Die Macht des Wortes
08. Februar 2015
Sexagesimae, Predigt zu Jesaja 55, 8-13
Denn meine Gedanken, sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege, und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt sie wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.
Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem Herrn soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.
Liebe Gemeinde,
Wer Ohren hat zu hören. – Oje! Wir sind umgeben von einer Flut von Worten. Täglich. Hörend, sehend, über Sender tickernd. Oft sind es hohle, leere Worte. Denn sie lassen nichts zurück.
Anders dagegen die wichtigen Texte der Welt: Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung zum Beispiel. Ihr reichen ganze 300 Worte. Und das wichtigste überhaupt: das Vaterunser. Es hat ganze 56 Worte… Weniger ist alles.
Dagegen hat die sicherlich „unverzichtbare“ Verordnung der Brüsseler Kommission für den Import von Karamellerzeugnissen 26.911 Worte – vor dem tröstlichen Hintergrund bereite ich Sie denn schon einmal zart darauf vor, dass Sie nun noch ca. 1.600 Worte erwarten…
Wer Ohren hat zu hören: Es geht heute um das lebendige Wort. Das Wort, das in einem Mut entstehen lässt und Trost und Klarheit. Wort, das einen nährt wie frisches Brot. Menschen können es sich schenken. „Ich liebe dich, was immer kommt", das ist so ein Wort. Oder: „Was hätte ich ohne Sie in meiner Not bloß gemacht?!" Oder: Bleib bei mir, denn es will Abend werden. Worte, die einen treffen, weil sie uns rühren, freuen, friedvoll machen. Sie „meinen" uns. Und würdigen uns…
…Oder tun es genau nicht. Es gibt eben auch Worte, die treffen im anderen Sinne: sie verletzen und werten ab. Wir haben alle schon solche Worte gehört, die in uns nagen. Weil wir sie ungerecht empfinden, bitter und demütigend. Treffende Worte oder treffende Unworte, die ja eigentlich nur kurzer Schall sind, der verhallt – sie bewirken viel! Etwa, dass wir einen ganzen Tag lang glücklich sind – oder: traurig und voller Selbstzweifel versuchen, durch die Woche zu kommen.
„Eure Gedanken sind nicht meine Gedanken", spricht Gott. „Dem Wort, das aus meinem Munde geht, wird gelingen, wozu ich es sende." Und das ist: das Leben pur. Und wie das geht, dafür zeichnet Jesaja prächtige Bilder: Wie Regen und Schnee an einem kalten sonnigen Wintermorgen wie heute nach und nach einsickert und die Erde befeuchtet, so wird es später Frucht bringen. Eine Zukunft, in der alles gut wird – Friede und Freude und Lust, ein Frühling, der die Kälte überwunden hat und frohlockt, mit Bäumen, die in die Hände klatschen! – Wie durch diese Worte Bilder entstehen!
Sie führen uns theologisch nicht zufällig zurück in die Schöpfungsgeschichte. Als Gott den paradiesischen Garten schuf – mit all den Tieren, Bäumen, dem Menschen darin – geschah dies ja vor allem durch sein Wort: Gott sprach: Es werde… – und es ward Licht! Gottes Wort schafft das Leben auf der Erde. Wie revolutionär diese Ansicht war, zeigt sich gerade im Vergleich zu den anderen Vorstellungen jener Zeit: Mit den Götter- und Titanenkämpfen, die andere Völker und Kulturen als gewaltvollen und blutigen Anfang der Welt annahmen.
Unsere Schöpfung dagegen: nicht mit Gewalt, mit dem Wort!
Wir wissen, die Harmonie der Schöpfung hält nur kurz. Licht und Leben wird durchbrochen durch Tod und Gewalt. Der Mensch mit seinem wahrhaft großen Potenzial, im Guten wie im Bösen, bricht durch. Im Bösen, das sich steigern kann bis zum blanken Vernichtungswillen und zum Völkermord.
Wir erleben es derzeit in erschütternder Weise im Irak. Und, das tritt immer so in den Schatten!, in Nigeria! Genozide, nichts weniger. Getrieben – ja, von fundamentalistischen Ideologien. Gottlosen Gewaltexzessen. Alle Welt steht verstört davor. Und sprachlos letztlich auch.
Gerade angesichts all der vielen Gedenken in unserem Land in diesem Jahr, die uns eindringlich mahnen: Nie wieder! Just vor zwei Wochen haben wir zum 70. Mal der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gedacht. Hier nebenan im Zeughaus wusste man sich vereint in Trauer und stummer Betroffenheit, die Mitglieder der jüdischen Gemeinde sowie der christlichen und islamischen, viele Politiker und Senatoren. Das mahnende Gedenken gehört zur Lübecker Stadtkultur. Ganz ausdrücklich. Nie wieder, zwei Worte. Weder die Opfer noch die Schrecknisse der Nazi-Diktatur dürfen vergessen sein.
Und zugleich habe ich das Gefühl: die Reden bleiben oft gleichermaßen im „Vorraum" des Eigentlichen. Wir leben in Deutschland nach Auschwitz. Wollen gedenken. Doch unglücklicherweise fehlen uns oft die Worte. Auch 70 Jahre danach. Bald werden die allerletzten Zeitzeugen gestorben sein; und so empfinden nach mehr als zwei Generationen etliche: Schweige lieber, denn du findest kein angemessenes Wort.
In einem ihrer Gedichte hält Nelly Sachs gegen:
Ohr der Menschheit,
du verwachsenes,
würdest du hören?
Wenn die Stimme der Propheten
auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder
blasen würde –
wenn die Propheten
… aufbrächen dein Gehör mit den Worten:
Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis,
wer will den Sterntod erfinden?
Nacht der Menschheit,
würdest du ein Herz zu vergeben haben?
Würdest du, bitte, es hören, liebe Gemeinde, und dein Herz vergeben? Das verwachsene Ohr braucht Worte, die es aufnehmen kann. Worte, die die Erstarrung aufbrechen. Die wie Regen in das Land einsickern und Eingang finden in Herz und Seele. Worte, die uns ebenso tragen wie sie uns verändern.
Es braucht solche Worte, die uns den Frieden glauben machen und uns innerlich festigen, weil sie uns „er-innern". Daran, dass wir etwas vor uns haben, ohne zu verleugnen, dass auch viel hinter uns liegt. Doch genau dazu muss man reden, um Worte ringen, von Generation zu Generation: Wir müssen Worte suchen und aussprechen, um den Opfern auch nur annähernd gerecht zu werden – im Erzählen, im Lehren und Lernen, mit jedem Stolperstein, mag sein im Predigen.
Der Prophet Jesaja hat sich dies getraut – zu predigen. Denn er stellt sich doch tatsächlich hin, als einer, der wie alle anderen Israeliten im Exil mit dieser furchtbaren Hoffnungslosigkeit kämpft, und sagt diese sanften, starken, drängenden Worte. „Ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden." Heißt: Er vitalisiert Gottes Wort in die leidende Welt hinein! Am Ende werden Berge jubeln und Bäume und die Mauern der Gefängnisse werden verfallen, sagt er. Am Ende triumphiert Gottes Wort über die, die andere mundtot machen wollten. Am Ende siegt das Leben über den Tod.
Wir brauchen sein Wort, das Leben schafft. Um heutzutage gegenzuhalten gegen diese zunehmend ungehemmte Wortaggression. Nicht erst seit Pegida und ihren unsäglichen undemokratischen, menschenverachtenden Parolen, für die wir nicht das Ohr der Menschheit in Anspruch nehmen dürfen, um sie zu „verstehen"! – nicht erst seit Pegida ist mein Eindruck, dass das Gebrüll zunimmt, die Vereinfachung, das Anschwärzen und Niedermachen.
Manchmal bekomme ich Mails von Menschen, die unseren Dialog mit dem Islam kritisieren. Wenn ich höflich zurückschreibe, kommt eine umso wütendere Mail zurück. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums dasselbe. Kürzlich in Hamburg fand eine Diskussion statt über Flüchtlinge, organisiert von der Tageszeitung "taz". Nach fünf Minuten stürmten Autonome den Saal. Man wolle keine Diskussion. Man wisse ja sowieso, dass dabei nichts herauskomme.
Es wird Zeit, liebe Gemeinde, gemeinsam die Sprache wiederzufinden. Worte der Geschwisterlichkeit. Und das heißt auch: Widerworte gegen die zunehmenden Feindseligkeiten aller Art. Der Ton ist in unserem Land scharf geworden. Es ist deshalb Zeit, unser Ohr zu schärfen. Das Ohr der Menschheit braucht die Aufmerksamkeit fürs Widerwort zur rechten Zeit. Aber es braucht, um nicht bitter zu werden, zugleich den Klang vom anderen – von der Musik des Lebens. Von der Zartheit der Seelen. Vom Wort des Heils. Von der Liebe.
Der Filmemacher Radu Mihaileanu findet solch eine Sprache für dieses andere. Er traut sich gewissermaßen auch zu predigen und, selbst Jude, gemeinsam mit der jungen Generation zu fragen, wie das Neue denn aufbrechen könnte? Mihaileanu ist Rumäne, Jahrgang 1958; sein Vater hat Theresienstadt überlebt. In seinem Film „Zug des Lebens" versteht er in ganz sensibler Art, dem Tragischen die Note jüdischen Humors beizufügen. Er wolle eben nicht den Tod zeigen, sagt er, „sondern das Leben, das getötet wurde."
Ich würde Sie gern, liebe Gemeinde, am Schluss mit hineinnehmen in diesen Zug des Lebens. Erzählt wird die Geschichte eines jüdischen Schtetls in Osteuropa im Jahr 5701 (also 1941). Die ganze Gemeinde ist von Deportation durch die Deutschen bedroht. Da kommt Schlomo, dem weisen Dorftrottel, die rettende Idee: Um sich zu tarnen, soll sich das gesamte Schtetl in einem falschen Zug selbst deportieren und nach Palästina fliehen. Gedacht, getan: Ein alter Zug wird gekauft und renoviert, ein „deutscher Major" wird ernannt, mit seinen „Soldaten" in selbst geschneiderte deutsche Uniformen gesteckt und mit der deutschen Sprache vertraut gemacht. Mit letzterem hat der Lehrer seine liebe Not und erklärt schließlich: „Das Deutsche ist sehr hart, präzise und traurig. Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen. Hat jedoch obendrein Humor. Ich verlange also nur von Ihnen, wenn Sie perfekt Deutsch sprechen wollen, ohne jiddischen Akzent!, den Humor wegzulassen."
Als sich der Zug tatsächlich in Bewegung setzt, beginnt eine Flucht mit vielen Hindernissen. Schließlich steht gar die echte SS auf den Schienen. Im Angesicht dieser Bedrohungen betet der Rabbi: „Naja, lieber Gott, ich hab' nie gedacht, dass wir es alle schaffen. Aber lass wenigstens zu, dass die Kinder und Jugendlichen über die Grenze kommen, und ihren Frieden finden in Palästina. Und auch die Frauen und die Männer; die Kinder brauchen Eltern. Und wenn du schon alle gerettet hast, warum dann nicht auch noch die Alten? Was haben sie Dir getan?" – So werden alle Barrieren schließlich überwunden, die Flucht scheint am Ende geglückt. Die letzte Einstellung des Films jedoch zeigt noch einmal Schlomo: In schwarz-weißer Häftlingskleidung steht er hinter dem Stacheldrahtzaun in Auschwitz und sagt:
„Das ist die wahre Geschichte meines Schtetls – a no: fast die wahre."
Ob Schlomo den Krieg überleben werde, wurde der Filmemacher gefragt. „Das hängt nicht von mir ab", lautet seine Antwort, „das hängt von Ihnen ab. Wenn Sie Schlomo vergessen, stirbt er, wenn Sie ihn nie vergessen, wird er nie sterben."
Wort des Lebens. Hören wir es und sagen wir es, liebe Gemeinde. Und weil uns weinen macht und lachen, was wir erkannt haben, werden wir auch Worte finden, die nicht vergessen werden. Worte, die das Herz erreicht haben. Und die nicht leer zurückkehren, weil sie einem anderen Menschen Halt gegeben haben und Liebe und Zuversicht.
Denn das, liebe Gemeinde, ist doch unsere Aussicht: Gott wohnt in unserer Geschichte, in unserem Zug des Lebens. Er weint mit uns und lacht mit uns. Er ist mit uns, hier oder in der Synagoge nebenan, an jedem Ort, wo Menschen zur Besinnung kommen. Er ist dort, wo Hände gefaltet werden und nicht zu Fäusten geballt. Und er ist dort, wo der Sprache des Friedens neue Worte einfallen, Worte, die unser Herz versteht.
Schalom Schlomo.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen