11. Januar 2022 | Digital

Andacht zur Gelöbnisabnahme der Richterinnen und Richter der Kirchengerichte der Nordkirche

11. Januar 2022 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Liebe Geschwister!

Eine strittige Geschichte werden wir gleich hören. Strittig ist schon, um wen es dabei eigentlich geht, wer im Mittelpunkt steht, auf wen sich unser Augenmerk richten soll. Sie kennen das sicher zur Genüge….

Die strittige Geschichte steht im Lukas-Evangelium im 18. Kapitel. In ihrer Auslegungsgeschichte ist umstritten, wie eigentlich ihre Überschrift lauten soll:
‚Von der bittendenden Witwe‘ oder ‚Vom ungerechten Richter?‘ Aber wen, wenn nicht Sie, könnte ich zur Beantwortung dieser Frage besser einladen mit den Worten: ‚Urteilen Sie selbst‘.

Hören wir also auf diese strittige Geschichte – eine Gerichtsgeschichte.

Eines Tages erzählte Jesus dieses Gleichnis:
In einer Stadt lebte ein Richter.
Der hatte keine Achtung vor Gott
und scheute keinen Menschen.
In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe.
Die kam immer wieder zu ihm und sagte:
‚Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner‘.
Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern.
Doch dann sagte er sich:
Ich habe zwar keine Achtung vor Gott
und nehme auf keinen Menschen Rücksicht.
Aber dieser Witwe,
weil sie mir so lästig ist,
will ich doch zu ihrem Recht verhelfen,
damit sie mir am Ende
nicht noch einen Schlag ins Gesicht verpasst.
Und Jesus sprach:
Hört, was der ungerechte Richter gesagt hat!
Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen,
die er erwählt hat
– und die Tag und Nacht zu ihm rufen?
Wird er sie etwa lange warten lassen?
Ich sage euch:
Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen.


Liebe Geschwister!

»So wahr mir Gott helfe«. Diese Eidesformel war vor wenigen Wochen in aller Munde. Denn: Nach Artikel 56 und 64 des Grundgesetzes ist sie vorgesehen für die Vereidigung der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers, der Bundesminister:innen und der Bundespräsidentin, des Bundespräsidenten.

Sie brauchen diese Eidesformel heute nicht zu sprechen. Denn weder sind Sie heute Zeugin oder Zeuge gemäß § 64 der Strafprozessordnung, noch müssen Sie Zeuginnen und Zeugen vereidigen, und auch eine Vereidigung in einem der drei erstgenannten Staatsämter steht heute nicht für Sie an. Ihre Gelöbnisformel, um derer willen wir heute versammelt sind, trägt das religiöse Bekenntnis schon in den ersten Worten:

Ich gelobe vor Gott,
mein Amt in Bindung an die Heilige Schrift
und an das Bekenntnis meiner Kirche
und getreu dem in der Kirche geltenden Recht auszuüben,
nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen
und Verschwiegenheit zu wahren über alles,
was mir in meinem Amt bekannt geworden ist.

Die Antwort auf unsere Gelöbnisformel, die das religiöse Bekenntnis schon impliziert, lautet schlicht und für alle: „Ich gelobe es“.

Mehr braucht es nicht. Denn dass uns Gott in allen Dingen zur Seite steht, uns beisteht und dass wir rein gar nichts ohne die Hilfe Gottes bewerkstelligen können, gehört zu den Grundüberzeugungen und darum auch zu den ältesten Bekenntnissen unserer evangelisch-lutherischen Kirche (CA 4), die in die Gelöbnisformel schon eingearbeitet ist.

Und noch etwas fällt auf: Der Dienst, um den es heute geht, ist es: „…nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und geltendes Recht auszuüben.“

Vielleicht fragen Sie sich, warum – anders als in der Eidesformel, wie sie im Deutschen Richtergesetz (DRiG) § 45 Absatz 31 für ehrenamtliche Richter:innen des Bundes vorgesehen ist – in unserem Gelöbnis der so anspruchsvolle Begriff der Gerechtigkeit fehlt. Unsere Gelöbnisformel ist anders: Sie spricht nicht davon, dass Sie einzig der Gerechtigkeit dienen sollen, sondern spricht schlicht vom geltenden Recht, auf dessen Grundlage zu urteilen ist nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person – aber: in Bindung an die Heilige Schrift und an das Bekenntnis der Kirche.

Auf die spannende Frage, wie Recht und Gerechtigkeit in der Bindung an die Heilige Schrift und das Bekenntnis zu Gott wirksam werden können und sollen, hat Jesus von Nazareth mit dem eben gehörten Gleichnis von der bittenden Witwe und dem ungerechten Richter geantwortet.

Witwen waren in der antiken Gesellschaft zur Zeit Jesu schutz- und rechtlos.
Frauen wurden sehr früh, im Alter von 13 bis 14 Jahren, verheiratet. Starb ihr Ehemann, wurden sie entweder in der Familie des Verstorbenen mit einem nahen Verwandten erneut verheiratet, um versorgt zu sein oder sie wurden in ihre Familie zurückgeschickt. Es konnte aber auch sein, dass sie ohne jede materielle Absicherung verstoßen wurden.

Eine verwitwete Frau war darum Not und Gefahr ausgesetzt; ohne den verstorbenen Mann geriet sie schnell unter das Existenzminimum. Meist war seine Hinterlassenschaft für sie klein, zu klein. Ein bisschen Land, eine einfache Behausung, ein Kleid, ein Stück Vieh. Oft aber wurde ihr das auch noch streitig gemacht von Leuten, die ihre Schutzlosigkeit ausnutzten, die sich zum Beispiel ihr Land aneignen wollten. Mit einem solchen Widersacher hatte es die Witwe in unserer biblischen Geschichte in ihrem Rechtsstreit wohl auch zu tun. In der Bibel sind Witwen – neben Waisen, Leprakranken und Flüchtlingen – der Inbegriff der Ohnmächtigen und Gefährdeten. Eine Witwe ist ein Niemand, ein Nobody – geradezu unsichtbar, körperlos. Und so sollten sich Witwen auch verhalten: still, zurückhaltend, nicht zu hören, nicht sichtbar. Am besten also waren sie gar nicht da.

Die Witwe, von der Jesus erzählt, verhält sich anders. Sie wird nicht unsichtbar und unhörbar. Im Gegenteil: Sie spricht. Sie fordert. Sie ist penetrant. Und sie wird laut. Sie fordert eindringlich:Verhilf mir zu meinem Recht. Vermutlich geht es für sie um einen Fall des Erbrechts. Der damals grundsätzlich kleine Erbteil ihres verstorbenen Mannes wird ihr wohl vorenthalten. Darum wendet sie sich an den Richter.

Richter wiederum genossen ein hohes Sozialprestige. Sie waren der Inbegriff einer gottesfürchtigen, ethisch integren und sprichwörtlich salomonischen Instanz. Wie aber steht es um den Richter, von dem Jesus hier erzählt?

Das erste, was wir von ihm erfahren, ist, dass er „weder Achtung vor Gott hat, noch andere Menschen scheut“. Das bedeutet übersetzt: Er ist sich selbst sein eigenes Gesetz. Weder Gottes Gebote noch soziale Regeln leiten ihn. Er hat sich gut eingerichtet in einer Situation, in der Armut Rechtlosigkeit und Rechtlosigkeit Armut bedeutete. Und will lieber nichts tun für diese Frau. Sollen die Dinge doch so bleiben, wie sie nun einmal sind.

Warum gibt der Richter in der Bibel aber dann doch letztendlich nach? Schreckt er davor zurück, von ihr beschämt zu werden, öffentlich als einer dazustehen, der das Recht einer Witwe nicht durchsetzt? Wie auch immer, dieser Richter merkt, dass die Frau sich einfach nicht abspeisen lässt. Dass sie es nicht einfach bei dem belassen will, was bisher schon immer so üblich war. Sondern dass sie ihr Recht verlangt.
Vehement fordert sie: „Verhilf mir zu meinem Recht“ (Lukas 18,3).

„Verschaffe mir Recht – Ich will ihr Recht verschaffen“ – Es ist diese Auseinandersetzung, weshalb Jesus diese Geschichte erzählt. Er ermutigt die Jüngerinnen und Jünger: „Lasst nicht nach, euer Recht zu fordern, bleibt dran, vertraut darauf, dass ihr es bekommt.“ Von den Menschen und von Gott gleichermaßen.

Jesus erzählt dieses Gleichnis, um zu erinnern und zu ermutigen. Bis heute.
Gott hört den Ruf und den Wunsch nach Recht und Gerechtigkeit. Und er schenkt uns die Kraft, für sie einzutreten. Nicht nachzulassen damit. Ohne Ansehen der Person. Nach bestem Wissen und Gewissen. Orientiert am dem Bekenntnis zu einem Gott, der Recht und Gerechtigkeit zu seiner Sache macht und sie ins Verhältnis setzt zu den Maximen von Liebe und Barmherzigkeit. So geraten Recht und Gerechtigkeit nicht in Gefahr, zu abstrakten Größen zu werden, sondern rücken die jeweils konkrete Person, ihre Belange und ihre Situation in den Mittelpunkt.
Und so kommen auch und gerade die in den Blick, die scheinbar keine Lobby haben.
Beten und Recht fordern, Beten und Gerechtigkeit einklagen auf der einen, und Glauben auf der anderen Seite – das gehört zusammen.

So erfährt es die Witwe: Gott schenkt ihr die Kraft, sich beharrlich für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen. In der Tradition dieser beharrlichen Frau ist die Gemeinde Jesu daher bis heute gefordert, Recht und Gerechtigkeit zur Geltung zu bringen.
Ihr ist versprochen, dass sie Gott gegen Unrecht und Ungerechtigkeit anrufen und um Recht und Gerechtigkeit bitten und beten darf. Und dabei nicht ungehört bleiben wird.

Die bittende Witwe und der ungerechte Richter – am Ende setzt sich das Recht durch und die gerechte Barmherzigkeit Gottes, die die Mutter Jesu vor seiner Geburt so besungen hat:

„Gottes Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht
bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit
und hilft seinem Diener Israel auf.“

Amen.

 

 

1 „Ich schwöre, die Pflichten eines ehrenamtlichen Richters getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz zu erfüllen, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe.“

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