2. November 2019 | St.-Trinitatis-Kirche Stettin/Szczecin

Dank für Gottes Weg der Versöhnung – gemeinsam in christlicher Partnerschaft unterwegs in Europa

02. November 2019 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Predigt zu Markus 2,1-12 im Ökumenischen Gottesdienst anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Partnerschaftsvertrages zwischen den Diözesen Wrocławska und Pomorsko-Wielkopolska und der Nordkirche

I

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

über den Köpfen der Menschen beginnt es zu rieseln. Lehm bröckelt herab. Stroh fällt auf den Boden. Die Menschen weichen zurück. Schauen nach oben. Das Dach hat ein Loch bekommen. Schon ist ein Stück Himmel zu sehen. Dann sieht man Hände. Sie entfernen Lehm, Stroh und Bretter. Und dann wird an Stricken eine Matte durch das Dach herabgelassen. Auf ihr liegt ein Mensch. Ein gelähmter Mensch.

Jesus hört auf zu reden. Er blickt auf den Mann, der vor ihm liegt und ihn erwartungsvoll ansieht. Er sieht seine Hoffnung. Dann blickt er nach oben. Sieht die Gesichter, die durch das Loch nach unten schauen. Auf ihn. Er spürt ihre Erwartungen.

Gelähmt sein, nicht auf eigenen Beine stehen, sich nicht auf den Weg machen können – ein Schicksal, das Menschen durch Unfall oder Krankheit treffen kann. Andere leiden an Lähmungen und Erstarrungen, die Seele und Geist, Gedanken und Gefühle betreffen. Nicht nur Einzelne, auch ganze Menschengruppen können von solchen Erstarrungen betroffen sein. Wie gelähmt und unfähig, neue Wege einzuschlagen.

Der Gelähmte in unserem Predigttext hat Freunde. Sie sind für ihn da. Sie geben ihn nicht auf. Sie hoffen, dass es Heilung aus dieser Lähmung gibt. Deshalb tragen sie ihn in die Nähe des Heilenden, des Heilands. Weil sie hoffen, dass durch Jesus die so sehr ersehnte Heilung geschieht.

II

„Da er nun ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Für Jesus scheint klar zu sein: Es geht hier um eine Lähmung, die nicht allein körperliche Ursachen hat. Sondern um eine Lähmung, die in seelischen Vorgängen wurzelt. Um eine Lähmung, die mit Schuld, mit Sünde zu tun hat. Die moderne Psychologie und Psychoanalyse würde einer solchen Sicht Recht geben: Schuld, die auf uns lastet, kann lähmen. Nicht nur bildlich, sondern auch ganz körperlich. Sie lässt erstarren und verhärten. Schuld, die auf uns lastet, kann lähmen, unsere Seele geradezu fesseln. Das nimmt uns die Kraft, neu zu beginnen.

Genau diesen Zusammenhang spricht Jesus an. Er spricht von Sünde – und spricht sie als das an, was Menschen lähmen kann. Und er erlöst von dem, was starr und unbeweglich machen kann – Jesus vergibt. Und lässt neu aufstehen. Neue Wege gehen in das Leben hinein. Beweglich werden.

III

Wenn wir heute auf diese biblische Geschichte hören, dann hören wir sie im Kontext der Geschichte der Partnerschaft der Diözesen Wrocławska und Pomorsko-Wielkopolska mit der Pommerschen Evangelischen Kirche und der Nordkirche. Auch diese Geschichte ist eine Geschichte von Schuld. Schuld, die benannt und bekannt wurde.

Sie ist aber auch eine Geschichte von Händen, die ausgestreckt und deren Berührungen dankbar angenommen wurden. Es ist die Geschichte von Polinnen und Polen, die den Weg aus Lähmung und Erstarrung neu geöffnet haben. Sie sind einen Weg auf Menschen in Deutschland zu gegangen. Einen Weg, der Raum eröffnet hat für das Aussprechen von unermesslich großer, von deutscher Schuld, die ihren Ausgang nahm, als vor 80 Jahren das nationalsozialistische Deutschland Polen überfiel, acht Tage nach dem unseligen Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes, mit dem die beiden Diktaturen das Baltikum und Polen, Finnland und Rumänien unter sich aufteilten. Einen Weg, der nach aller übergroßen Schuld dennoch ein Weg wurde, der zur Bitte um Versöhnung führte. Einen Weg, der neue Anfänge und menschliche Wege aufeinander zu ermöglicht hat. Dafür bin ich Ihnen und allen, die diesen Weg miteinander gegangen sind und weiterhin miteinander gehen, von ganzem Herzen dankbar. Ich danke Gott dafür – und allen Menschen, die sich von Gott diesen Weg haben zeigen lassen und ihn beschritten haben. Ich bin dankbar, dass wir mitten in Europa so miteinander unterwegs sind!

Denn unser modernes Europa wurde nach Jahrzehnten von schrecklichen Verbrechen, unsagbarem Leid, nach Tod und Verfolgung und mörderischen Kriegen zu einem Friedensprojekt. Dieses Europa, die heutigen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland, auch unsere Partnerschaft, sie sind auf dem Hintergrund der Leiden der letzten Jahrhunderte entstanden. Denn die Menschen hatten genug davon. Sie wollten Krieg, Teilung und Unterdrückung beenden. Aus den Schrecken des Ersten Weltkrieges, aus dem Grauen des Zweiten, aus deutscher Schuld wollten sie Neues wachsen lassen. Ein anderes, friedliches Miteinander. Eine Partnerschaft. Mutige und gläubige Menschen sind dafür aufgestanden. Sie sagten: Wir lassen uns nicht mehr von der Vergangenheit lähmen.

Was für ein Wunder vor unseren Augen – und was für ein Wunder in den Herzen dieser Menschen. Männer und Frauen, die einen neuen Anfang wollten, ein Ende von Leid und Terror und Schrecken! Wenn wir wie sie immer wieder neue Anfänge suchen, wenn wir gemeinsam Abgrenzung und Egoismus eine Absage erteilen, dann wird Europa auch weiterhin ein Friedensprojekt bleiben und wird es auf neue Weise weiter werden.

Heute sind die Grenzen zwischen unseren Ländern offen. Im 30. Jahr der Friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR und im 29. Jahr der Deutschen Einheit denken wir dankbar daran, dass vor allem und in besonderer Weise hier in Polen Menschen  mutig und beherzt für Reformen, für Veränderungen, für das Ende von Diktatur und Unfreiheit aufgestanden sind. Mit ihrem frühen und eindrücklichen Engagement haben sie andere ermutigt und gestärkt, es ihnen gleich zu tun! Heute besuchen Menschen aus Ost und West einander in Freiheit, mit Freude, und ganz selbstverständlich – so wie wir. In Ost wie West finden sie Arbeit und Freunde. Und manche finden einander fürs Leben. All das ist eine Frucht des Friedens und des Mutes vieler Menschen in unserer jüngeren Geschichte. Vor allem aber ist es ein kostbares Erbe, das es zu behüten und zu bewahren, zu schützen gilt. Ein Erbe, das uns verpflichtet.

Am 7. Dezember 1970 wurde der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“ von Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz sowie den beiden Außenministern in Warschau unterzeichnet. Unmittelbar vor der Unterzeichnung legte Bundeskanzler Willy Brandt am Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto einen Kranz nieder. Er kniete nieder und verharrte mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf für eine halbe Minute. Ein Akt der tiefen Reue für die deutschen Verbrechen in Polen.

Dieser Kniefall Willy Brandts ist ein bleibendes Bild dafür, wie Menschen aussteigen aus dem Kreislauf von Hass und Schuld. Wie sie Erstarrung, Lähmung und Schuld aufbrechen. Mein Großvater war von dieser Geste tief beeindruckt.  Als ich ihn einmal fragte, was Willy Brandt für ihn so bedeutend machte, hat er ganz schlicht geantwortet: „Weil er einmal, in einem wichtigen Moment, niedergekniet ist.“

Dass es zu dieser Geste der Reue und der Bitte um Vergebung gekommen ist, hat wohl viel mit dem Hirtenbrief der katholischen polnischen Bischöfe von 1965 zu tun: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“.  Ein mutiger Schritt war diese Denkschrift, ein Brückenschlag zwischen ehemals verfeindeten Ländern, ein Friedensgruß. Und auf deutscher Seite ging die „Ostdenkschrift“ der Evangelischen Kirche in Deutschland im selben Jahr ebenfalls wichtige Schritte hin zu einer dauerhaften Anerkennung der Westgrenze Polens. Ob die neue Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland ohne sie wirklich geworden wäre? – Ich weiß es nicht. Aber ich denke: Sie hat ganz entscheidend dazu beigetragen.

Und die Partnerschaft der Diözesen Wrocławska und Pomorsko-Wielkopolska der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen mit der Pommerschen Evangelischen Kirche wäre nicht möglich gewesen ohne den Gottesgeist der Versöhnung, der in den 1970er Jahren die evangelischen Kirchen in Polen und der DDR ergriff. Im Sekretariat des Kirchenbundes der DDR wurde eine Kontaktgruppe Polen gegründet. Deren Initiativen setzte dann eine deutsch-polnische Arbeitsgruppe für die Region Pommern auf beiden Seiten der Oder in konkrete Schritte um.

IV

In unserer vertraglich vereinbarten deutsch-polnischen Partnerschaft, die in genau zwölf Tagen zwanzig Jahre alt sein wird, stehen nicht mehr Konflikte im Vordergrund. Gott sei es gedankt – Gott sei dafür gelobt! Gerne machen wir uns auf die manchmal ganz kurzen, aber oft auch weiten Wege zueinander. Und so ist es schön, dass ich gleich in den ersten Monaten meiner Amtszeit als neue Landesbischöfin so oft Bischofsbrüdern aus unseren Partnerdiözesen begegnen konnte. Bei Einführungen und Verabschiedungen, bei ökumenischen Treffen – sehr herzlich danke ich für unsere geschwisterlichen Begegnungen!

Es ist uns in dieser Partnerschaft wichtig, dass wir uns begegnen, uns austauschen, einander wahrnehmen. Das ist viel. Gerade angesichts der furchtbaren von uns Deutschen heraufgeführten Vergangenheit zwischen unseren Ländern. Und auch angesichts der gegenwärtigen Zerrissenheit in Europa. Wie wichtig, wie gut, wie bedeutend ist in all dem unsere christliche Partnerschaft! Ihre Lebendigkeit berührt mich – ebenso wie alles, was ich heute hier erlebe. Und mich bewegt die sichtbare Gestalt, die unsere Partnerschaft vorhin beim gemeinsam Setzen des Peace Pole angenommen hat.

V

Liebe Geschwister, die 70.000 evangelischen Christinnen und Christen Ihrer polnischen lutherischen Kirche bilden einen sehr kleinen Anteil in der fast gänzlich katholischen Gesellschaft Ihres Landes. Ihre Gemeindeglieder müssen oft weite Wege zurückzulegen, um an Gottesdiensten und Gemeindeveranstaltungen teilzunehmen. Aber ich höre dabei viel vom engagierten Gestalten der Kirchengemeinden in eben den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten. Die Fröhlichkeit, das Gottvertrauen dabei sind beeindruckend. Von dieser besonderen Kraft der kleinen Kirchen, der Glaubwürdigkeit von Kirchengemeinden, die als Minderheit leben, können wir in unserer Landeskirche viel lernen! Danke, dass Sie Ihre Erfahrungen mit uns teilen!

Wenn Kirchen das Evangelium des Friedens und der Versöhnung bezeugen, entstehen neue Räume. Räume, in denen Gottes Kraft und Gottes Liebe sich entfalten können. Im 84. Psalm heißt es: „Wohl den Menschen, die Gott für ihre Stärke halten und von Herzen ihm nachwandeln! … Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie gehen von einer Kraft zur andern und schauen den wahren Gott in Zion.“ So möge es sein. – Amen.

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