Anstoß nehmen am Unverständlichen
03. April 2015
Predigt zum Karfreitag
"Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Auf dem Höhepunkt des Schmerzes stöhnt, ja schreit Jesus diese alten Psalmworte heraus. Eine Anklage an Gott – und mir geht nach: Empfinden nicht genau jetzt viele Menschen so? Dass sie sich verlassen fühlen von Gott und der Welt in ihrem abgrundtiefen Schmerz? Wer könnte nicht verstehen, dass es die Trauernden vom Flugzeugabsturz in Frankreich herausschreien?! Oder die Mutter, die ihr Kind auf der Flucht verliert.
"Eli eli, lama sabachtani." Hier hören wir die Stimme Jesu selbst. In der Sprache der Medien könnte man sagen: Hier wird ein O-Ton eingeblendet. Und zwar in Original-Sprache: Auf Aramäisch. Ausgerechnet der letzte Satz, den Jesus in seinem irdischen Leben spricht, wird nicht übersetzt – was ist der Sinn dahinter?
Sicherlich einmal, dass wir "original" ins damalige Geschehen – dieses so befremdlich grausame Morden und Foltern – auch innerlich hineingehen. Anteil nehmen, sozusagen als Zeugen, die hinhören – und nicht wegschauen. Zugleich bauen diese fremden Worte auch eine Distanz auf. Sie verhindern, dass die Szene zu glatt und eingängig wird. Und das rüttelt auf: Es ist ein anderer als ich, der da am Kreuz hängt. Ein ganz anderer. Ich frage mich: Kenne ich diesen Jesus eigentlich wirklich? Verstehen wir wirklich, was wir da hören und sehen, welches Leiden uns begegnet – auch heute?
Denn auch heute sind wir sehr unmittelbar Zeugen von Gewalt und Tod. Durch Twitter und YouTube 24 Stunden täglich. Wir sind sehr dicht dran, wenn der Frieden zerbricht und wenn Menschen ihrer Würde beraubt und umgebracht werden. Wir hören ihre Schreie – aber wir verstehen ihre Sprache oft nicht. Wir fühlen uns durch Unmengen von Nachrichtensendungen informiert, aber doch ist alles so fremd, was in der Welt geschieht, in Syrien, im Irak, in Afghanistan und in so vielen anderen Weltgegenden. Wir verstehen so vieles nicht …
Als ich vor kurzem in der zentralen Erstaufnahme für Flüchtlinge in Hamburg war, begegnete mir eine schwangere Frau aus Syrien mit versteinertem Gesicht. Und ich habe mich gefragt: Was mag sie erlebt haben? Welches Grauen ist ihr ganz nah – und mir letztlich fern? Verstehen wir wirklich, was die Flüchtlinge fühlen und denken?
Sicher, wir versorgen sie, wir schützen sie, wir kümmern uns, gut so. Weiter so! Doch fragen wir sie auch genug? Vielleicht würden sie antworten. Und da ja nicht wenige Syrer Aramäisch sprechen, vielleicht genau dies: Eli, lama sabachtani. Und ich denke an diese verstörte junge Frau und bei allem Mitgefühl bleibt ein Graben. Was sie erlitten, kenne ich nicht.
Es ist vielleicht manchmal ganz heilsam, uns das klar zu machen. Friedfertigkeit, Würde, Menschenrechte, diese Worte haben wir längst in unsere Predigten und Diskurse eingebaut. Empfinden wir noch ihr Störpotenzial? Ich merke: die letzten Worte Jesu am Kreuz sollen wie eine Art Stolperstein sein. So, wie wir auch Stolpersteine in unseren Städten verlegen, um an Verfolgte während der Nazi-Zeit zu erinnern. Wir gehen durch vertraute Straßen, und auf einmal liegt da etwas, was uns innehalten lässt und im günstigsten Falle sogar verstört: Hier hat ein Mensch gelitten.
"Eli, eli, lama sabachtani" – über diese fremden Worte stolpern wir, wenn wir die Bibel lesen. So mag dies auch die wichtigste Funktion vom Gottesbezug in der Landesverfassung sein: Dass die Menschen beim Lesen darüber stolpern, Anstoß nehmen an diesem offenkundig fremd gewordenen Wort "Gott". Mit einem Ziel: dass sie ins Nachdenken kommen! Und erkennen, wie wenig wir letztlich verstehen und vermögen aus eigener Kraft!
Wir haben heute mit so vielen den Leidensweg erinnert, körperlich wie geistlich. Wir tun das als Christinnen und Christen gemeinsam, gleich welcher Konfession wir angehören, und ich freue mich, dass mein neuer Amtsbruder Stefan Heße heute mit uns gegangen ist.
Viele Menschen fühlen sich innerlich von Gott verlassen, haben Fragen, sind auf der Suche. Erwartet, liebe Schwestern und Brüder, wird keine evangelische oder katholische, sondern vor allem eine glaubwürdige Antwort: "Wahrhaftig, das war Gottes Sohn." Er bleibt bei uns, trägt uns durch jeden Schmerz hindurch. Dieses Zeugnis lasst uns gemeinsam geben, auf dass es die Welt tröste und das Leid lindere. Das ist unsere Verantwortung vor Gott.
Amen