25. März 2016 | Lübeck, St. Jakobikirche

„Die Werke der Barmherzigkeit“

25. März 2016 von Kirsten Fehrs

Karfreitag, Ökumenischer Kreuzweg Lübeck, Ansprache zur 1. Station

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist so unbarmherzig. Kalt. Pilatus (hier auf dem Relief neben mir) ist entsetzt von diesem Volk vor ihm – er, der ja nicht gerade zimperliche Machtmensch, fühlt sich ohnmächtig wie nie. Erschrocken hört er, wie sie gar nicht laut genug geifern, schreien, grölen können: Kreuzige ihn. Weg mit dem da! Kreuzige ihn.

Der da, dieser Jesus, der von der Menge beschimpft wird, steht da mit gesenktem Haupt. Gefesselt. Die Dornenkrone ein einziger Schmerz. Pilatus versteht dieses Volk nicht. Was haben sie gegen diesen Wanderprediger? Vor wenigen Tagen noch haben sie ihn bejubelt. Mit Palmenzweigen und Halleluja. Er sei die Barmherzigkeit in Person, haben sie gesagt. Überall wo er gewesen sei, wären die Hungrigen satt und Lebensdurstigen erfrischt worden, fühlten sich die Entblößten nicht mehr beschämt und die Fremden willkommen, war kein Kranker mehr allein und keiner mehr gefangen in sich selbst, selbst die Toten wurden in Würde bestattet. Sieben leibliche Werke der Barmherzigkeit, haben sie gesagt. Und nun dieses wutentbrannte, unbarmherzige: Kreuzige ihn!

Die Leidensgeschichte Jesu hält uns ungeahnt aktuell den Spiegel vor. „Seht ihr es nicht?“, sagt sie. „So wankelmütig ist die Stimmung des Volkes, die Laune der Mehrheit!“  Heute das „Hosianna“, morgen das „Kreuzige ihn“. Kennen wir ja auch, oder? Heute in den Medien ein Held, morgen ein Verlierer.

Doch: die Mehrheit kann irren. Das wissen wir ja nur zu gut! Es ist wichtig, auf das Volk zu hören, aber es gibt eine Grenze. Wenn Menschen verfolgt oder gequält werden sollen, dann geht Menschenrecht vor Mehrheitswillen. Die Menschenwürde ist unantastbar! Das ist nicht umsonst der erste Artikel unseres Grundgesetzes. Niemand darf es einschränken, niemand - auch nicht, wenn er in Wahlen noch so viele Prozente erzielt. Oder wenn er „Wir sind das Volk“ ruft - oder grölt, schreit, geifert. Vor Flüchtlingsheimen. Flüchtlingsbussen. In diesem Land!

Denn das ist unbarmherzig. Kalt. Birgt tödlichen Sprengstoff.

Die Bilder aus Brüssel gehen mir nach. Heute am Karfreitag. Verbunden mit dem Gefühl, dass Terror und Gewalt wieder einen Schritt näher gekommen sind. Ich vermute, liebe Schwestern und Brüder, Ihnen geht es auch so, Kleinen wie Großen. Meine Freundin etwa erzählte mir von ihrem kleinen Sohn, der sie bat: Mama, lass uns doch lieber auf’s Land ziehen. Was antwortet man da als Erwachsener?

Vielleicht erst einmal gar nichts? Ein Journalist hat nach den Anschlägen auf Twitter geschrieben: „Möge unsere Trauer jetzt größer sein als die Angst. Durchatmen. Nachdenken. Brüssel.“ Etliche haben darauf kritisch reagiert. „Sträfliche Dummheit“ sei das, schrieb einer zurück  – Trauer helfe nicht weiter, jetzt müsse schnell gehandelt werden.

Mich dagegen hat das beeindruckt. Gerade heute am Karfreitag und mit unserem Weg des Kreuzes sagen wir doch genau dies: Es braucht Orte, um erst einmal der Trauer Raum zu geben. Innezuhalten, zu weinen über so viele ausgelöschte Leben und Lebensgeschichten. Unendlich traurig zu sein mit den Kindern, die ihre Mutter verloren haben oder mit der die Frau, deren Mann an ihrer Seite starb. Zumal zur Trauer, das wird ja oft nicht gesehen, auch die Wut gehört, das Klagen und Schreien über die abgrundtiefe Bösartigkeit dieser Mörderbanden!

Sie ist richtig, diese Zeit der Trauer. Inmitten all des Schmerzes, den er, unser Christus hier, ja so genau kennt. Es ist gut und richtig, dass wir darin still werden. Dass unser ganzes Land gemeinsam innehält. Zum Durchatmen. Nachdenken. Um die Angst zu stillen. Weil es wichtig ist, dass wir uns dann auch ein Herz fassen – für die Werke der Barmherzigkeit. Wie ER sie einst lebte. Mit seinem Kreuz tragen wir diese Barmherzigkeit ins Volk. Unbeirrt. Klare Rede, gerader Rücken, gute Tat und Nähe von Herz zu Herz. Von Kind zu Greis, von Syrer zu Lübeckerin, von den Trauernden in Brüssel zu den Mittrauernden in der ganzen Welt. Sein Friede stärke uns auf unserem Weg.
Amen.

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