Ansprache in der Andacht zum Jahresempfang am 31.10.2010 in St. Georgen zu Wismar
31. Oktober 2010
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde!
Als wir das Thema „Kirche und Kultur“ für diesen Jahresempfang wählten, war nicht zu ahnen, welche Dynamik die öffentliche Auseinandersetzung über das Verhältnis von Religion und Kultur gewinnen würde. Spätestens die Äußerungen des Bundespräsidenten zum Islam haben eine erregte Debatte entfacht. Ich habe nicht die ganze Diskussion verfolgen können, weil ich für eine Woche unsere Partnerkirche in Kasachstan besucht habe. Wieder in Deutschland gelandet, fand ich das Konterfei unseres Bundespräsidenten als Muslim karikiert auf dem Cover eines Magazins, und nicht nur das Feuilleton diskutierte die Frage: „Haben wir eine christliche Leitkultur?“.
Auch wenn auf dem Feuer dieser Debatte die unterschiedlichsten Süppchen gekocht werden – die Frage ist ernst zu nehmen: „Was leitet uns in unserem Zusammenleben? Worauf gründen wir unser Miteinander?“
Wenn es die Werte der christlich-jüdischen Tradition sein sollen – wie steht es mit Sanftmut und dem Hunger nach Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Wie mit Barmherzigkeit und dem Friedenstiften – alles Dinge, die dem Juden Jesus von Nazareth zentral wichtig waren? Oder wird diese Gesellschaft in Wahrheit von einer materiellen Orientierung geleitet, nur wenig gemildert durch Bemü- hungen um sozialen Ausgleich?
Unsere Gesellschaft findet ihre Identität im Grundgesetz. In ihm begegnet uns eine Ethik der Verantwortung: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen . . .“ – mit diesen Worten hebt die Präambel an und macht deutlich: Wir leben und verhalten uns in einem doppelten Horizont der Verantwortung – dem gegenüber, der uns unbedingt angeht, und unseren Mitmenschen gegenüber. Nicht jede, nicht jeder teilt den Glauben an Gott. Aber wir alle können uns wohl in der Überzeugung finden, dass wir nicht grundlos leben, nicht in ein sinnloses Dasein geworfen sind. Mit unserem Leben sind uns Möglichkeiten geschenkt, die wir ergreifen und denen wir gerecht werden sollen. Von diesem Leben bekennen Juden und Christen, dass wir es Gott verdanken und ihm verpflichtet sind.
Die unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen ist eine Säule des Miteinanders unserer Gesellschaft. Dem liegt die jüdisch-christliche Überzeugung zugrunde, dass jeder Frau und jedem Mann in gleicher Weise vor aller eigenen Leistung Lebensrecht und Ansehen in den Augen Gottes zukommen. Das, was Luther in inneren und äußeren Konflikten wieder entdeckte und was Katholiken und Protestanten heute gemeinsam bekennen, ist die gute Nachricht nicht nur dieses Reformationstags: Wir müssen unser Daseinsrecht nicht erst erkämpfen. Unser Wert, unsere Würde hängen nicht ab von Leistung und Nützlichkeit. Darum gibt es auch kein lebensunwertes Leben. Darum dürfen Menschen auch niemals scheinbar höheren Zwecken geopfert werden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Er ist Ebenbild Gottes.
Diese fundamentale Überzeugung ist ebenso biblisch gespeist wie die moderne Freiheitsidee und wie viele andere Menschenrechte es sind. Trotzdem sind diese Ideen Menschen anderen Glaubens oder anderer Weltanschauung zugänglich. Weil sie dem Leben, dem achtsamen Miteinander dienen.
Ich bin zurückhaltend, von einer christlichen Leitkultur zu sprechen. Zum einen, weil dies ein Begriff ist, der bewusst oder unbewusst andere Kulturen herabsetzt, zum anderen, weil er die große Bedeutung der Aufklärung für das Zusammenleben in unserem Gemeinwesen unterschlägt. Manches haben wir Kirchen ja auch erst spät erkannt, haben es uns in unserer Geschichte mühsam abringen lassen.
Trotzdem tut es unserer Gesellschaft gut, sich der jüdisch-christlichen Prägung ihres Grundgesetzes bewusst zu sein – nicht nur in einem historischen Sinne, sondern auch um unserer Zukunftsfähigkeit willen. Denn die Frage nach Gott ist die entscheidende unseres Lebens. Er ist wirklich der, der uns unbedingt angeht. Bejaht zu sein ohne Vorbedingung, lässt uns Vertrauen fassen – Vertrauen in die Möglichkeiten, menschlich zu leben, und in unsere Fähigkeiten, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Menschen, die aus solchem Vertrauen leben, die ihrer Freiheit und Würde bewusst sind, haben die Kraft, kulturelle und religiöse Unterschiede auszuhalten und die Zukunft unserer Gesellschaft verantwortlich zu gestalten.
Amen.