30. September 2015 | Ratzeburg, Christophorushaus Bäk

Du stellst meine Füße auf weiten Raum

30. September 2015 von Gerhard Ulrich

Vortrag beim Krankenhausseelsorge-Konvent der Nordkirche

Liebe Schwestern und Brüder,

1.
Sie haben mich gebeten, einen Impuls zu dem Thema zu geben „Was macht Leben lebenswert?“. Das Thema ist eine Frage und ich soll für das weitere Gespräch den Versuch einer Antwort aus christlicher Perspektive bieten. Eine scheinbar schlichte Frage, die ein enorm komplexes Thema anspricht, ein Thema, das alle Facetten menschlichen Wohlseins und menschlichen Leids umfasst – und nicht nur ein Thema für Krankenhausseelsorgerinnen und –seelsorger ist.

Lassen Sie uns erst einmal schauen, was die Frage meint. Denn Sprache und Ethik hängen eng zusammen. Dazu formulieren wir die Frage um in eine Aussage und lassen sie konkreter werden: „Herr oder Frau A sagt: Mein Leben ist lebenswert.“

Und jetzt negieren wir sie: „Herr  oder Frau A sagt: Mein Leben ist …“ ja, was denn: „nicht lebenswert“? Aber heißt das nicht: es ist „nicht wert zu leben, also: lebensunwert“? Nein, das doch nicht! Das meint keiner von uns. Wenn aber ein Mensch dies von sich selber sagt – und das kann durchaus der Fall sein - können wir da tatenlos zuschauen, wie er sich als lebensunwert einschätzt? Sollen wir ihm dann nicht unsere Hilfe anbieten? Ich meine: ja.

Und damit deute ich auch schon einen Grundgedanken meines Impulses an: Wie lebenswert ein Leben ist, hängt sehr davon ab, ob es in Beziehungen gelebt wird. Ob es ein Leben in gegenseitiger Fürsorge ist, in gegenseitiger Verantwortung. Dann kann gelingen, was Gott uns verheißt und was wir glauben: Du stellst meine Füße auf weiten Raum.

Wir dürfen es uns aber auch nicht zu leicht machen und müssen auch überlegen, ob wir mit dieser Frage auch Raum für eine problematische Perspektive geben. Wenn es „okay“ ist, dass Menschen ihr Leben als wertlos einschätzen – und dann auch mit Forderungen nach assistiertem Suizid an uns herantreten -, könnte es nicht sein, dass dann vielleicht auch irgendwann die Gesellschaft entscheidet: Dieses Leben ist lebenswert, jenes nicht? Das ist ja eine jener Fragen, die im Zusammenhang der aktuellen Debatte um die Gesetzgebung zur sog. Sterbehilfe gestellt werden. Welchen Geist lassen wir möglicherweise (wieder) aus der Flasche?

Ein weiteres Problem in der Fragestellung möchte ich zumindest andeuten: „Was macht das Leben lebenswert?“ – diese Formulierung unterstellt und suggeriert, der Wert des Lebens sei machbar, hinge ab von bestimmten beeinflussbaren Faktoren. Als Christ aber sage ich: Leben ist unverfügbar. Es entzieht sich unserer Machbarkeit. Diese grundsätzliche Unverfügbarkeit stellt eine wesentliche Grundlage für des Lebens Wert dar, finde ich. Zwar entscheiden wir über die Entfaltung unseres Lebens, entscheiden, wie wir unser Leben gestalten. Aber das können wir überhaupt ja nur, weil der Wert des Lebens an sich nicht in Frage steht. Den Wert meines Lebens muss ich nicht machen oder herstellen oder gar erweisen durch Leistung, Stärke, Wohlverhalten; nicht, indem ich Erwartungen entspreche und Bildern, die andere von mir sich machen. Das Grundbild meines Lebens ist eingezeichnet vom Schöpfer selbst: meine Gott-Ebenbildlichkeit.

Als Christ sage ich: Das ist das bleibende Geheimnis: Gott liebt uns, jede und jeden von uns. Nicht, weil wir so tolle und großartige Leute sind; nicht, weil wir perfekte Geschöpfe wären; nicht, weil wir gehorsam wären; nicht, weil wir Großes leisten. Nein, Gott wendet sich uns zu, nennt uns seine Kinder, obwohl wir sind, die wir sind: nicht perfekt, sündige Wesen, die immer wieder sich entfernen von Gott, dem Schöpfer; er liebt uns, obwohl wir seinen Willen missachten, uns selbst an seine Stelle setzen, Gott nicht Gott sein lassen; er liebt uns, obwohl wir nicht alles können, was man von uns erwartet, obwohl wir nicht immer funktionieren, wie die Welt fordert.

Das ist ein Grund, zu staunen. So, wie es der Beter des 8. Psalms zum Beispiel tut: „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, dass du deiner gedenkst? Was ist das Menschenkind, dass du dich seiner annimmst?“ Und dann antwortet der Beter gleich selbst: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan…“

Der Wert des menschlichen Lebens liegt begründet in seiner Gott-Ebenbildlichkeit. Das ist die Grundlage seiner unantastbaren Würde.

Dieses „Wenig niedriger“ ist eine Quelle der Würde jedes einzelnen Menschen. Der unendliche Wert und die unantastbare Würde sind eben nicht Ergebnis von Leistung, sondern der Gnade. Weil Gott mich würdigt mit seinem Blick der Liebe, bin ich, der ich bin: geliebtes, wertvolles Kind. Die Erkenntnis dieser Wert – Festschreibung ist Grundvoraussetzung befreiten Lebens. Gott, so sagt der Psalm, nimmt sich der Menschen an. Er ist ein Gott in Beziehung. Er gedenkt seiner, vergisst ihn nicht.

Diese Annahme, dieses Gedenken ist Grundlage nun wiederum aller zwischenmenschlichen Beziehung, die wiederum Voraussetzung dafür ist, das eigene Leben als wertvoll anzuerkennen. Es ist wertvoll gemacht. Also: was macht das Leben lebenswert? Er, der lebendige Gott, der gedenkt und sich zuwendet, macht das Leben lebenswert, hat alles Leben lebenswert gemacht.

Staunen lernen: das können wir am besten, wenn wir auf die Kinder sehen, wie sie die Welt entdecken. Ich bin inzwischen Großvater. Zwei Enkelkindern darf ich dabei zusehen, wie sie größer werden, Krabbeln lernen, reden lernen, laufen lernen. Wie sie mit offenen Mündern die Welt zu erkennen beginnen. Wie sie ohne Angst unverstellt zeigen, was sie denken und fühlen: Lachen und Weinen. Schwach dürfen sie sein und so stark. Ich darf erleben, wie sie fragen, dankbar sind. Wie sie die Liebe, die sie erfahren, zurückgeben.

Wenn unsere Enkelkinder bei uns sind, dann erleben wir die Gnade, selber noch einmal die Welt neu erleben und sehen zu können. Wenn sich kleine Kinderarme um meinen Hals schlingen, dann darf ich spüren, wie groß und unverdient die Liebe ist, die ich empfange, die mich selbst zum Kind macht neu. „Aus dem Munde der Kinder und Säuglinge hast du deine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen…“ – so sagt es der 8. Psalm. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, dann werdet ihr das Himmelreich nicht sehen“, sagt Jesus (Markus 10).

Ich erlebe das Geschenk des Lebens an meinen Enkelkindern neu. Ich erfahre neu, was Freiheit bedeutet, die Gott schenkt. Ich erlebe seine Gnade an diesen neuen Lebensgeschichten: an den offenen, unverstellten Augen, den mutigen Fragen nach dem, was die Welt zusammen hält; an den kleinen Händen, die mich fassen und führen zu den zarten Zeichen des Lebens, die ich zu übersehen mir die Freiheit genommen hatte. Gottes Gnade in jedem Atemzug. An ihnen sehe und lerne ich: Gott selbst bleibt nicht verborgen, er zeigt sich mächtig.

Aber wie ist das möglich, dass diese nach den Maßgaben der Welt doch eigentlich (noch) wertlosen Wesen, die noch gar nichts bringen, von denen wir wenig mehr als Arbeit und Kosten haben, unser Leben so reich machen? Wie ist das möglich, dass sie unverstellt die wahren, wertlosen Werte erkennen und annehmen?

Sie können das, weil sie selbst erfahren, was Liebe ist, was das Geschenk der Gnade, also die ungefragte Hingabe an sie ist. Wir Menschen sind darauf angewiesen und leben davon, dass wir die Hingabe erleben – unserer Eltern zuerst. Das Ur-Vertrauen nennen das die Entwicklungspsychologen. Jene Erfahrung, dass ich aufgefangen und geborgen bin in aller Angewiesenheit; dass da Menschen sind, die wissen, was ich brauche, die mir geben, was nötig ist, die mich erkennen und lassen, bergen und stützen. Kinderliebe, die ich jetzt als Großvater wieder erleben darf, ist antwortende Liebe, ist Antwort auf das leuchtende Antlitz über der Wiege, das über dem Kind erhobene Antlitz, das Frieden verheißt. Das ist die grundlose Erfüllung der Segensbitte, wie es der Aaronitische Segen ausdrückt: „…lass leuchten dein Antlitz über mir und sei mir gnädig; erhebe dein Antlitz auf mich und schenke mir Frieden!“ Liebe also gibt es nur als antwortende Liebe. Ja, in der elterlichen Liebe scheint die Gnade auf, mit der Gott uns alle ins Leben ruft und frei macht, selbst zu leben und zu lieben.

2.
Auch der positive Satz „Herr oder Frau A sagt: Mein Leben ist lebenswert“ hat es in sich – auf andere Weise. Was für ein Satz ist das überhaupt? Beschreibt er etwas, das lebenswert ist an A’s Leben – und wenn: was ist das? Der Satz fasst viele Wahrnehmungen zusammen. Vielleicht diese: Ich habe einen interessanten Job, mein Mann und ich lieben uns. Wir verreisen zwei Mal im Jahr. Ich bin gesund. Er fasst also

1. viele empirische Beobachtungen zusammen. Und dann trifft der Satz

2. eine Entscheidung: Ja, deshalb lebe ich gerne – trotz vielleicht zweier unglücklich verlaufener Schwangerschaften, trotz Leid.

 

Und in dieser Entscheidung steckt etwas Normatives, auch etwas willensmäßiges, etwas Voluntaristisches: Wenn ich das und das in meinem Leben habe, dann soll  mein Leben gelebt werden, dann sage ich „Ja“ zu ihm. Unser scheinbar schlichter Satz von A`s Leben ist in Wirklichkeit eine Zusammenfassung eines ganzen Bündels von Wahrnehmungen und Entscheidungen. Und das sind solche Aussagen über das Leben immer. So sind ethische Aussagen strukturiert– egal ob ich sie individualethisch über mein Leben formuliere oder allgemein über das Leben aller.

Das Entscheidende für mich bei diesem Gedankenexperiment ist: Wissenschaftlich-empirisch allein können wir  nicht entscheiden, wie das Leben lebenswert ist. Die Medizinerin, der Psychologe, die Pflegefachkraft können nur Fakten liefern für diese Entscheidung. Die Theologin oder der Philosoph (in jedem von uns selbst) kann das auch nicht. Er oder sie kann nur die Kriterien liefern, mit denen ich mein „Sosein“ bewerte  und dann eine Entscheidung treffe. Das Wissen aus beiden Bereichen muss zusammenkommen: Fachwissen und Wertewissen. Und in der Regel muss es in einem Menschen zusammen kommen. Etwa in einem Menschen, der dauerhaft krank ist und leidet. Dies durch Introspektion erfasst. Dann – vielleicht intuitiv – bewertet. Danach eine Entscheidung fällt: dennoch sich Lebensqualität zu erkämpfen, palliativ das Leiden erträglich zu machen, das Leben beenden zu wollen… Eine Herkulesaufgabe ist das, die da einem Leidenden aufgebürdet wird. Wohl dem Kranken, der dann einen mitfühlenden, mitdenkenden, verstehenden Seelsorger an der Seite hat.

Wenn ich dies überlege, denke ich an viele Menschen in meiner Nähe. Und ich denke an Anne und Nikolaus Schneider. Als Anne von ihrer Krebserkrankung erfuhr, haben diese beiden Menschen in die neue Situation hinein gegeben. Wie will und kann ich mit dieser Krankheit, die womöglich eine Krankheit zum Tode ist, leben und wie kann ich mit ihr würdig sterben? Ich weiß, wie quälend schwer die beiden sich diesen Weg gemacht haben – am Leben hängend, an Gottes Bewahrung und Verheißung glaubend, aus Gottes Wort Trost schöpfend. Als dann öffentlich wurde, dass Anne sich entschieden hatte, im Fall nicht mehr abwendbaren Sterbens ihren Mann um Hilfe beim und im Sterben zu bitten, war die Aufregung groß. War das die Aufforderung zum aktiven unterstützten Suizid?

Ich weiß, wie sehr gerade das, was das Leben lebenswert macht und gemacht hat und auch das, was schwer schon bis dahin gewesen war, den beiden groß vor Augen gestanden ist. Und wie sehr diese intensive und schonungslose Beschäftigung mit dem eigenen Leben bis hin zum Sterben Anne selbst Trost und Freude geschenkt hat. Es ist diese lebendige Beziehung eben etwas völlig anderes als die Hilfe z.B. eines Vereins, bei dem ein Suizid-Assist bestellt wird. Es ist dies das Gegenteil vom Lebens-Abschluss. Es ist unter anderem auch die Gewissheit, dass zum würdigen, wertvollen Leben auch ein würdiges Sterben gehört.

3.
Die Entscheidung, nein, besser gesagt: der Weg, der mich erfassen lässt, wie lebenswert mein Leben ist, das ist kein einsamer, das ist ein gemeinsamer Weg. Der hat eine Ich – Du – Struktur. Und vielleicht erfahre ich auf diesem Weg mein Leben in seinem Wert dann anders und neu. Vielleicht ist es kein abstraktes Erkennen, sondern ein Verstehen im Auf - dem – Weg - Sein, das zu neuen Sichtweisen und Entscheidungen führt, vielleicht mein Sosein verändert. Die Subjekt – Objekt Spaltung wird aufgehoben: dass ich mich selbst oder ein anderer mich zum Objekt macht.

In Ihrer Einladung heißt es weitsichtig: Was MACHT ein lebenswertes Leben aus. Dieses „machen“  meint, glaube ich, genau diesen Prozess, in dem ich mit anderen zusammen mein lebenswertes Leben finden, ja wiederfinden kann. Und ich erfahre: Gott stellt mich auf weiten Raum. Es gibt mehr Weisen eines lebenswerten Lebens, als ich anfangs glaubte. Zu einem lebenswerten Leben gehört natürlich der Erhalt, wenn möglich die  Verbesserung der Lebensqualität. Das ist ein ganz zentraler Begriff.  Der ist aber nicht identisch mit Fitness, Jungsein oder Eigennutzsteigerung. Lebensqualität hängt  elementar  von gelingenden menschlichen Beziehungen ab. In ihnen entfaltet sich der Mehrwert des Lebens.

Am Kampf des Hiob kann man u.a. den Wert der Beziehungen gerade für die (Wieder-)Entdeckung des Lebenswertes ablesen: Hiob ist ganz in seiner Verzweiflung gefangen, ganz und gar bestimmt von seinem Leiden. Sein Leben schnurrt sozusagen zusammen auf sein Leid, das ihm unverdient erscheint, das ihn hadern lässt mit dem, der ihn ins Leben setzte. Von seiner Gegenwart her stellt Hiob alles in Frage: Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die Freunde helfen ihm, den Blick zu weiten: dein Leben geht nicht auf in diesem furchtbaren Leid. Das ist nicht alles, was es zu sagen und zu entdecken und festzuhalten gibt an deinem Leben. Und langsam, durch Streit und Abwehr hindurch, durch Trauer, Wut und Ratlosigkeit hindurch, weitet Hiob seinen Blick, erhebt sein Haupt, sieht sein Leben eingebettet in Geschichte und Geschichten – auch in die mit und von Gott. Sieht sich als Teil der Schöpfung.

In diesen Zusammenhängen ist es auch wichtig, dass wir unsere Aussagen mit Bedacht wählen. Manche Sätze, die wir äußern, sind Urteile über andere Menschen– auch wenn wir es so nicht meinen. Wenn jemand sagt: Ein Leben ist für mich nicht lebenswert, wenn ich gewindelt werden muss oder wenn ich dement bin: Dann ist das auch eine Aussage über den Wert des Lebens anderer Menschen, die so leben und für die ihr Leben lebens- und liebenswert ist. Und es ist eine Aussage über den Wert der Arbeit von Menschen, die Schwerkranke liebevoll und fachkundig pflegen.

Menschen sind keine Sozialatome, die je für sich durch die Gesellschaft zischen und sich so lange selbstverwirklichen, bis sie vor lauter Berufs-,Erfolgs-, Emanzipations-, Autonomiestress dabei verglühen. Und schließlich sagen: ich bin ausgepresst. Es lohnt nicht mehr. Das lebenswerte, das gute Leben hat sein Zuhause nicht in den Gehirnen von isolierten Einzelnen, sondern in Gemeinschaften von Menschen, die zusammen Dinge machen und erleben.

 

Natürlich, wir sind alle verschieden. Die eine will berufliche Erfolge, der andere viel Zeit mit seiner Familie verbringen.  Aber deswegen haben die neoliberalen „Präferenztheoretiker“, noch lange nicht Recht. Diese neuen Meisterdenker, die im Gefolge von Milton Friedmann in den letzten 20 Jahren stark den gesellschaftlichen Diskurs bestimmt haben. Sie sagen: Jeder definiert sich durch seine individuellen Interessen, durch seine Präferenzen. Jeder sei anders, deshalb nur er alleine  seines Glückes Schmied. Für einander sorgen in einer Gesellschaft, das geht gar nicht und wenn jeder an sich denkt, dann ist doch schon an alle gedacht. Ein lebenswertes Leben heißt nach dieser Theorie, dass jeder sein Leben nach seinen Vorlieben gestalten kann, wie die auch seien. Alle anderen halten sich da schön raus. Behinderte, Kranke, Hospizbewohner kommen da nicht wirklich vor. Die Nichtfitten auch nicht, die keinen Schulabschluss schaffen, die nicht auf dem 1. Arbeitsmarkt klar kommen – alle nicht, die Begleitung, Assistenz brauchen. Auch wenn es nicht so gesagt wird. Sie werden wieder zu den Lazarussen gemacht: zu denen draußen vor der Tür.

Der neoliberale Trend,  zwischenmenschliche Beziehungen als Tauschbeziehungen oder Kunden-Anbieter-Beziehungen zu interpretieren, ist  auch im Gesundheitswesen auf dem Vormarsch. Der Patient als Kunde des Krankenhauses oder Pflegedienstes. Aber so gedacht hat er für das Krankenhaus nur noch den ,Wert', der seinem ökonomischen Nutzen für das Krankenhaus entspricht  – in Wahrheit jedoch ist er ein Mensch mit Ängsten und Sorgen, der fachliche Hilfe und seelsorgerliche Begleitung braucht. Dessen Leben auf weiten Raum gestellt ist und nicht im wirtschaftlichen Nutzen aufgeht. „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und das Menschenkind, dass du dich seiner annimmst?“

Natürlich sind Menschen verschieden. Natürlich haben wir alle Vorlieben und die sind recht unterschiedlich. Aber sie fangen erst an zu blühen, wenn sie auf dem weiten Raum von Grundwerten stehen, die wir alle teilen und die wir alle brauchen Dazu gehören: Liebe, Freundschaft und Fürsorge, Respekt und Selbstachtung. Und dann auch: Sicherheit, auch wirtschaftliche Sicherheit, Gesundheit, natürlich: ganz wichtig, aber sie schwindet auch. Persönlichkeitsentfaltung und Bildung, Harmonie mit der Natur, Muße und Religion: Ein Glaube, mit dem ich mich, die Anderen, die Welt, in der wir leben, deute. Ihr einen Sinn verleihe. Das sind Basiswerte, die wir alle brauchen. Das sind die Dinge, auf die wir angewiesen sind, um glücklich zu sein. Ich erspüre sie, indem ich fühle, was mir selber wichtig ist, was mir fehlt, wenn ich sie nicht habe. Und ich kann mich  versetzen in den Anderen, erspüre, dass dies auch für ihn wichtig ist – er ist wie ich: Gottes Ebenbild, sehnt sich nach Freiheit und Geborgenheit, Liebe und Autonomie. Freiheit und Sicherheit. Es wächst dann etwas zwischen uns: Mit-Menschlichkeit, Mit-Gefühl. Ich spüre: glücklich sind wir zusammen mit anderen, als respektierte Individuen.

4.
Wir dürfen es uns aber- wie schon gesagt - nicht zu leicht machen. An diesem Punkt sollten wir noch einmal zu meiner am Anfang gestellten Frage zurück kehren: Wenn wir von dem sprechen, was Leben lebenswert macht - reden wir dann nicht auch davon, was es nicht lebenswert macht, lebensunwert vielleicht? Darüber müssen wir nachdenken. Nicht aus historischen Gründen. Weil die Nazis diese Ideologie hatten. Sondern weil immer wieder Menschen ausgesondert werden. Weil dafür immer wieder ähnliche Argumente im anderem Gewand benutzt werden. Der in Princeton lehrende und auch in Deutschland einflussreiche Philosoph Peter Singer hat dafür ein systematisches, quasi modernes Fundament geschaffen. Er spricht keinem Menschen ab, Mensch zu sein.  Aber nicht jeder Mensch ist für ihn Person.

Dafür muss man drei Bedingungen erfüllen: autonom, seiner selbst bewusst und rational sein.[1] Das führt ihn dann zu der erschreckenden These: "Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht."

Einer unserer vier Söhne ist mit einer Behinderung zur Welt gekommen. Als Frühgeburt hat er unter der Geburt unter Sauerstoffmangel gelitten, was zu einer wenn auch leichten geistigen Behinderung geführt hat. Er ist inzwischen 29 Jahre alt. Aber Jonas ist in vielerlei Hinsicht nicht vollkommen autonom, sich auch nicht vollständig seiner selbst bewusst und auch nicht hundertprozentig rational. Alleingelassen wäre er heute nicht allein lebensfähig. Er hat einen schweren Weg schon hinter sich: erste Lebenswochen im Brutkasten, getrennt von Mutter und Vater; etliche Operationen waren nötig; Hormonbehandlungen, die Psychosen zur Folge hatten. Das Lernen war und bleibt für ihn Schwerstarbeit – auch angesichts der Tatsache, dass seine drei Brüder mit Leichtigkeit ihren Weg gingen und gehen. Er hat seinen anstrengenden Weg gehen können, weil er immer eingebettet und einbezogen war in ein Geflecht von Beziehungen: wir Eltern gehören dazu, die drei Brüder, die ihn lieben und bis heute teilhaben lassen an ihrem Leben; Lehrerinnen und Lehrer in einer Sonderschule und später in der Regelschule; mitfühlende Leiter in der Berufsausbildung (als man in seiner Lehrfirma z.B. merkte, dass er nicht in der Lage war, sein Berichtsheft allein zu führen, hat sein Chef sich mit ihm jede Woche hingesetzt). Inzwischen hat Jonas einen Hauptschulabschluss, eine abgeschlossene Lehre und einen Arbeitsplatz. Aber er hat immer auch zu spüren bekommen: so richtig wertvoll bist du nicht, dir fehlt etwas.

Weil da aber so viele in seiner Umgebung sind, die sagen: du bist gut, du bist schön, du bist ganz! – konnte und kann er das selber immer besser annehmen.

Er hat im Geflecht der Beziehungen gelernt, seine ganz speziellen Gaben zu entdecken: er ist zu einer Schauspielschule gegangen und ist inzwischen ein „staatlich anerkannter“ Clown…

Wir fragen uns oft: was wäre gewesen, wenn er allein gelassen wäre? Oder wenn seine Umgebung allein den festgelegten Normen gefolgt wären?

Unsere Gesellschaft hat nach wie vor für solche Menschen keine selbstverständlichen Plätze. Sie fallen aus der Werteskala heraus. Und das ist eine eklatante Schwäche dieser Gesellschaft, dass sie kaum eine Schwäche für die Schwächsten hat.

Die beste Kritik an Singers Position wurde schon vor 200 Jahren formuliert. In seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ schreibt Immanuel Kant: „alles (hat) entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“.

Bei Singer hat Menschsein einen Preis. Und der kann sich ändern, je nachdem, welche Bedingungen für Menschsein man aufstellt.  Auf jeden Fall  muss er etwas leisten: vernünftig sein, autonom sein. Wer das nicht kann, gehört nicht dazu. So verliert Menschsein seine unbedingte Würde, die jedem zukommt. Natürlich auch dem Dementen – Demenz ist eine „neue menschliche Seinsweise“ sagt der Psychiater Klaus Dörner völlig zu recht.

Natürlich ist Autonomie wichtig. Wir dürfen sie keinem vorenthalten und gerade einem im wahrsten Sinne des Wortes an das Bett gefesselten Menschen müssen wir in seiner heteronomen Situation so viel Autonomie wie es geht ermöglichen. Wir müssen so für ihn sorgen, dass es Fürsorge auf Augenhöhe bleibt und dort, wo der Kranke nicht mehr entscheiden kann, müssen seine Interessen advokatorisch von einer dritten Person vertreten werden.

Die isolierte Betonung der Autonomie führt zu einem abstrakten Individuum, losgelöst von seiner sozialen Situation. Deshalb finde ich die in der Medizinethik aufkommende Forderung nach Beachtung der Geborgenheit wichtig. Natürlich, 'Fürsorge' ist ein nicht ganz unproblematischer Begriff, der zu Paternalismus führen kann. Er sollte daher von dem englischen care -  im Sinne von verantwortlich sorgen für - neu verstanden werden. Im Sinne der noch jungen Care-Ethik. Der Theologe und Medizinethiker Siegfried Scharrer spricht von „Autonomie eingebettet in Geborgenheit“.

5.
Lebenswert macht unser Leben das große „Ja“ Gottes zu uns. Und dann die vielen kleinen „Jas“ die wir als Antwort darauf zu uns selbst und zu anderen sagen, die Beziehungen, die wir knüpfen, die Gemeinschaft die wir aufbauen und die Solidarität, mit der wir zusammenleben: Unsere Liebe und unseren Reichtum, den wir miteinander teilen.

Um es noch einmal konkret werden zu lassen: Sterbenlassen heißt nicht einfach Liegenlassen. Alleinlassen. Der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen muss in eine neue Qualität der Zuwendung, in echte personale Beziehung münden. Dies sollte auch Konsequenzen für die medizinische, pflegerische und pastorale Ausbildung haben. Wo die Heilkunst (technisch) versagt, ist die Menschlichkeit noch stärker gefragt. Wir müssen uns auch stärker für die Einrichtung von Palliativstationen, ambulante Hospizarbeit und Hospizen einsetzen. Für einen stärkeren Ausbau der Schmerztherapie und Weiterbildung aller Ärzte in moderner Schmerztherapie.

Manifest wird das große „Ja“ Gottes zu uns im biblischen Menschbild, in der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die für jeden gilt, und den ganzem Menschen meint mit Leib, Seele und in seinen sozialen Beziehungen. So wie Gott nur in trinitarischer Bezogenheit gedacht werden kann, kann der Mensch nur sozial verstanden werden. Weil Gott unverfügbar ist, soll auch die Unverfügbarkeit des Menschen als sein Ebenbild geschützt werden. Diese imago dei ist unbedingter Wert. Dafür muss niemand etwas leisten wie bei Singer. Sie ist dir zugesprochen, auch wenn Du nicht autonom bist.  Sie ist dignitas aliena, fremde Würde, wie Luther es nennt. Keine Eigenschaft von uns, sondern „Außenschaft“. In seinem Reden und Handeln zeigt Jesus, was sie bedeutet: Kranke und Krüppel, die biologisch nicht „Funktionstüchtigen“, soziale Randsiedler, Entrechtete, Arme und Sünder lädt er ein an einen, an seinem Tisch. Dass sie leben, von dem, was er gibt. Teilen das, was er schenkt. Es geht um das, was unser Leben wirklich trägt und hält. Es geht um das, was wir brauchen: Nähe zu Gott, Freude, Gemeinschaft bei ihm.  Es geht um etwas anderes und um mehr als Nützlichkeit. Der Mehr-Wert des Lebens wird hier bei Jesus spürbar.

 

 


[1]
Datum
30.09.2015
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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