Alle sollen Leben in Fülle haben
05. Mai 2016
Christi Himmelfahrt, Predigttext Apostelgeschichte 1, 3 – 4.8 - 14
Liebe Gemeinde,
heute feiern Sie Christi Himmelfahrt. Ich darf mit Ihnen feiern. Das freut mich! Und wir feiern diesen Gottesdienst im Freien. Im „Boizenburger Weidenschneck“. Einem wunderschönen natürlichen Bauwerk – einem Baum-Werk sollte ich besser sagen, das wie ein Weidendom in die Höhe ragt. Und verbunden ist mit dem „Symphonischen Weidegang“: 15 Musikinstrumente symbolisiert der. Hier liegt wirklich Musik in der Luft. Aus vielen Ecken Ihrer Kirchenregion sind heute Menschen zu Fuß, per Rad oder mit dem Auto hierhergekommen, um gemeinsam Himmelfahrt zu feiern – Mitten in Gottes guter Schöpfung.
An solch einem Tag können wir wirklich aus vollem Herzen singen: „Wie lieblich ist der Maien aus lauter Gottes Güt, des sich die Menschen freuen, weil alles grünt und blüht!“ Die Strophen, die wir eben gesungen haben, verbinden Glaube und Schöpfung. Der Gott der Bibel ist der Gott des Lebens. Alle sollen Leben in Fülle haben.
Heute sind viele leichtfüßig unterwegs. Die einen mit Bollerwagen, die anderen mit dem Liedblatt in der Hand. Na ja, denen mit dem Bollerwagen werden nach und nach die Beine schwer – nicht nur, weil sie so lange unterwegs sind. Uns nicht! Manchmal überlege ich aber, ob wir es uns an diesem Tag im Gottesdienst so leicht, so beschwingt machen, weil uns sein Anlass - die Himmelfahrt Christi - eher schwer im Magen liegt. Im Neuen Testament berichtet einzig Lukas von ihr. „Himmelfahrt ist ein bisschen das Schmuddelkind im Osterfestkreis“ – hat ein kluger Theologe letztes Jahr geschrieben. Sein religiöser Sinn sei nicht so leicht einzusehen, und historisch wäre die Sache doch eher rätselhaft.
Ist das, was wir eben in der Bibellesung gehört haben, für uns wirklich verständlich? Oder besser gesagt: Ist ihre Aussage wirklich überzeugend für uns? Einer, der 40 Tage nach seiner Auferstehung, wie von Triebwerken angeschoben, aufgehoben wird und dem die Jünger nachschauen, wie wir dem Urlaubsflieger, in dem unsere Tante sitzt? Als ob Gottes Himmel mit dem Weltraum identisch wäre.
Ich stehe oft vor dem Altar in meiner Heimatkirche: ganz oben hat der Künstler eine Wolke geschnitzt. Aus ihr schauen zwei nackte Fußsohlen heraus: Jesus, aufgefahren in den Himmel. Ja, in den Himmel entrückt – nicht in den Weltraum verschwunden. Und Himmel meint im Neuen Testament den durch Gottes Herrschaft geprägten Bereich. Der steht: für die Allgemeingültigkeit und die Gegenwart des Heils, das durch Christus gewirkt ist. Und der steht auch: im schroffen Gegensatz zu unserer Welt, die geprägt ist von Krieg und Vertreibung, von Egoismus und Kleingläubigkeit, von Intoleranz und religiöser Rechthaberei – auch unter Christen: auch bei uns. Von dorther weht aber auch der Geist, der uns und die Welt anders machen wird.
Die englische Sprache hat zwei Wörter für Himmel: „sky“, das meint den sichtbaren Himmel mit Sonne, Mond, Sternen und Weltall – und „heaven“, das ist der Bereich Gottes. Und dorthin, in den Bereich Gottes, kehrt Jesus zurück. Denn von dort kommt er. Der Himmel ist seine Heimat, die Gemeinschaft mit Gott sein Zuhause. Und diesen Himmel, diesen Herrschaftsbereich Gottes, hat er schon, einem Senfkorn gleich, auf die Erde geholt. Die Menschen um ihn herum haben erfahren: bei ihm kommen Himmel und Erde zusammen. Hier wird unsere Erdenschwere schon jetzt aufgehoben: in der Liebe, die er schenkt, in der Nähe, die er den Schwachen und Elenden gibt.
Martin Luther war es, der mit jeglicher räumlichen Himmelfahrtvorstellung im wahrsten Sinne aufge-räumt hat. Die Rechte Gottes - dort, wo Christus nun ist - das meint keinen bestimmten Ort: „Sondern (sey) die allmechtige gewalt Gotts, welche zu gleich nirgent sein kann und doch an allen orten sein mus“. Er spottet über alle, die wie Kinder an einen „gaukel hymel“ glauben, „darynn ein gülden stuel stehe und Christus neben dem vater sitze in einer kor kappen (Chorkappe) und guelden krone…“
Die Jünger stehen da, starren in den Himmel und verstehen nicht, was geschehen ist. Zwei Gottesboten treten zu ihnen und fragen sie schroff: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und starrt zum Himmel?“ Ihr schaut in die falsche Richtung. Hier unten spielt die Musik. Hier auf der noch unerlösten Erde, bei der seufzenden Schöpfung, den gequälten und sich quälenden Menschen. Uns sagen sie das auch. Wenn wir genau wissen wollen: Wie das mit der Himmelfahrt war. Wie das mit der Wolke war, die Jesus vor den Augen der Jünger wegnahm. – Ihr schaut in die falsche Richtung, sagen sie uns dann.
Natürlich waren die Jünger verwirrt: so sehr war Gott Mensch geworden, dass sie ihren Meister am Kreuz sterben sahen, sahen, wie er begraben wurde. Und dann: das leere Grab, dann konnten sie ihn sehen oder zumindest erkennen in dem, was er sagte und tat über den Tod hinaus. Das verwirrt: wie denn nun? Und das verwirrt natürlich bis heute die Menschen – auch mal einen Bischof wie ich einer bin, dass man sich vergaloppiert und verstrickt in den eigenen Worten auf der Suche nach dem wahren Himmel und danach, wie es weitergeht.
Unser Predigttext erzählt, dass die Jünger nach Jerusalem zurückkehren, dass sie sich dann ihrer Stadt, ihrem Dorf, ihrer Region wieder zuwandten. Im letzten Vers heißt es: Sie waren stets beieinander einmütig im Gebet samt den Frauen. Sie bauen eine Gemeinschaft auf, sind solidarisch, einmütig: eine Gemeinschaft von Männern und Frauen. Keine Über- und Unterordnung. Gleichberechtigung: Ganz ungewöhnlich für die damalige Zeit – und auch für manche heute noch.
In Jesus ist Gott nicht groß und abstrakt, sondern zum Anfassen nah. Da ist einer, der lebte wie wir, der aß und trank und feierte, und zwar so viel, dass seine Kritiker riefen – so steht es im Lukasevangelium: „Schaut euch den Kerl an. Das ist ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder.“ Und da ist auch einer, der ließ die – angebliche - Realität nicht so, wie sie ist. Er veränderte sie. Machte etwas mit ihr. Akzeptierte Außenseiter, richtete Gedemütigte auf, sprach Rechtlosen Würde und Rechte zu. Und er nahm sie alle in die Gemeinschaft mit sich auf.
Und dann kommt diese wunderbare Erfahrung, die die Jünger machen, nachdem Jesus vor ihren Augen erhöht wird zur Rechten Gottes: er ist nicht fort! Nein. Er ist mitten unter ihnen. Sie wissen nicht wie – aber es ist so. Himmlisch scheint ihnen das zu sein nach all der Trauer um den Gekreuzigten. Nachdem sie ihn gesehen haben, den Auferstandenen, nicht erkannt an seinem Äußeren, sondern an dem, wie er sprach und mit ihnen teilte Brot und Wein auf dem Weg nach Emmaus: nun können sie sich seiner ganz sicher sein. Der gute Freund, der alles in ihnen und um sie herum verändert hatte: er ist nicht mehr leiblich greifbar. Aber doch ganz nah und vertraut. Es geht weiter: Sie können ihm auch jetzt nachfolgen. Der Erhöhte ist bei ihnen. Ist bei uns. Himmlischer Glanz erfüllt so das irdische Leben. Wir können tun, wie er verheißen hat.
Fast mag es scheinen, als sei das der tiefere Sinn der Erzählung von der Himmelfahrt: der Sohn Gottes muss vor unseren Augen aufgehoben werden, aus unseren Augen verschwinden, damit wir uns wieder der Erde zuwenden, nicht auf den Himmel und aller Himmel Kräfte warten, sondern ihn ziehen lassen, damit wir hier sehen, wie er unter uns und in uns und mit uns wirkt und lebt. Loslassen, damit Neues anfangen kann.
Heute steht der auferstandene Jesus auch an der Seite der Flüchtlinge, die zu Millionen ihre Heimatländer verlassen, die fliehen vor Angst und Schrecken, vor Hass und Gewalt, vor Völkermord und Bürgerkrieg. Er ist an der Seite derer, die ihre Heimat verlassen müssen, weil dort die einzige Perspektive der Tod zu sein scheint. Ist an der Seite derer, die sich mühsam auf Landrouten von Staat zu Staat quälen und sehen doch immer: neue Zäune, die vor ihnen aufgetürmt werden. Und er ist an der Seite der Menschen bei uns, die ihre Herzen und Häuser öffnen für die, die es bis zu uns schaffen. Und er ist bei denen, die den Wenigen hilfreich zur Seite stehen, die schließlich bis zu uns nach Mecklenburg-Vorpommern kommen.
Und – natürlich: er ist auch nahe denen, die Angst haben angesichts der Vielen, die zu uns kommen, Angst um ihre eigene Zukunft, Angst vor Veränderungen des Vertrauten: „In der Welt habt ihr Angst“, sagt Jesus. Klar haben wir Angst, wenn wir sehen all den Terror und die Gewalt. Jesus selbst kennt diese Ängste, geht selbst durch sie hindurch, hat allen Grund dazu. Er hockt sich zu den Ängstlichen, sucht sie zu verstehen. Und sagt dann: der Grund für deine Ängste liegt nicht in den Anderen, den Fremden. Der Grund liegt darin, dass du dich nicht geborgen fühlst, nicht zu Hause fühlst, nicht angesehen, nicht gewürdigt.
Geht auch zu denen, die in Ängsten sind, sagt Jesus, lasst sie nicht allein. Damit sie nicht alle ihre Ängste projizieren müssen auf andere Kulturen, auf alles, was irgendwie anders ist, aussieht, glaubt. Und dann ermutigt er uns: In der Welt habt ihr Angst – aber siehe: ich habe die Welt überwunden. Überwunden alles, was da ist an unmenschlicher Macht und Rechthaberei. Überwunden das, was es uns schwer macht miteinander. Überwunden, indem ich mich dem anderen zuwende, neugierig bin, zuhöre, verstehe. Das kennen wir: dann wird das Schwere schon mal leicht. Nichts muss bleiben, wie es ist oder immer war. Hier nicht, nirgends auf der Welt. Wenn ihr Angst habt: ich habe euch gezeigt, wie die Verschiedenen friedlich zusammen leben können, teilen, was sie haben. Wirklich teilen. Geld, Brot, Frieden, Liebe. Alles Sachen, die wir selber brauchen. Und oft auch in Fülle haben. Mehr als genug wenige, viel zu wenig die meisten. Wenn wir damit anfangen, aufzuhören, alles für uns zu behalten: dann müssen viele Menschen nicht mehr fliehen. Wenn wir sorgsam umgehen mit Gottes Schöpfung, dann haben mehr Menschen an mehr Orten der Welt sauberes Wasser, gute Luft zum Atmen.
Jesus bleibt der Erde treu, den Menschen in seiner Umgebung. Das ist auch die Botschaft unseres Predigttextes: „Bleibt der Erde treu!“ Darum geht es: um Erdverbundenheit, um Weltzugewandtheit und um Weltgestaltung. Nicht: weiß der Himmel, sondern: es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist! Die Erde muss gestaltet werden, nicht der Himmel. Das Diesseits, nicht das Jenseits ist der Ort, wo die Jünger an Pfingsten den Heiligen Geist empfangen werden: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Welt.“ Wir sollen Zeugen von Jesus sein und hier und heute etwas verändern. Das geht, weil wir den Heiligen Geist empfangen, weil wir von ihm die Kraft und die Orientierung bekommen, weil wir nicht auf eigene Faust loslegen, sondern im Bereich Gottes, im Kraftfeld seines Geistes bleiben.
Nicht spekulative Himmelsstürmer sollen wir werden, sondern Erdlinge dürfen wir bleiben; Erdenmenschen, die angesichts des offenen Himmels über uns gegen die verschlossenen Herzen und Türen in der Welt anstürmen. Nicht in die höchsten Höhen sollen wir uns verirren, sondern in die Tiefe der Not steigen: der Not der Menschen, der Tiere, der ganzen Schöpfung. Mit der Himmelfahrt des Herrn beginnt die Erdenfahrt seiner Gemeinde. Und die ist manchmal eine ganz schöne Achterbahnfahrt. Nicht immer ist klar zu erkennen, welcher Weg der richtige ist. Wie wir am besten unseren Mitmenschen und den Mitgeschöpfen in der Natur beistehen können.
Es ist kein Widerspruch, wenn wir das Leid der Welt sehen, es ernstnehmen und gleichzeitig hier unter diesem prächtigen Weidendach einen schönen Gottesdienst feiern. Jeder Gottesdienst ist ein Fest und ein Zeichen zugleich: Wir sind mit Gott versöhnt und wollen auch einander die Hand zur Versöhnung reichen. Hier in Boizenburg und überall.
Aber es wäre ein Widerspruch, wenn wir die Hände in den Schoß legten! Mit unseren Gebets - Antennen auf Gott gerichtet und in Gemeinschaft untereinander bekommen wir die Kraft und die Orientierung. Bekommen wir die Energie, Gutes zu tun. Miteinander, nicht gegeneinander. Wir können neu aufeinander hören, Wunden heilen und Menschen annehmen: uns gegenseitig, einander und Fremde.
Der Auferstandene will unsere Welt verändern. Wir dürfen daran mitarbeiten, seine Hände und Füße sein. Und wie seine Gliedmaßen von Wunden gezeichnet sind, sind auch wir verletzlich und unvollkommen, kennen Rückschläge und machen Fehler. Jesu Weg hat uns gezeigt, zeigt uns immer wieder: Leid und Not werden nicht das letzte Wort haben. Jesus konnte im Tod nicht festgehalten werden. Die Kraft seiner Liebe ist in ihrer Schwachheit mächtiger als die Gewalt seiner Gegner. Das ist unser Fundament. Davon werden wir getragen – von einer himmlischen Kraft.
Amen