Von Landesbischof Dr. Andreas von Maltzahn, Schwerin

Ansprache in der Andacht zum Jahresempfang am 31.10.2010 in St. Georgen zu Wismar

31. Oktober 2010 von Andreas von Maltzahn

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Als wir das Thema „Kirche und Kultur“ für diesen Jahresempfang wählten, war  nicht zu ahnen, welche Dynamik die öffentliche Auseinandersetzung  über das  Verhältnis von Religion und Kultur gewinnen würde. Spätestens die Äußerungen des Bundespräsidenten zum Islam haben eine erregte Debatte entfacht. Ich  habe nicht die ganze Diskussion verfolgen können, weil ich für eine Woche unsere Partnerkirche in Kasachstan besucht habe. Wieder in Deutschland gelandet, fand ich das Konterfei unseres Bundespräsidenten als Muslim karikiert auf dem  Cover eines Magazins, und nicht nur das Feuilleton diskutierte die Frage: „Haben wir eine christliche Leitkultur?“.

Auch wenn auf dem Feuer dieser Debatte die unterschiedlichsten Süppchen gekocht werden – die Frage ist ernst zu nehmen: „Was leitet uns in unserem Zusammenleben? Worauf gründen wir unser Miteinander?“

Wenn es die Werte der christlich-jüdischen Tradition sein sollen – wie steht es  mit Sanftmut und dem Hunger nach Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Wie  mit Barmherzigkeit und dem Friedenstiften – alles Dinge, die dem Juden Jesus  von Nazareth zentral wichtig waren? Oder wird diese Gesellschaft in Wahrheit von einer materiellen Orientierung geleitet, nur wenig gemildert durch Bemü- hungen um sozialen Ausgleich?

Unsere Gesellschaft findet ihre Identität im Grundgesetz. In ihm begegnet uns  eine Ethik der Verantwortung: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott  und den Menschen . . .“ – mit diesen Worten hebt die Präambel an und macht  deutlich: Wir leben und verhalten uns in einem doppelten Horizont der Verantwortung – dem gegenüber, der uns unbedingt angeht, und unseren Mitmenschen  gegenüber. Nicht jede, nicht jeder teilt den Glauben an Gott. Aber wir alle können uns wohl in der Überzeugung finden, dass wir nicht grundlos leben, nicht in  ein sinnloses Dasein geworfen sind. Mit unserem Leben sind uns Möglichkeiten  geschenkt, die wir ergreifen und denen wir gerecht werden sollen. Von diesem  Leben bekennen Juden und Christen, dass wir es Gott verdanken und ihm verpflichtet sind.

Die unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen ist eine Säule des Miteinanders unserer Gesellschaft.  Dem liegt die jüdisch-christliche Überzeugung zugrunde, dass jeder Frau und jedem Mann in gleicher Weise vor aller eigenen Leistung Lebensrecht und Ansehen in den Augen Gottes zukommen. Das, was Luther in inneren und äußeren Konflikten wieder entdeckte und was Katholiken  und Protestanten heute gemeinsam bekennen, ist die gute Nachricht nicht nur  dieses Reformationstags: Wir müssen unser Daseinsrecht nicht erst erkämpfen.  Unser Wert, unsere Würde hängen nicht ab von Leistung und Nützlichkeit. Darum gibt es auch kein lebensunwertes Leben. Darum dürfen Menschen auch  niemals scheinbar höheren Zwecken geopfert werden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Er ist Ebenbild Gottes.

Diese fundamentale Überzeugung ist ebenso biblisch gespeist wie die moderne  Freiheitsidee und wie viele andere Menschenrechte es sind. Trotzdem sind diese  Ideen Menschen anderen Glaubens oder  anderer Weltanschauung zugänglich.  Weil sie dem Leben, dem achtsamen Miteinander dienen. 

Ich bin zurückhaltend, von einer christlichen Leitkultur zu sprechen. Zum einen,  weil dies ein Begriff ist, der  bewusst oder unbewusst  andere Kulturen herabsetzt, zum anderen, weil er die große Bedeutung der Aufklärung für das Zusammenleben in unserem Gemeinwesen unterschlägt. Manches haben wir Kirchen ja auch erst spät erkannt, haben es uns in unserer Geschichte mühsam abringen lassen. 

Trotzdem tut es unserer Gesellschaft gut, sich der jüdisch-christlichen Prägung  ihres Grundgesetzes bewusst zu sein  – nicht nur in  einem historischen Sinne,  sondern auch um unserer Zukunftsfähigkeit willen. Denn die Frage nach Gott ist  die entscheidende unseres Lebens. Er ist wirklich der, der uns unbedingt angeht.  Bejaht zu sein ohne Vorbedingung, lässt uns Vertrauen fassen – Vertrauen in die  Möglichkeiten, menschlich zu leben, und  in unsere Fähigkeiten, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Menschen, die aus solchem Vertrauen leben, die  ihrer Freiheit und Würde bewusst sind, haben die Kraft, kulturelle und religiöse  Unterschiede auszuhalten und die Zukunft unserer Gesellschaft verantwortlich  zu gestalten.   

Amen.

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