31. Oktober 2021 | Rostock St. Nikolai

Inhaltliches Grußwort zum Reformationsempfang der Nordkirche

31. Oktober 2021 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Schwesig,
sehr geehrter Herr Minister Glawe,
sehr geehrter Herr Staatssekretär Voss,
sehr geehrte Abgeordnete des Landtags,
sehr geehrter Herr Weihbischof Eberlein,
sehr geehrte Frau Präses Hillmann und Frau Vizepräses König,
lieber Bischofsbruder Tilman Jeremias,
sehr geehrte Pröpstinnen und Pröpste,
sehr geehrte Bürgermeister und Amtsvorsteher -
Vertreterinnen und Vertreter der Landkreise und Kommunen,
sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten der Gerichte,
sehr geehrter Vertreterinnen und Vertreter der Polizei und der Bundeswehr,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Universitäten und Hochschulen
sowie der Rundfunk- und Medienanstalten,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Vereine und Verbände,
der Gewerkschaften und der Wirtschaft,
aus den Bereichen von Kunst und Kultur sowie der Verwaltung,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder
mit unterschiedlichen Aufgaben und gleicher Würde,

willkommen, von Herzen willkommen heute Abend zum Reformationsempfang unserer Nordkirche, der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland! Ich freue mich sehr, Sie alle heute begrüßen zu dürfen zu einem Abend, an dem Begegnung, Kontakt, Austausch und Gespräch im Mittelpunkt stehen sollen. All das, was wir über lange Monate vermisst haben und was wir nun, diesen Eindruck habe ich zuweilen, auch in gewisser Weise neu lernen müssen und dabei auch neu gestalten können.

Der Reformationstag ist ein Tag, an dem - um es paradox zu formulieren - traditionellerweise Neues im Mittelpunkt steht. Eine neue Sicht auf das Leben, eine neue Sicht auf den christlichen Glauben. Und in unseren Tagen geht es für viele Menschen, insbesondere der Generation junger Menschen darum, eine neue Sicht auf unsere Welt zu entwerfen und so unsere Welt neu zu denken. Die Ökonomin Maja Göpel hat ein Buch mit dem Titel „Unsere Welt neu denken“ geschrieben, das genau dieses neue Denken zum Thema hat. Sie plädiert für ein zukunftsorientiertes Denken; ein Denken, für das andere Werte im Mittelpunkt stehen als einfach nur neues und immer größeres Wachstum. Ihre Vision eines guten Lebens für alle beschreibt einen Lebensstil, mit dem wir Menschen nur so viel aus dem Ökosystem unseres Planeten herausnehmen und konsumieren, wie wir auch wieder zurückgeben können.

Das breite öffentliche Interesse an Maja Göpels Buch macht deutlich: unser Leben verändert sich. Aber was das genau heißt, lässt sich noch nicht sagen. Dennoch suchen viele nach Antworten auf die Frage, wie wir zukünftig leben wollen und leben werden. Einerseits ist das spannend und weckt Neugier. Und andererseits ruft es Sorgen und Ängste auf den Plan. Denn während die einen bereit sind für Zukunft und Aufbruch, möchten andere, dass sich möglichst wenig ändert und am besten alles so bleibt wie es ist. Oder, dass alles wieder so wird „wie früher.“ Und bestimmt gibt es auch eine ganze Reihe von Menschen, die ihr Lebensgefühl als eine Mischung aus alldem beschreiben würden.

„Unsere Welt neu denken“ - der Reformator Martin Luther hat zwar kein Buch geschrieben, das so heißt. Aber er hat die Welt neu gedacht. Eine Welt, die sich auch damals in Umbrüchen und in Veränderungsprozessen befand. Auch damals übrigens verbunden mit einer medialen Revolution. Es waren zwar noch keine digitalen Welten, die sich den Menschen erschlossen, aber doch neue Seiten, Eindrücke, Bilder, die sich ihnen auf Papier eröffneten. All das durch das neue Massenmedium Buchdruck. Die Welt wurde buchstäblich größer - im eigenen Denken und in gewisser Weise auch in der Realität. Denn mit der Entdeckung eines neuen Kontinents hatte sich die Welt aus Sicht der Europäer gerade in kaum fassbarer Weise verändert und erweitert.

Das neue Welterleben und ein sich änderndes Weltverständnis stellte auch das bisherige Glaubensverständnis in Frage. Und weil so vieles in Bewegung geriet, fragten die Menschen neu nach Sicherheiten und Gewissheiten. Martin Luther formulierte diese Frage für sich so: Wie werde ich selig? Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Einen, der mich gütig, liebevoll ansieht? Und was kann, was muss ich dafür tun?

Die neue und nahezu revolutionäre Antwort, die Martin Luther nach langem Nachdenken und innerem Ringen auf diese Frage gefunden hat, diese Antwort bestand aus einem einzigen Wort: Nichts. Nichts kannst du dafür tun, dass du selig wirst. Nichts, aber auch rein gar nichts. Du kannst dafür nichts tun - und noch besser: Du musst dafür nichts tun. Sondern es ist allein Gottes Liebe, Gottes unbedingtes Eintreten für uns Menschen, die uns und unser Leben selig macht. Und diese Liebe Gottes, die kann man sich nicht erkaufen und man kann sie sich nicht verdienen. Sondern Gottes Liebe, die gibt es geschenkt, gratis. Sie ist es, die uns und unser Leben selig macht.

Genau diese neue Sicht auf das Leben eröffnete auch ein neues Verständnis dafür, wie die sich ändernde Welt und das Leben gestaltet, mitgestaltet werden können. Sie eröffnete ein Verständnis von menschlicher Freiheit, das auch für gegenwärtige Fragestellungen hilfreich und wichtig ist, weil es Freiheit, Entdeckungslust und individuelle Gestaltungs- und Entfaltungswünsche mit der Übernahme von Verantwortung verbunden hat. Ja, wir Menschen gestalten unsere Welt in Freiheit - niemandem untertan. Und zugleich: Wir gestalten unsere Welt in Verantwortung - gegenüber Gott, gegenüber anderen Menschen - und damit sozusagen jedermann untertan. Diese eigentümliche Spannung der Freiheit eines Christenmenschen -  frei und niemanden Untertan und zugleich verantwortlich gegenüber Gott und den Menschen und so jedermann untertan ist seitdem eine grundlegende evangelische Bestimmung menschlichen Selbst- und Weltverständnisses. Es geht dabei um Freiheit in Verbundenheit und Liebe.

Ich finde es bemerkenswert, dass dieses evangelische Freiheitsverständnis durch die Erfahrungen der Corona-Pandemie und die Herausforderungen des menschengemachten Klimawandels in unserer Zeit neue Konturen gewinnt. Nach Jahren und Jahrzehnten, in denen ein primär an persönlicher Entfaltung orientierter Individualismus im Mittelpunkt des Interesse stand, erinnert nicht nur die Bewegung der Fridays for Future daran, dass es nun prioritär darum gehen wird, in vielfältiger Weise zusammenzuarbeiten, um den großen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Und dafür ist nicht Konkurrenz gegeneinander oder Abgrenzung voneinander, sondern Kooperation miteinander nötig. Und dafür brauchen wir eine Ethik der Kooperation und des Vertrauens, einen globalen Gemeinsinn.

Gemeinschaft, Verbundenheit und Kooperation, auch Heimat als Ort unser Beziehungen, unserer Abhängigkeiten und Zugehörigkeiten, die Sehnsucht nach Geborgenheit - in und durch die Pandemie haben diese Themen eine neue Relevanz gewonnen. Sicher auch deshalb, weil alle Debatten, die wir zum Thema „Immunität“ geführt haben und weiter führen, neben dem medizinischen immer auch einen die Gemeinschaft, das Miteinander betreffenden Aspekt haben. Denn bei der Frage nach Immunität geht es auch darum, wer von welchen Formen der Gemeinschaft ausgeschlossen und wer in welche Formen der Gemeinschaft eingeschlossen wird. Und es geht darum, welche Gegengabe die Zugehörigkeit zu einer Form von Gemeinschaft erfordert. Immunitätsdebatten sind deshalb immer auch Gemeinschaftsdebatten. Häufig werden sie auch verbunden mit der Forderung nach „gesellschaftlichem Zusammenhalt“. Ich möchte deshalb kurz einige Aspekte skizzieren, die aus einem evangelischen Verständnis von Freiheit, Verantwortung und Gemeinschaft zu diesem Zusammenhalt beitragen können.

  1. Gemeinschaft entsteht nach evangelischem Verständnis nicht dadurch, dass ihre Mitglieder bestimmte Eigenschaften aufweisen und eine vorbestimmte Identität haben. Sondern: Gemeinschaft entsteht durch Kommunikation und Interaktion. Gemeinschaft ist damit keine feste, unveränderliche Größe mit starren Abgrenzungen, sondern sie ereignet sie sich immer wieder anders und immer wieder neu. So wie heute Abend auch hier unter uns und morgen für jede und jeden von uns mit anderen Menschen in anderer Weise. Gemeinschaft ist deshalb
  2. ein sich immer wieder erneuernder und zukunftsorientierter Kommunikationsort“[1]. Und damit auch ein Ort, an dem „Auseinandersetzungen und Konflikte nicht von vornherein zu verdrängen wären, sondern ausdrücklich als grundlegende Aspekte anerkannt und als solche zur Sprache gebracht werden müssten.“[2]
  3. Aus unserem evangelischen Glauben heraus vertreten wir als Kirche also ein Verständnis von Gemeinschaft, das alles andere als identitär ist. Es wird nämlich nicht „durch das Freund-Feind-Schema stabilisiert“, durch Ausschluss von angeblich „Anderen“, sondernist gerade durch eine „Durchlässigkeit und damit Offenheit für die Freiheit des Fremden bzw. Anderen gekennzeichnet.“[3]
  4. Als Kirche eröffnen wir Möglichkeiten, damit sich Gemeinschaft ereignen kann. Durch Kommunikation und Interaktion, in analogen Begegnungen und Veranstaltungen ebenso wie mit Hilfe digitaler Medien. Dialogisch. Partizipativ. Zwischen einander vertrauten und nahen wie zwischen einander (noch) fremden Menschen. Gemeinschaft, die immer wieder neu antwortet auf die menschliche Sehnsucht danach, gesehen und anerkannt zu werden. Es ist dieSehnsucht nach einem Gegenüber, das Ja zu uns sagt, uns Geborgenheit und Schutz gewährt. Diese Sehnsucht will immer wieder neu beantwortet werden - und sie wird es auch. Denn, so hat Martin Luther es formuliert, als Menschen sind wir das Geschöpf, mit dem Gott ewig im Gespräch sein will[4] - eben in Kommunikation und Interaktion. Und so, in Kommunikation und Interaktion - in der kirchlichen Tradition sagen wir: durch Wort und Sakrament - entstehen Trost und Hoffnung. Auch durch die Zusage Gottes: Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.

Wo Gemeinschaft ermöglicht wird, entstehen Kontakt, Austausch und Vertrauen. Alles Bedingungen für Zusammenarbeit, Verlässlichkeit und Kooperation, die wir gegenwärtig und zukünftig so dringend brauchen - in unserer Gesellschaft, im Zusammenspiel verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteure, im Wechselschritt von „gleichermaßen Distanz und Kooperation“, wie er im Güstrower Vertrag für das Verhältnis von Kirche und Bundesland so treffend formuliert ist.

Deshalb möge auch der heutige Abend beitragen zu Begegnung und Gespräch, zum gegenseitigen Verstehen, zur gemeinsamen Wahrnehmung von Verantwortung und so auch zu gesellschaftlichem Zusammenhalt. Als Nordkirche freuen wir uns deshalb sehr, und ich darf auch sagen: Ich freue mich persönlich sehr, dass Sie, sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, liebe Frau Schwesig, heute Abend unser Gast sind und nun zu uns sprechen werden! Ich bitte Sie um und freue mich auf Ihr Grußwort!

[1] Elisabeth Gräb-Schmidt/ Fernando G. Menga, Gemeinschaft an der Schnittstelle des sozialphilosophischen und theologischen Diskurses, in: dies. (Hrsg.), Grenzgänge der Gemeinschaft. Eine interdisziplinäre Begegnung zwischen sozial-politischer und theologisch-religiöser Perspektive, Tübingen 2016, 1-13, 6.

[2] Ebd.

[3] Gräb-Schmidt/ Menga, Gemeinschaft, aaO., 7.

[4] Vgl. Martin Luther, Genesisvorlesung, WA 43 (1912), Kapitel 17-30; hier: Kapitel 26, 481, z. 34-35: „Persona Dei loquentis et verbum significant nos tales creaturas esse, cum quibus velit loqui Deus usque in aeternum et immortaliter.“

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