Bischof Tilman Jeremias fordert gesamtdeutsche Aufarbeitung der DDR-Geschichte bei Novembertagung der Landessynode
21. November 2025
Am Freitag, den 21. November 2025 sprach Bischof Tilman Jeremias als Vorsitzender der AG Aufarbeitung der Nordkirche bei der 3. Tagung der III. Landessynode im synodalen Plenum zum Thema „Gemeinsame Vergangenheit-Geteilte Verantwortung. 35 Jahre Deutsche Einheit – was wir als Nordkirche zur Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit während der Zeit der DDR tun können".
Als Vorsitzender der AG Aufarbeitung der Nordkirche hielt der Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) Tilman Jeremias gemeinsam mit Frau Dr. Marie Anne Subklew, Mitarbeitende an dem Arbeitspapier zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte in den evangelischen Kirchen, einen Vortrag zum Thema „Gemeinsame Vergangenheit-Geteilte Verantwortung“. Inhalt der Ansprache waren insbesondere die Forderungen nach einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung der DDR-Geschichte und der Wahrnehmung von Einzelschicksalen. Ein Filmausschnitt aus dem Sprengelbericht Mecklenburg und Pommern von 2021 mit dem Betroffenen Heiko Lietz unterstrich diese Forderung eindrücklich. Bischof Tilman Jeremias erklärt: "Wir sind im Prozess der Aufarbeitung als Nordkirche nicht untätig. Unsere AG Aufarbeitung versucht auf Menschen zuzugehen, die zu DDR-Zeiten mit problematischem Agieren vonseiten ihrer Kirchen in Mecklenburg und Pommern konfrontiert waren.“
„35 Jahre Einheit – und doch bleibt die Teilung spürbar“
Bischof Tilman Jeremias benennt mit großer Klarheit die weiterhin bestehenden Bruchlinien im vereinten Deutschland und fragt, welche Verantwortung die Kirchen dabei tragen: „Dennoch spüren wir 35 Jahre nach der Deutschen Einheit, wie sehr unser Land noch in Ost und West gespalten ist, eine Spaltung, die sich nach soziologischen Studien gegenwärtig sogar noch vertieft. Wie kommt das und was können wir gerade als Kirchen tun?“ WestdeutscheNarrative und Urteile, nach denen Menschen im Osten „noch nicht in der Demokratie angekommen“ seien, besonders anfällig für Rechtsextremismus oder weiterhin auf „westdeutsche Nachhilfe“ in Sachen Demokratie angewiesen seien, vertiefen den gesellschaftlichen Graben nur. Solche pauschalen Zuschreibungen würden nicht nur historische Belastungen und unterschiedliche Startbedingungen nach 1990 ausblenden, sondern verletzen viele, die sich seit Jahrzehnten aktiv für demokratische Werte einsetzen. Bischof Tilman Jeremiasbetont: Wer Zusammenhalt will, muss diese Klischees hinterfragen und bereit sein, Ostdeutschland differenziert und respektvoll wahrzunehmen.
Gemeinsame Vergangenheit klar benennen
In seiner Einbringung macht Bischof Tilman Jeremias deutlich, dass das Zusammenwachsen von Ost und West nicht allein eine Aufgabe des Ostens ist. Vielmehr brauche es eine spürbare Haltungsveränderung im Westen. Die Erzählung einer „normalen westdeutschen Erfolgsgeschichte“ nach 1945 und einer davon abweichenden „Problemgeschichte“ des Ostens greife zu kurz und werde der Realität nicht gerecht. Während Westdeutschland durch die Unterstützung der Alliierten demokratische Strukturen und Freiheit aufbauen konnte, war die DDR-Bevölkerung einer Diktatur ausgesetzt und auch die Kirchen litten unter massiven staatlichen Repressionen. Er erinnert daran: Beide Teile des Landes teilen eine gemeinsame Geschichte und diese historische Wahrheit muss anerkannt werden.
Ostdeutsche Lebensgeschichten brauchen Raum und Resonanz
Zentral ist der eindrückliche Appell, die Erfahrungen der Menschen in der DDR und die Ereignisse nach 1989 mit größerer Aufmerksamkeit und erhöhter Sensibilität wahrzunehmen. Wer damals mit Kerzen und zitternden Knien für Frieden betete, wer den Mut hatte, sich der Stasi entgegenzustellen und das Wunder der eigenen Selbstermächtigung zu erleben, verdiene heute ein offenes Ohr, so Bischof Tilman Jeremias. Viele Menschen im Osten hätten bis heute das Gefühl, dass ihre Perspektiven, ihre Lebensleistung und ihr Alltag politisch kaum vorkommen und im Westen oft übersehen oder missachtet werden. Echtes Zusammenwachsen könne jedoch nur gelingen, wenn ihre Geschichten gehört, ernst genommen und in den gesamtdeutschen Diskurs einbezogen werden.
„Vereinigungs- und Heilungsprozesse brauchen eine Haltung der Demut“
Frau Dr. Marie Anne Subklew, Mitarbeitende an dem Arbeitspapier zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte in den evangelischen Kirchen, implizierte bewegende Zitate in ihren Vortrag darüber, wie ehrliche, transparenteAufarbeitung und entsprechendes, öffentliches Anerkennen durch die Kirche Heilung hervorbringen kann. Sie schließt Ihre Forderungen des Perspektivwechsels, ausgehend von der Nordkirche und übergehend in die EKD auf die gemeinsame Geschichte der Kirche Deutschlands, geordnete Verfahren der Aufarbeitung und öffentliche Verantwortungsübernahme mit folgenden Worten ab: „Wir können Räume öffnen, da, wo Schuld bekannt, Verletzungen und Trauer benannt, Zuhören geübt und vielleicht Heilung ermöglicht werden kann.“
Synodengottesdienst in Erinnerung an die Friedensgebete im Herbst 1989
„Lasst uns unseren christlichen Glauben gemeinsam bezeugen in herausfordernder Zeit, für Frieden beten so wie damals, unsere Freiheitskraft und den christlichen Hoffnungstrotz einer Gesellschaft entgegenhalten, die nach Militarismus, Nationalismus und Egoismus ruft. Seid sicher, wir aus Ostdeutschland, gerade wir Kirchenleute, können dazu eine Menge beitragen“, appelliert Bischof Tilman Jeremias. Anschließend an den Vortrag und zum Abschluss des zweiten Tages der Landessynode, findet der Synodengottesdienst in der Kirche St. Lorenz Travemünde statt, der im Stil und somit in wiederauflebender Erinnerung an die Friedensgebete im Herbst 1989 gestaltet ist. In Dr. Marie Anne Subklews Worten „das wunderbare Jahr der Anarchie mit friedlicher Revolution“.
Hintergrund Arbeitspapier:
35 Jahre nach der Deutschen Einheit stellte eine Arbeitsgruppe von Expertinnen und Experten am 01. Oktober 2025 Empfehlungen zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte in den evangelischen Kirchen vor. Im Mittelpunkt der von Pastor i. R. Klaus-Dieter Kaiser (Mitglied der Ad-hoc-Arbeitsgruppe und der AG Aufarbeitung der Nordkirche) moderierten Diskussion stand das Positionspapier „35 Jahre Deutsche Einheit – Empfehlungen zur Aufarbeitung in den evangelischen Kirchen Deutschlands“. Bischof Tilman Jeremias, Vorsitzender der AG Aufarbeitung in der Nordkirche, erinnerte an die tiefen Brüche in den Biografien vieler Ostdeutscher und verwies auf aktuelle Umfragen, nach denen noch immer 61 Prozent der Westdeutschen und 75 Prozent der Ostdeutschen das Trennende in der Wiedervereinigung überwiegen sehen. (Einsicht in weitere Hintergründe und das Papier der Ad-hoc-Gruppe: https://www.nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/gemeinsame-vergangenheit-geteilte-verantwortung-nordkirche-diskutiert-empfehlungen-zur-aufarbeitung-der-ddr-geschichte)
