Die universale Kraft der Friedensbotschaft
24. Dezember 2015
Gottesdienst zur Christvesper am Heiligabend, Predigt zu Lukas 2
Der Friede von Gott unserem Vater und das Licht unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen in der dieser Heiligen Nacht. Amen
Liebe Festgemeinde!
„Es begab sich aber zu der Zeit…“ – wie oft haben Sie diese Geschichte schon am Weihnachtsabend gehört? Zwanzig Mal? Vierzig, gar achtzig Mal? Jedes Jahr dieselbe Geschichte. Und trotzdem behält sie ihre Tiefe. Und das mit nur 379 Worten! Anders als die langen Heldengeschichten wie Harry Potter, Herr der Ringe oder gerade jetzt: Star Wars. Klar sind das auch gute Geschichten, zumindest sind sie sehr beliebt. Siegt ja auch dort das Gute über das Böse, wie in der Weihnachtsgeschichte. Aber versuchen Sie mal, Star Wars in 379 Worten nachzuerzählen…
Heißt: In der Weihnachtsgeschichte geht es um`s Eigentliche. Um Elementares für unser Leben. Sie ist damit berückend lebensnah: Da ist ein unverheiratetes Paar, das Heimat sucht. Die junge Frau bekommt ein Kind, und nicht nur für sie verändert sich die Welt total. Überhaupt haben viele in dieser Zeit Angst vor der Zukunft. Und da steht auf einmal einer und sagt: Fürchtet euch nicht! Einfach so! Und tatsächlich: in der Dunkelheit leuchtet plötzlich ein heller Stern. Der neue Augenstern. Ein neugeborenes Kind, das für den Sieg des Lebens steht.
All das, liebe Gemeinde, ist doch eine universale Sprache, die weltweit und zu jeder Zeit verstanden wird! Leichte Sprache, von Engelsflügeln getragen. Und so wurde diese alte Geschichte behutsam durch die Völker und Zeiten weitergegeben, in etwa so, wie wir eine Kerze an der Kerze eines anderen anzünden. Ein immerwährendes Licht auf unserem Weg zur Ewigkeit. Tröstlich, nicht wahr? Gerade doch auch für sie, die heute Nacht Trauer empfinden. Die Flamme leuchtet immer weiter – das Licht eines gelebten Lebens erhellt weit über sich selbst hinaus das Leben anderer!
Und so wird die alte Botschaft auf einmal frohe Botschaft. Weil sie uns in unserenRealitäten sieht und versteht. Ganz besonders anrührend ist mir das in den vergangenen Tagen bei einem Video auf Youtube begegnet. Titel: Die Wilhelmsburger Weihnachtsgeschichte. Da sieht man mitten im Getümmel dieses Multikulti-Stadtteils die unterschiedlichsten Menschen, wie sie - die Bibel in der Hand - die Weihnachtsgeschichte lesen, Satz für Satz, an den ungewöhnlichsten Orten. Vor dem Jobcenter etwa, vor dem Bürgerhaus, zwischen Schafen mitten im Stall, zwischen Hochhäusern und Kleingärten und auch bei der Lebensmittelausgabe der Tafel. Dort hören wir: „Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe … Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem“ – was da heißt: das Haus des Brotes.
„Mit seinem vertrauten Weibe, die war schwanger.“ Da sieht man eine Hebamme, hochschwanger (heute ist Geburtstermin!) – und sie liest das zu Herzen gehend zärtlich. Neben ihr eine Frau, die im gebrochenen Deutsch fortfährt: „Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Im Hintergrund hunderte Container einer Flüchtlingsunterkunft.
Und während ich das sehe, schieben sich unmittelbar Bilder des weltgrößten Flüchtlingslagers Zaatari darüber. Stellen Sie sich vor: Unzählige Container und Zelte in der Wüste. Als ich vor einigen Wochen vor Ort war, in Jordanien nahe der syrischen Grenze, ist mir das so Herzen gegangen – Zehntausende von Männern, Frauen und so vielen Kindern, die doch mehr Obdach brauchen als ein Zelt und mehr Zukunft als ein Stück Brot am Tag! Was dieser Krieg in Syrien anrichtet und vernichtet hat – das hat man in dieser kilometerlangen, nicht enden wollenden Zeltstadt hautnah erlebt. Kinder, die taub wurden, weil die Bomben direkt neben ihnen detonierten. Jugendliche, denen die Furcht buchstäblich die Sprache verschlagen hat.
Dort habe ich Christen getroffen aus aller Herren Länder, die wie selbstverständlich Dienst tun. Die in zwei Schichten die Kinder unterrichten, Krankenhäuser am Laufen halten und all die schlimm Verletzten an Leib und Seele im Arm halten. Sie tun es ganz bewusst als Botschafter des Friedens. Fast mit dem direkten Blick ins Heilige Land. Dorthin, wo alles begann. Ganz nah ist dort alles. Ganz nah das heutige Bethlehem. Die Kriege. Der Jordan. Aber auch diese alte Geschichte.
Und ich höre wieder die Wilhelmsburger: „Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, als Quirinius Statthalter in Syrien war.“
Syrien. Wir dürfen ja über all die aktuellen Geschehnisse nicht vergessen, dass dieses Land in unserer Tradition eine wesentliche Rolle spielt. Auch wenn die römische Provinz Syrien nicht deckungsgleich mit dem heutigen Syrien ist, zeigt sich hier doch, wie die Bibel die Deutung unserer Welt vom Morgenland her erzählt und nicht etwa vom Abendland. Ex oriente lux, aus dem Osten kommt das Licht. Schon deswegen verbietet es sich, allein das Abendland als Heimat unserer Werte zu glorifizieren. Syrien, das ist Teil auch unserer Geschichte. Nebenbei bemerkt: in der alten Luther-Übersetzung heißt es nicht „Statthalter“, sondern „Landpfleger in Syrien“. Was für ein treffendes Wort! Wie wichtig wäre es, dass dieses Land wieder gepflegt würde und nicht von Statthaltern fremder Mächte verwüstet.
Es ist alles ganz nah, ganz nah gerückt in dieser Welt, das ist mir in Jordanien klar geworden. Auch, dass das, was wir hier tun und denken, dort unmittelbare Auswirkungen hat. Noch nie bin ich im Ausland so oft und so freundlich darauf angesprochen worden, wie dankbar man den Deutschen und ihrer Kanzlerin ist für ihr beherztes „Wir schaffen das!“ Sie glauben gar nicht, wie viele junge Menschen dort ein Foto von Angela Merkel als Bildschirmhintergrund auf ihrem Smartphone haben. Nicht, weil die ganze syrische Welt nach Deutschland will. Nein, sie sind dankbar, dass ein europäisches Land mit einer solchen Empathie die Nöte des syrischen Volkes wahrgenommen hat!
Wie all die jungen Leute hier es auch wahrnehmen. Sie, die auf dem Hauptbahnhof, der Neuen Burg nebenan oder eben in Wilhelmsburg auch heute am Heiligen Abend die erschöpften Flüchtlinge mit großer Gastfreundschaft in Empfang nehmen. Es sind Tausende von Ehrenamtlichen, die die Sprache der guten Tat sprechen. Wunderbar ist das, liebe Gemeinde. So viele Hamburger und Hamburgerinnen stehen zu diesem Programm, das Nächstenliebe heißt. Offenkundig so überzeugend, dass wir jüngst eine E-Mail bekamen, aus Washington D.C. von einem lutherischen Pastor: Er habe gehört, wie sehr sich die Christen in Hamburg um syrische Flüchtlinge kümmerten. Daraufhin habe seine Gemeinde eine Kollekte gesammelt. „As a sign of our gratitude for your work” – „als Zeichen unserer Dankbarkeit für eure Arbeit.“
Und also: Weiter so! Fürchtet euch nicht, ihr Hirten, spricht der Engel. Ihr Hüter der Menschlichkeit. Fürchtet euch nicht, Mensch zu sein. Viel öfter müssen wir dies hören und sagen, liebe Gemeinde! Uns nicht die Sprache verschlagen lassen. Insbesondere nicht von denen, die uns einreden wollen, dass wir schwere Einschränkungen und Überfremdung befürchten müssten. Denn, Hand aufs Herz - wir haben doch überhaupt noch keine Einschränkung erlebt?! In diesem reichen Land, oder geht es Ihnen anders? Wir haben vielmehr Vermögen in vielerlei Hinsicht. Haben Kraft. Sprachfähigkeit. Weltoffenheit. Einen Glauben, auch wenn wir zu wenig von ihm reden… Und wir haben Herz. Fürchtet euch nicht!
Wir können und müssen den Mund aufmachen, wenn andere herabgewürdigt oder beschimpft werden – denn es gibt ja leider auch Hass und böse Nachrede in diesem Land. Und allein 1600 fremdenfeindliche Übergriffe auf Flüchtlinge in diesem Jahr! Das Böse wird zu stark, liebe Gemeinde, wenn wir zu leise sind, zu zaghaft, wenn wir das Gute zu schwach vertreten!
Deshalb braucht es in dieser Zeit mehr denn je diese alte Geschichte. 379 Worte, die in unsere Realität hineinsprechen und uns ermutigen zu glauben, dass eine bessere Welt werden soll. Nicht weil wir es vermögen. Sondern weil Gott es will. Er ersehnt es, uns nahe zu sein. Und wird zutiefst Mensch, macht, dass der Himmel auf die Erde kommt. Damit wir den Mut behalten, hinaus zu lieben über jede Lieblosigkeit.
Wie das nun zugeht? Dazu die Weisheit des Kindes, zunächst in kleiner Anekdote. Geht ein Mädchen mit ihrem Vater Schlittschuhlaufen. Es kommt, wie es kommen muss: Das Kind fällt hin und schlägt sich das Knie auf. Der Vater tröstet es: „Ach, der liebe Gott macht das ganz schnell wieder heil.“ Das Mädchen schaut ihn erschrocken an und fragt ängstlich: „Muss ich dann zu ihm rauf – oder kommt er runter?“
Ich kann Ihnen versichern, liebe Gemeinde: Gott kommt runter. Das ist das, was Weihnachten geschieht: Er begegnet uns nicht als strahlender Held, sondern als Kind wie jedes Kind. Ein Kind, das seine Würde hat vom ersten Atemzug an. Und davor auch schon. Ein Kind, das nicht verletzt und zerbrochen werden darf durch die Willkür der Erwachsenen, so wie der kleine Tayler. Wie überhaupt all die Gewaltopfer in zu vielen Familien.
Das Kind in der Krippe ist ein Kind wie jedes Kind, das in Hamburg zu Hause ist oder erst noch ein Zuhause finden will. Ein Kind wie Abdul und Nahib und Mustafa und das kleine Mädchen aus Eritrea mit ihren abstehenden Zöpfen. Sie brauchen uns. Brauchen unsere Fürsorge, Obdach und Brot, Achtung und Gebet. Zeichen, die sagen: Keine Gewalt der Welt kann die Werte unseres Menschseins angreifen!
Das ist die Botschaft des Heiligen Abends, liebe Gemeinde. Wir alle empfinden doch diese tiefe Friedenssehnsucht, gerade in diesem Jahr! Lasst sie uns gemeinsam stark machen und lebendig! Und lasst uns dafür die vertrauten Worte der Weihnachtsgeschichte hinaustragen in die Welt: Fürchtet euch nicht! Und: Frieden auf Erden! Genau wie die Wilhelmsburger es am Schluss tun in ihrer Weihnachtsgeschichte, die überall geschehen kann. Sagenhaft furchtlos und frohsinnig rufen sie: „Paz para todo el mundo!“- so die Spanierin von der Tafel. „Peace on the earth“, die Deutschlehrerin, zwei Afrikanerinnen mit kleinen Kindern sagen´s lachend – in welcher Sprache auch immer. Friede auf Erden! Auf Französisch natürlich, Ukrainisch, Russisch, Dänisch und Arabisch. Besonders anrührend am Schluss der alte Mann, der sicher den Krieg erlebt – he seggt dat gut Hamburgisch op platt: „Ick wünsch vun Harten allen Minschen Freeden op de Eerd.“
Da gibt es nun wirklich kein Wort mehr zuzufügen. Nur dies: Ich wünsche Ihnen von Herzen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt unsere Herzen und Sinne in ihm, Christus Jesus, Gottes Sohn.
Amen.