in Planten un Blomen.
Diese religiöse Vielfalt wird zum Segen, wenn wir sie gestalten. Wenn untereinander Verständigung wächst und Räume geschaffen werden, in denen Menschen sich begegnen können. Ein solches Format ist das Interreligiöse Forum Hamburg (IFH), das vor exakt 25 Jahren zur Jahrtausendwende gegründet wurde. Maria Jepsen und Hans-Jochen Jaschke sind damals mutige Schritte gegangen, in einer Zeit, in der interreligiöser Dialog noch längst nicht selbstverständlich war. Und was ist nicht alles daraus geworden: der gemeinsame Religionsunterricht, viele gegenseitige Besuche, Friedensgebete in unfriedlichen Zeiten, eine gemeinsame interreligiöse Reise nach Israel zu den Ursprüngen unserer Religionen und nicht zuletzt Stellungnahmen, wenn unsere Stadt sie brauchte, auch zum Trost: nach dem rechtsextremistischen Terroranschlag in Halle und dem in Hanau, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, nach dem 7. Oktober 2023. Überparteiliche Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls, denen sich viele andere anschließen konnten. Unser Miteinander zeigt: Frieden entsteht nicht, wenn Unterschiede verschwinden, sondern wenn Menschen mit und trotz ihrer Unterschiede Verantwortung füreinander übernehmen.
Vor zwei Wochen war der Runde Tisch der Religionen Deutschland hier in Hamburg zu Gast; das ist gewissermaßen das Interreligiöse Forum Hamburg auf Bundesebene. Am Vormittag haben wir eine Schule besucht, das Kurt-Körber-Gymnasium in Billstedt, und haben mit Jugendlichen sowie Lehrkräften über den Religionsunterricht diskutiert. Zwölf Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Hintergründen saßen uns gegenüber, waren klug, fröhlich, selbstbewusst und vor allem sehr eloquent.
Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir eine Szene. Wir hatten schon viel gehört vom dialogischen Lernen und gegenseitigem Verständnis. Da fragte ein Mitglied des Runden Tisches die Jugendlichen: „Ich will jetzt mal ein bisschen Wasser in den Wein gießen. Sagt doch mal ehrlich: Wäre es euch nicht manchmal auch lieber, ihr würdet von den Lehrern eindeutige Positionen bekommen?“ Unmittelbar bekam er darauf keine Antwort, aber in der Schlussrunde meldete sich ein muslimischer Schüler, 10. Klasse, und sagte: „Vorhin hat doch jemand von Ihnen gefragt, ob wir im Unterricht nicht klare Positionen statt Dialog haben wollten. Ich hab‘ darüber nachgedacht. Und ich sag Ihnen: Nein, auf keinen Fall! Das ist ja gerade das Besondere bei uns in Hamburg, dass wir eben nicht die eine Wahrheit hören und glauben sollen, sondern miteinander im Gespräch sind.“
Mich hat dieses Bekenntnis schwer beeindruckt, gerade weil es so authentisch war. Und weil wir heute hier nun just in der Katharinenkirche sitzen, möchte ich sie mitnehmen auf eine kleine Zeitreise. Denn der damalige Hauptpastor dieser Kirche, Johann Melchior Goeze, spielte vor 250 Jahren eine Rolle in einem berühmten Konflikt, in dem es im Prinzip um genau die gleiche Frage ging: Wie verträgt sich die Treue zum eigenen religiösen Bekenntnis mit der Vorstellung von Dialog und Toleranz? Goeze war ein Vertreter der lutherischen Orthodoxie. Für ihn bedeutete jedes Abweichen von Luthers Lehre einen Verrat am Christentum. Er war ein streitbarer Publizist, heute würde man ihn wohl einen Influencer nennen. Und er geriet in einen öffentlichen Streit mit dem Dichter und Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing. Die beiden lieferten sich über mehrere Jahre ein heftiges, öffentliches Gefecht, so wie wir es heute auf Social Media erleben können. Lessing, das muss man dazu sagen, war in Hamburg Theaterintendant gewesen, die beiden kannten sich also persönlich.
Hier der erzkonservative Theologe, dort der bekannte Schriftsteller. Beide waren überzeugt, im Dienst der Wahrheit zu stehen. Und gerade deshalb schenkten sie sich gegenseitig nichts. „Ich bitte Sie, doch die ekelhaften Widersprüche zu vermeiden“, schrieb Goeze, und Lessing ätzte zurück: „Lieber Herr Pastor, poltern Sie doch nicht so in den Tag hinein: Ich bitte Sie!“
Der Kern des Streits war die Frage: Kann Wahrheit verordnet werden – oder muss sie errungen werden? Darf Religion unbedingt Recht haben wollen? Oder muss sie sich daran messen lassen, ob sie Menschen frei macht? Und friedvoll. Diese Fragen sind ja überhaupt nicht veraltet. Wir stehen heute erneut vor ihnen: Wie führen wir Debatten, wenn wir Verschiedenes glauben? Und wie schützen wir die Freiheit, Unterschiedliches zu denken und zu glauben, ohne die Verbindung, ja die Verbindlichkeit zu verlieren?
Lessing hat seine Antwort auf diese Fragen als Theaterstück verfasst, als Drama für ein Publikum, das er bewegen wollte. In „Nathan der Weise“ erzählt er die Geschichte eines Vaters, der einen wundertätigen Ring besitzt. Dieser Ring wird von Generation zu Generation weitervererbt. Es soll ihn immer derjenige tragen, den der Vater am meisten liebt und der für die Gemeinschaft Segen bringt. Der Vater hat drei Söhne, alle gleichermaßen geliebt, und er kann sich nicht entscheiden. Also lässt er zwei identische Kopien des Rings anfertigen und gibt jedem Sohn einen. Jeder ist überzeugt, den echten zu besitzen.
Als der Vater stirbt, entsteht Streit: Wer hat den wahren Ring? Wer hat Anspruch auf Ehre, Macht, auf eben die Wahrheit? Die Söhne gehen vor Gericht, doch der Richter kann kein Urteil fällen. Denn selbst wenn einer der Ringe der echte wäre, sein Wert müsste sich zeigen, nicht in Autorität, sondern in Wirkung. Also spricht der Richter: „Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott, zu Hilf’!“ Das heißt: Nicht Argumente entscheiden, sondern das gelebte Leben. Nicht die Behauptung der Wahrheit, sondern die Früchte, die sie hervorbringt.
Diese Parabel ist kein Relativismus. Sie sagt nicht: Alles ist gleich. Sie sagt vielmehr: Die göttliche Wahrheit zeigt sich daran, ob sie Frieden stiftet. Für unsere Zeit heißt das: Das Ringen um Wahrheit bleibt wichtig. Aber es darf nicht zu einer Waffe werden. Der Glaube muss sich bewähren im Miteinander – nicht im Überzeugen, sondern im Hören, im Mitfühlen, in der Mitmenschlichkeit, im Dienst an den Nächsten.
Überall, wo das nicht geschieht, steht Religion in der Gefahr des Fanatismus und der Intoleranz. Wir sehen das in vielen Ländern dieser Erde und manchmal auch hier bei uns. Die Angst, verletzt, angegriffen, aufgrund von Religion und Herkunft missachtet und diskriminiert zu werden, hat erschütternde Ausmaße angenommen. Antisemitismus, antimuslimischer Rassismus, aber auch Angriffe auf Christinnen und Christen nehmen weltweit zu. Das ist nicht nur eine Frage der Religion – viele dieser Angriffe entstehen auch aus Ideologien heraus. Aber wir wissen, wie leicht und schnell sich Religionen missbrauchen lassen. Dem müssen wir gemeinsam immer wieder entschlossen entgegentreten.
Lessing hat die Religionen mit einzelnen Ringen verglichen. Er hatte nur die drei monotheistischen Religionen im Blick; es gibt aber natürlich auch noch andere. Das Bild des Rings ist von ihm wunderbar gewählt, denn ein Ring soll seinen Träger, seine Trägerin schmücken. Und Ringe können auch eine Verpflichtung zeigen, wie etwa Trauringe oder Siegelringe. Wenn ich das Bild auf unsere religiösen Gemeinschaften in Hamburg übertrage, sehe ich viele solcher Ringe, solcher Schmuckstücke.
Im Christentum schmückt es uns, dass wir an den Gott glauben, der Mensch wird – verletzlich, friedensstiftend, versöhnend. Daraus erwächst die Verpflichtung zu Diakonie, zu Engagement für Geflüchtete, zu Versöhnungsarbeit und Schutz gefährdeter Gruppen. Was die anderen Religionen betrifft, so kann ich nur von außen sagen, wie ich es wahrnehme und wertschätze:
Am Judentum, mit dem wir als Christen natürlich immer schon besonders verbunden sind, beeindruckt mich die Tradition des Erinnerns, das Festhalten am Wort Gottes. Und immer wieder die Suche danach, wie der Mensch die Gebote Gottes in dieser Welt verwirklichen kann – auch zum Wohl der anderen. Ein Schmuck für unsere Stadt, der hoffentlich bald auch sichtbar wird, wenn die Bornplatzsynagoge wieder aufgebaut ist.
Der Islam bedeutet das unbedingte Festhalten an dem einen Gott, zugleich der Glaube an seine Barmherzigkeit, die Gastfreundschaft und die solidarische Fürsorge. Das sind aus meiner Sicht Werte der Friedensliebe, die auch die Gesamtgesellschaft stärken und schmücken.
Im Alevitentum sehe ich die spirituelle Gemeinschaft, das Streben nach einer Gleichheit, die Musik, Mystik und soziale Gerechtigkeit verbindet. Eine Religion als Kultur des Miteinander – ein wichtiger Beitrag, gerade wenn gesellschaftliche Spaltungen wachsen.
Am Buddhismus beeindruckt mich der Umgang mit Leid, die Schulung des Geistes, diese Achtsamkeit und das unbedingte Mitgefühl. Nicht als Weltflucht, sondern als innere Klarheit, die handlungsfähig macht.
Dann der Hinduismus, die Vielfalt als Prinzip, nicht als Problem erkennt. Viele Wege zum Göttlichen – allein das kann schon ein Gegenbild zu totalitärem Denken sein.
Und schließlich die Bahá’í: die Vision der Einheit der Menschheit, verbunden mit Bildung, Gleichberechtigung, Dienst am Gemeinwohl. Eine Tradition, die Hoffnung in konkrete Taten übersetzt.
So viele kostbare Ringe, die unsere Stadt schmücken. Ich bin Christin und habe nur einen eingeschränkten Zugang zum Inneren dieser Religionen. Aber ich bin dankbar, dass ich sie alle kennenlernen durfte und dass ich ihren Gläubigen immer wieder begegne. Keine dieser Religionen allein kann den Frieden sichern. Doch gemeinsam schaffen sie ein Geflecht von Werten, das unsere Gesellschaft trägt.
Ich finde, es ist immer wieder ein Wunder, dass es in unserer Stadt gelungen ist, den Dialog zwischen so unterschiedlichen Religionsgemeinschaften in so gute Bahnen zu lenken. Und gibt es etwas Größeres, als dass ein Schüler sagt: „Bei uns in Hamburg ist der Dialog das, worauf es ankommt?“ Und alle in der Klasse nicken! Wenn Sie das nächste Mal am Gänsemarkt vorbeikommen und Lessing sehen, der dort auf seinem Denkmalsockel sitzt, achten Sie mal auf sein Gesicht. Ich finde, er sieht sehr zufrieden aus …
Der interreligiöse Unterricht, dieser Dialog schafft keinen Einheitsglauben. Er schafft Gesprächsfähigkeit. Und damit legt er den Grundstein für gesellschaftliche Resilienz: Streitfähigkeit ohne Feindschaft. Und friedenstüchtige Verschiedenheit.
Und so kommen wir zurück zu uns, im Hier und Jetzt, zu diesem Abend, zu Kerzen, zu Chorälen, zu Stille. Advent ist eine Zeit der Erwartung, aber nicht der Weltflucht. Wir entzünden Kerzen nicht, weil wir die Dunkelheit ausblenden, sondern weil wir ihr Widerstand leisten. Jede Flamme ist ein Zeichen: Die Hoffnung hat Zukunft.
Der Friede Gottes ist kein Zustand, sondern ein Ereignis: Gott kommt zu uns – in einem Kind, in wehrloser Ohnmacht, in Liebe. Dort beginnt der Frieden, den wir suchen. Er wächst, wo Menschen aufeinander hören. Er wächst, wo wir uns nicht von Angst treiben lassen. Er wächst, wo wir Vertrauen wagen – auch über Grenzen hinweg.
Ich wünsche uns, dass dieser Advent uns stärkt für die Debatten, die vor uns liegen, mit dem Mut, der nötig sein wird im Irrsinn dieser Tage und für den Frieden, der – tatsächlich! – möglich ist. Ich wünsche Ihnen von Herzen eine gesegnete Adventszeit!