29. November 2015 | Hamburg, Hauptkirche St. Jacobi

Du meine Seele, singe

29. November 2015 von Kirsten Fehrs

1. Advent, Gottesdienst anlässlich der Verabschiedung von KMD Rudolf Kelber, Predigt zu Matthäus 21, 1-9

Kanzelgruß

Liebe Gemeinde,

Gnädigste, bittschön, - so kam ein uns recht bekannter Kirchenmusikdirektor in den vergangenen Monaten öfter auf mich zu (insbesondere bei ähnlichen Anlässen und Zeremonien wie heute…) – Gnädigste, bittschön, ich möchte keine Beerdigungsansprache zu meiner Verabschiedung. Keine staatstragende Rede, was für ein Genie man sei oder welch Erhellung für die Menschheit und so weiter und so weiter. Schließlich lebe er noch, und das gut, jawohl, mit Brunnenorgel im Garten, Alpenglühen im Advent und Kaninchen in Rotwein à la Rudi, und das möcht bittschön auch nach dem Orgelkonzert am Silvesterabend so weitergehen.

Tja, und was soll Gnädigste, der es im Übrigen eine Ehre und ein Vergnügen ist, heute zu predigen – was soll ich da anderes tun, als dem Flehen stattzugeben? Oder?, liebe Geschwister, die ihr in allen Chören, Orchestern, Mitarbeiterrunden und Hauptpastorinnenzimmern sicherlich Ähnliches na-hest-gelegt bekommen habt, wie nur er es einem nahe legen kann – er, um den es hier nicht gehen soll.

Denn das Evangelium, darum geht‘s. Das Evangelium ist die Mitte unseres Seins. Respektive die Mitte der Predigt, beziehungsweise die Mitte der Kirchenmusik.

Womit man irgendwie wieder bei….

Wir feiern heute den neuen Anfang, liebe Gemeinde und lieber Rudi. Den Anfang des neuen Kirchenjahres und den Anbruch einer neuen Zeit. Nichts mit Beerdigung. Hosianna! Lebensfreude und Hoffnung spielen heute auf.

Nichts wird derzeit sehnlicher erwartet.

Nun komm der Heiden Heiland - „unser“ Erdmann Neumeister hat zu der Bachkantate einen einfühlsamen Text geschrieben, der diese adventliche Stimmung so gut auf den Punkt bringt: Ein selig neues Jahr soll es sein! Und das spricht – 200 Jahre hin oder her – die Menschen heute unmittelbar an. Denn Unseliges, das gab und gibt es wahrlich genug. Die Kriege und Konflikte auf der Welt haben zugenommen, noch mehr Menschen müssen aus ihrer Heimat fliehen – und dann der Terror, die Anschläge in Paris und an so vielen anderen Orten dieser Welt! Es gibt eine globale Verunsicherung, und wir merken daran: der Terror zielt direkt auf alles, was der Mensch braucht, um zu leben: Geborgenheit und Heimat, Normalität und Vertrauen, Freundschaft und Freundschaftsspiele. Er zielt buchstäblich mit Kalaschnikows auf das, was uns wichtig ist, um es zu zerstören. Vor allem auf die Musik! Vielleicht wisst ihr, dass die IS-Mörderbanden, wenn sie ein Dorf erobert haben, als allererstes eines tun: sie zerstören alle Musikinstrumente. Sie bestrafen Menschen, wenn sie singen, wenn sie tanzen, wenn sie Musik lieben. Gäbe es einen eindeutigeren Beweis für deren grundböse Absichten?

Nun komm der Heiden Heiland.

Komm, endlich, komm in diese Gottlosigkeit.

Wir warten auf dich, Liebe in Person. Liebe, die die Kraft hat, Zerbrochenes zu heilen. Jedes Jahr wieder warten wir in drängender Geduld. Und nicht umsonst doch mit Kantaten und Oratorien, mit Messiaen und „la Nativité“! Weil diese Musik so aufwühlend und beruhigend, so verstörend und liebevoll sein kann wie das Heilige selbst. Und ich habe es so dankbar oft hier erlebt, in dieser Kirche mit diesem begnadeten Musiker: Wie wir durch die Musik, in die Rudi Kelber uns hineinlockt, - bewegt, hineinzittert und manchmal gar -wütet, wie wir durch diese Musik hinein genommen sind in die alte Liebesgeschichte Gottes mit uns. Und das heißt zugleich: ins theologische Denken und Hoffen, Zweifeln und Glauben.

Die Musik macht, dass wir selbst fühlen wie die sehnsüchtig Wartenden dort an den Straßen Jerusalems, von denen im Evangelium die Rede ist. Sie macht, dass unser Mund voll Lachens ist und das Elend keine Bagatelle, dass wir auf einmal wieder dem Leben vertrauen und dem Wunder auch. Ja, er wird kommen, tröstet die Musik, nun, der Heiden Heiland. Er kommt, der uns liebt, inmitten unserer zerrissenen Welt.

Ob die vielen tausend Menschen in Jerusalem damals mit ihren Palmzweigen in der Hand, ob sie wussten, dass der Erlöser gleich an ihnen vorbei ziehen würde, direkt vor ihren Augen? Ob sie ahnten, dass ihnen in dieser Stunde noch die Liebeserklärung Gottes auf einem Esel begegnen würde?

Vermutlich nicht. Wer, liebe Gemeinde, weiß schon so genau, was er sich wünscht? Worauf er oder sie wartet? Oder wann sich eine Erwartung auch einmal erfüllt hat? Wer ist der? Heißt es denn auch. Als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der? Die Menschen waren unsicher durch unsichere Zeiten. Aufgeregt, emotional, schnell aus der Bahn zu werfen. Kein Wunder. Unter römischer Macht herrschten Gewalt und Angst und bittere Armut, blühende Korruption statt blühende Landschaften.

In Jersualem damals.

In Gaza. Westjordanland. Bethlehem heute.

Deshalb Kantaten, heute. Sie sind Lieder des Mutes. Und des Widerstandes. Des Trostes auch. Sie sind wie eine Ligatur von gestern zum Jetzt. Verbinden Anima e corpo. Du meine Seele, singe. Damit du wieder durchatmest, ganz und gar Mensch wirst. Und zur Besinnung kommst, wie es wirklich zugeht in der Welt. Lasst euch doch nicht betören, kritisiert Paul Gerhard in der Kelber-Kantate 2006. Verlasse sich ja keiner auf Fürsten, Macht und Gunst, weil sie wie unsereiner nichts sein als nur ein Dunst. Ein Dunst. Dunst – immer wieder wird dieses Nichts wiederholt. Anmerkung des Komponisten K. zu diesem musikalischen Motiv: Joseph Haydn „Gott erhalte Franz, den Kaiser“, allerdings in der Umkehrung…

Wann wird er endlich kommen, er, der die Verhältnisse umkehrt, der Messias, der für Gerechtigkeit sorgt und Frieden. Ist er das?  Sag, ist er das dort, der auf dem Esel einzieht?

Die Frage bleibt offen. Jesus sagt weder: Ich bin es. Noch sagt er: Ich bin es nicht. Er verweist auf das, was geschieht. Nämlich dass er auf einem Eselskind nach Jerusalem einzieht, dem Symbol der Demut. Zugleich aber ist gerade dies unausgesprochen ansprüchlich, heißt es doch im Prophetenwort des Sacharja: „Siehe, Tochter Zion, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen.“

Also ist er es tatsächlich! Sanftmütig, sanft und mit Mut zieht die Liebe ein. Es wird sich viel ändern. Das spüren die Menschen. Freude bricht sich Bahn. Und Erleichterung. Die Welt atmet auf. Hosianna, er ist da! Sie singen aus „aller Kraft, Lob, Preis und Ehr – dass du o lang erwünschter Gast, dich nunmehr eingestellt hast.“ (WO Nr. 23)

Wir wissen, wenige Tage später skandieren ebendiese Menschen das vernichtende „Kreuzige ihn, kreuzige, kreuzige, kreuzige ihn.“ Unzählige Male fortissimo heraus gearbeitet und dem Chor bis in die letzten Feinheiten abverlangt. Das ist die Kunst dieses Kantors, lieber Rudi: dass in jedem Chorsänger und jeder Chorsängerin ein eigenes, frei erkanntes, inneres Bild entsteht, wie solch ein verstörender Widerspruch zustande kommt.

Nichts löst offenkundig mehr Bestürzung aus als beharrliche Sanftmut und unbeirrbare Liebe. Und dass wir heute zum 1. Advent diese Palmsonntaggeschichte hören, liebe Gemeinde, hat eben diesen tiefen Sinn, in einem einzigen Augenblick das Weihnachtsoratorium und die Matthäuspassion zusammen zu fügen, in einer einzigen Szene zu verdichten, dass der so sehnsüchtig Erwartete eine schwere Passion erleiden wird. Er ist‘s, sagt die Geschichte damit, er ist der Messias, der Christus, der in Armut Geborene, in Schande Gekreuzigte und in Hoffnung Auferstandene. Er ist das A und O, Anfang und Ende. Er ist die Liebe, auf die die Welt wartet, weil sie seiner bedarf. Bis heute.

Wer ist der? Was sagt er uns heute, wenn er einzieht mit seiner Sanftmut und Demut, seiner Liebe gar?

Er sagt uns das Wichtigste in dieser Zeit: Er sagt: Habt Mut. Habt keine Angst, das geliebte Lieben dem Hass entgegen zu stellen. Lasst euch nicht irre machen durch Kriegsrhetorik und einschüchtern durch die Größe mancher Aufgabe!

Und ich schaue just auf die Grenzen, die man allerorten ziehen will in Europa, um die Herausforderungen der Flüchtlingsbewegung zu bewältigen. Denke an all die Männer, Frauen und die sechs Kinder, die vor der Küste Europas vorgestern ertrunken sind. Und ich höre: Mit Sanftmut zieht er ein. Also mit dem Mut der Barmherzigen, die sagen: Mitmenschlichkeit hat keine Obergrenze. Und mehr noch, sie hat konkret zu werden. Denn der Heiden Heiland, er legt behutsam die Hände auf Wunden. Er heilt. Er betet. Er tröstet. Er vergibt. Liebt. Gerade dort, wo der Hass regiert.

Das ist die Mitte des Evangeliums, liebe Gemeinde. Und das ist die Mitte unserer Existenz. Von hier aus scheint auf, was werden soll – im neuen Jahr. Und in der neuen Zeit. Sie braucht uns. Sie braucht unsere Zuversicht und Tatkraft, braucht die Kunst und eine Kultur geradliniger Unerschrockenheit, sie braucht einen sensiblen Querdenker, ganz bestimmt einen Bachvirtuosen und handfesten Praktiker, der Arp-Schnitger-Orgeln versteht. Es braucht einen, der das Spiel liebt und weniger den Plan (respektive einen Haushaltsplan J), der dem Tun den Vorrang gibt und nicht dem Konzept an sich. Allemal also einen, der in einem seiner ersten Briefe an St. Jacobi, 1982 noch, von sich sagt: „Leider ist meine Fähigkeit, aus einem Minimum an Informationen ein halbstündiges Referat zu machen, noch nicht voll ausgereift. Mit freundlichen Grüßen…“

Selbst wenn dies auch mit 67 Jahren glücklicherweise noch nicht gänzlich zur Blüte gekommen ist – das sind doch alles verheißungsvolle Aussichten? Nicht nur die Musik, die Welt braucht einen Menschen wie dich. Aussichten, die dich vielleicht jetzt ganz gut sagen lassen: „Tschüs Jacobi“? Wir üben das auch gerade alle – mit etlichen Tränen im Knopfloch!

Aber vor allem ist‘s bei all der Fülle dran, zu danken. Dem Herrgott zuallererst, versteht sich, dass er dir so viel Kraft gibt und Energie. Und dann danken wir… Bettina und Anna mit ihren Flöten samt Joachim und der Bratsche – was wäre Rudi ohne eure Begleitung und das Weihnachtsoratorium ohne die Kelber-Combo? 

Und nun aber: ich danke, wir danken von Herzen dir, Rudi, für 33 Jahre hinreißende Musik, aufregendste Zusammenarbeit, Tausende von Experimenten, Orgelvorspiele zum Niederknien, Gewöhnungsbedürftiges, Rudimentäres, Erstaunliches, Opern auch, so viel Liebenswertes, Passionen und Passungen, danke für Alpenweihnacht mit Zithern und Zagen von Hauptpastorinnen, für die stets gelungene Langeweileprophylaxe und -  achja, danke für Geniales und so viel Erhellendes für Seele und Herz, kurzum: ein Segen für unsere Kirche!

Gott mit dir, lieber Rudi.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, geleite dich und deine Familie und er bewahre unser aller Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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