Gottes Bund mit den Menschen

Andacht zum 190. Stiftungsjubiläum am 12. September 2023 im Rauhen Haus Hamburg

12. September 2023 von Kirsten Fehrs

Andacht zu Genesis 9

Liebe Stifts- und Jubiläumsgemeinde,

mit so einer erfrischenden Wichernband wird man doch gleich jünger ... Denn wie sich Geburtstag anfühlt, ein betagter zudem, kann ich gerade heute irgendwie nachvollziehen! Auch wenn das Rauhe Haus mit seinen 190 Jahren schon recht viel mehr auf dem Buckel hat ... So also: Happy Birthday, altes Haus.

Wie schön, dass du einst geboren wurdest in den Gedanken derer, die Christus in diese Welt hinein liebten. Die berührt waren bis an die Herzhaut von dem Elend der Armenviertel im 19. Jahrhundert, von Kindern ohne Brot und Bleibe, von Jugendlichen ohne Lesebuch und Zukunft, von verhärmten Frauen voller Traurigkeit, Männern ohne Arbeit.

Natürlich Johann Hinrich Wichern zuallererst: Sein Herz schlug für all diese gebeutelten Menschenkinder, die inmitten unvorstellbar bedrückender Verhältnisse um Würde rangen. Ein hoffnungsmutiger Pragmatiker, der es mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Güte, ja die Wunder Gottes mit jeder Not aufgenommen hat. Und davon gab es gerade Anfang des 19. Jahrhunderts mit all seinen Umbrüchen der Industrialisierung in dieser Stadt mehr als genug. Wichern hat die Schattenkinder dieser seiner Zeit dezidiert „retten“ wollen. Rettung ist für ihn der elementare Reformbegriff und meint: Fromm und nüchtern zugleich in der Welt stehen. Kraftvoll zupacken, wo jemand fällt. Halten, wo unhaltbare Zustände herrschen. Verändern, weil Gott es so will. In seiner berühmten Rede vor dem Kirchentag in Wittenberg 1848 hat Johann Hinrich Wichern es so ausgedrückt: „Es bedarf einer Reformation […] aller unserer innersten Zustände […] Es tut eines not, dass die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit anerkenne: […] Die rettende Liebe muss ihr das große Werkzeug werden, womit sie die Tatsache des Glaubens erweist.“

Liebe, die eine Tatsache wird. Tja, und das hat er dann auch getan. Als junger Lehrer in der Sonntagsschule in St. Georg. Und montags dann wie jeden Alltag macht er Hausbesuche in dem damaligen Slum der Stadt. Er setzt sich aus, geht in die vielen Wohnungen. Sieht Hunger, Krankheit, hygienisch katastrophale Zustände, sieht soziale Abgründe. Kann nicht aushalten, was er sieht und gründet eine, wie er es damals nannte, Anstalt „zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“. Hier rettet sich, wer kann, vor Lieblosigkeit. Und bekommt dreierlei: Lernen, Arbeiten und Feiern. Ausbildung, Zutrauen, Chancenglück.

Et voilà – das Rauhe Haus ist geboren. Ein Haus mit wahrlich vielen hellen Wohnungen. Denn so groß die Not, war das Zutrauen, sie lindern, ja, die Gesellschaft verändern zu können, größer. Und schließlich: Wichern fand Mitstreiter, aus der Mitte der Hamburger Gesellschaft, die sich ebenfalls anrühren ließen und begeistern für diese Idee – zuvorderst die Familie Sieveking, die den Grund und Boden gab, auf dem damals schon die Kate stand, die dann zum Rauhen Haus wurde. Eine Bürgerinitiative im besten Sinne, die nicht auf den Staat oder die Amtskirche wartete, sondern selbst anpackte, damit andere mitziehen.

Über 100 Herbergen der Menschlichkeit umfasst das Rauhe Haus heute. Für Ältere oder noch ein bisschen Ältere, Kinder und Jugendliche, die nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens gelandet sind. Für psychisch erkrankte oder pflegebedürftige Menschen aus allen Kulturen und Religionen in Wohngruppen aller Couleur. Kultursensibel, religionssensibel, überhaupt sensibel. Getragen eben von einem Glauben, der andere tragen will.

Liebe, die Tatsache wird, indem sie der Vielfalt des Regenbogens, der Vielfalt menschlicher Lebensformen auf die Erde hilft. Liebe, die seit 190 Jahren schon Schule macht – und das gerade nicht in Sonntagsreden, sondern im Alltag dieser Gesellschaft.

Kürzlich, mitten im Alltag, quasi en passant habe ich sehr an Sie und euch gedacht. Ich sah nämlich einen bunten altmodischen Kuchenteller, gestaltet von einer Street-Art-Künstlerin. Und der prangte – nicht etwa auf einer Geburtstagstafel, sondern an einer Hauswand in Altona. Die Aufschrift: Liebe ist ein Tuwort. Kurz und knapp. Schlicht und schön. Liebe ist ein Tuwort. Inmitten all der Krisen, der Eile, der Erschöpfungen und Ungnädigkeiten, auch mit uns selbst, inmitten der Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft und der belasteten Seele unseres Landes, diese klare Botschaft: Liebe ist ein Tuwort.

Inmitten auch der extremen und harten Töne, die derzeit gerade die Vielfalt, ja die Demokratie in Frage stellen, zack, erreicht einen im Vorbeigehen diese Erinnerung an das Wesentliche unseres Zusammenlebens: Nächstenliebe. Sie, die in diesen Zeiten wirklich viel tun muss, damit sich die Scharfmacher und Egomanen nicht durchsetzen – sie ist die Rettung in all den Herausforderungen. Solidarität sagen viele dazu auch. Wozu es übrigens auch einen wunderbaren Kuchenteller gibt, mit der Aufschrift: Solidarität und Sahnetorte, hineingemalt diese Farbe in kleine Rosen aus Gold.

Danke, dass Sie hier im Rauhen Haus dafür stehen – in all ihren Bereichen wie Jugendhilfe oder Altenpflege, Schule, Hochschule oder Psychiatrie und was auch immer. Danke, dass Sie mit Herz und Hand für all die da sind, die nicht auf Rosen gebettet sind. Für die Sprachlosen und Verstummten, die eine Stimme brauchen. Für Verhältnisse, die nicht zu tragen, sondern nur zu ändern sind. Für eine Gesellschaft mit mündigen Menschen, die Demokratie nicht nur buchstabieren, sondern leben können. Dieser Ort, der so viel dafür tut, dass eine Mehrheit – immer noch die Mehrheit! –, liebe Geschwister, (leider ist sie oft zu leise ...), etwas von dieser Nächstenliebe weiß. Und die der Evangelist Lukas in der Apostelgeschichte einst so beschrieb: „Beständig blieben sie in der Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“

Vier Tuwörter verbergen sich dahinter, auf die es im Leben, auch der Diakonie und Kirche ankommt: lernen, vertrauen, teilen, beten. Lukas schreibt das über die Urkirche, damals ganz am Anfang in Jerusalem, als sie sich gründete. Wo Kirche gleich Diakonie war und Diakonie Kirche. Wo man Brot und Rosen teilte und einmütig beieinanderblieb, alles aus Liebe. Kurz – ein heller Ort, von dem so viel Verheißung ausging.

Und sie taten das, was auch ihr heute tut, nämlich einladen und sagen: Leute, kommt! Hier gibt es Brot und Liebe für ausnahmslos alle! Und dann sind sie tatsächlich gekommen, so erzählt es die Apostelgeschichte. Sie kamen offenbar zu Tausenden. Christopher-Street-Day vor 2.000 Jahren. Frei, gleich, bunt. Divers, ohne Ende. Kleine Menschen und Alte, Griechin und Jude, Witwe und Bankier, mit goldberingten oder abgearbeiteten Händen, wohlriechend und getauft oder auch nicht getauft. Sie alle, einträchtig, brechen das Brot und – viele Regeln der damaligen Zeit. Keine Trennung mehr in Obere und Untere, nein, Gemeinschaft.

Klar ist dies immer auch eine Vision, ein Traum. Aber einen, den es sich zu träumen lohnt. Und mittendrin in diesem Traum steht für mich das Rauhe Haus. Weil ihr in dieser Gemeinschaft hier so unerhört viel Tat in die Welt bringt. Und immer neue Aufbrüche wagt. Tausende sind dabei: nämlich 1.330 Mitarbeitende und 134 Freiwillige in der Stiftung, 290 Pflegefachkraft-Azubis in der Ev. Berufsschule für Pflege. 610 in der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie, 1.500 Schülerinnen und Schüler in der Wichern-Schule, nicht zu vergessen die 15 Diakoninnen und Diakone, die ich vorgestern einsegnen durfte.

Bunter und auch generationenübergreifend vielfältiger geht es ja wohl kaum! Und damit nicht genug: Innovative Projekte starten immer wieder neu. Da wird hingeschaut und kooperiert, was das Zeug hält. Die neue Sozialpsychiatrie im Pergolenviertel in Barmbek etwa, für Menschen mit psychischer Erkrankung und zugleich Pflegebedarf. Oder, ganz anders, das Reallabor, in dem Evangelische Hochschule gemeinsam mit dem Stiftungsbereich Teilhabe mit Assistenz beforschen, wie die Bewohner:innen in der „Alten Bäckerei“ selbst ihre Lebensqualität einschätzen. Mit Brot und Liebe also auf zu neuen Ufern, liebes Rauhes Haus. Beharrlich dranbleiben, auch wenn Herausforderungen anzugehen sind – beharrlich lernen, lieben, teilen, beten.

Feiern wir das. Die Vielfalt hat Geburtstag. Mit Solidarität und Sahnetorte. Mit Band und Posaunen und Trompeten. Die mich übrigens daran denken lassen, sozusagen als kleiner Appetizer auf den Deutschen Evangelischen Posaunentag im Mai 2024 und als letztes Tuwort in dieser Andacht, dass man zum Geburtstag dem Stiftungsvorstand etwas schenkt: Man tutet was man kann. Damit nicht nur Rosen, sondern Menschen aufblühen. Glückwunsch, dass Sie seit 190 Jahren immer neue Wege dafür suchen. Alt genug dafür sind Sie für Aufbrüche ja allemal. Bleiben Sie behütet und bleiben Sie sehnsüchtig.
Amen.

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