Durchatmen, Nachdenken, damit Angst weicht
25. März 2016
Karfreitag, Gottesdienst zur Sterbestunde Jesu, Predigt zu 2. Korinther 5, 19-21
Liebe Gemeinde!
Sie klingen immer wieder nach, die letzten Worte eines Menschen. Sind wie ein Testament. „Kümmere dich um deine Mutter!“ kann so ein letztes Wort sein. Oder: „Seid bitte nicht so traurig, unser Leben war doch wirklich wunderschön!“ Oder „Ich danke dir für deine Liebe.“ Viele unter uns, ich bin sicher, haben solche Worte in sich. Wie einen kostbaren Schatz und eine besondere Erinnerung an Glück. Sie geben wirklich Trost in Seelennot. Im Schmerzenssturm sind sie ein Ruhepol.
Manche letzten Worte hingegen sind wie absichtslos, dahingesagt. Verrückt, denkt man dann, wie alltäglich das war. Wenn auch typisch. „Dann bis die Tage! Man sieht sich!“ – sagte vor knapp einem Jahr ein Freund zu mir und winkt, gewitzt, wie immer. Nie habe ich ihn wieder gesehen. Gestorben ist er von einer Sekunde auf die andere. Und es wird eigentümlich still in einem und ehrfürchtig, weil man gewahr wird, wie unser Leben manchmal am seidenen Faden hängt. Und weil man merkt, wie wertvoll Abschiede sind.
Auch sie klingen leise nach, seine letzten, die sieben Worte, kurz bevor er stirbt. Sie sind geprägt von so viel Qual. Aber auch Fürsorge. Liebe. Dieser unglaublichen Bedürftigkeit im Sterben. All dies, ganz dicht und dringlich. Seine Freunde, die Jünger, halten dieses Leiden kaum aus. Sie haben es wissen, aber nicht glauben können, dass er stirbt. Er? Die Liebe und Barmherzigkeit in Person?! Hingerichtet wie ein Verbrecher? - Neben den Frauen ist es nur noch einer, der am Kreuz mit ausharrt. Der mit ihnen hört, was Jesus spricht: Mich dürstet… Und als er den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und neigte das Haupt und verschied.
Und die Welt steht still.
Ist für eine eigene Zeit aus den Angeln gehoben.
Nichts ist mehr wie es war.
Stille. Sie ist es, die dem letzten Ausatmen folgt. Dem letzten Wort, das gesprochen, geliebt, errungen, gestöhnt, geflüstert wurde. Und es ist die Stille, die das Sterben eines Menschen würdigt.
Nicht die große Rede, woher auch sollten die Worte kommen?
Nicht gleich neue Pläne.
Es liegt Würde darin, das Sterben eines Menschen unbeschreiblich sein zu lassen. Und still.
Als am vergangenen Dienstag in unbeschreiblicher Grausamkeit 34 Menschen von Bomben zerrissen wurden, auf dem Weg zur Arbeit im europäischen Brüssel - vielleicht haben einige von ihnen am Vorabend nur schnell ein „Wir sehen uns!“ der Freundin zugerufen oder am Morgen ihrem Kind einen flüchtigen Kuss gegeben – als die Leben von unzähligen Liebenden brutal vernichtet wurden vom Hass terroristischer Mörder, da waren die Stimmen laut, sehr laut, die sagten: Wir müssen etwas tun. Schnell. Der Terror rückt immer dichter, wird immer unheimlicher.
Gerade weil dies, glaube ich, ein richtiges Gefühl trifft, war ich von dem Twittereintrag eines Journalisten regelrecht angerührt, der schrieb: „Möge unsere Trauer jetzt größer sein als die Angst. Durchatmen. Nachdenken. Brüssel“. Es gab daraufhin kritische Kommentare. „Sträfliche Dummheit“ sei das, schrieb einer zurück – Trauer helfe nicht weiter, jetzt müsse schnell gehandelt werden.
Tatsächlich gleich weiterdenken, weiter planen, Strategien gegen den Terror ersinnen? Nein, sage ich. Jetzt nicht. Es braucht einen Raum der Trauer, ich bin überzeugt. Um innezuhalten und zu weinen über so viele ausgelöschte Leben und Lebensgeschichten. Unendlich traurig zu sein mit den Kindern, die ihre Mutter verloren haben oder mit der Frau, deren Mann an ihrer Seite starb. Zumal die Trauer immer auch die Wut erlaubt. Es gehört zu ihr, dieses Klagen, Fluchen und Schreien über diese abgrundtiefe Bösartigkeit der Mörderbanden.
Und wieder einmal denke ich: Wie gut und richtig, dass wir in unserer christlichen Tradition den Karfreitag haben. Der auch öffentlich Raum gibt für solch tiefe Trauer. Für empörte oder leise Traurigkeit nach furchtbarem Tod, den auch Jesus erleiden musste. Auch er, der liebevollste Bruder, zu Tode gemartert! Das hält doch kein Mensch aus! Und kein Jünger! Wir wissen von ihnen: Sie waren nach Golgatha völlig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, nur weg, heraus aus der Stadt! Verwirrt im Schock. Wer unter uns einen geliebten Menschen verloren hat, weiß, wie das ist. Wie es einen Riss gibt in der Wirklichkeit. Der Tod katapultiert einen in eine Unwirklichkeit, in einen absoluten Ausnahmeraum, der sich aller bisherigen Logik entzieht. Und der einen letztlich sprachlos macht.
Ich bin ehrlich dankbar, liebe Gemeinde, dass wir uns diesen einen Tag im Jahr bewahrt haben, an dem wir auch wirklich einmal still sein können. Und still sein sollen. Und ja, auch still sein müssen. Noch immer ist Karfreitag der am strengsten geschützte Feiertag in unserem Land. Gut so! Weil wir uns sonst selbst nicht lösen könnten aus dem Alltag und der Ablenkung, dem Gedanken daran, nur ja aktiv zu bleiben und kontrolliert – und dies vielleicht tatsächlich aus Angst? Angst vor all den tiefen, manchmal widerstreitenden Gefühlen? Mag sein auch vor der Traurigkeit und der schönen Erinnerung, vor all den Tränen, die noch geweint werden könnten?
Nehmen wir uns diese Zeit, liebe Gemeinde, heute, als eigene Zeit der Stille, die unsere Seele zur Ruhe kommen lässt.
Durchatmen.
Nachdenken.
Damit die Angst weicht.
Und hier in diesem Michel, der so hell bleibt trotz des trüben Tages, hier in die Stille hineingehorcht ist es Gottes Wort, das uns Trost sein will. Das erste Wort, wenn man so will, mit dem man wieder Aussicht bekommt und Klarheit. Ich lese aus dem 2. Korintherbrief des Paulus einige Verse. Es ist zugegeben alte Sprache, aber mit hochaktueller Hoffnung:
Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nunBotschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
Es ist ein kluger Text. Mit großer Gültigkeit für diese Zeit und zwar durch drei Wahrheiten:Gott war in Christus! Das ist die erste Wahrheit: derjenige, der dort am Kreuz zu Tode gefoltert wurde, war Gott selbst. Dieser eine Mensch in all seiner Liebe und all seinem Leiden war nicht einfach ein gescheiterter Revolutionär, auch nicht das Opfer eines furchtbaren Justizirrtums, ein ohnmächtiger Spielball der Mächtigen, wie die Weltgeschichte so viele kennt. Gott erlitt den Tod am Kreuz - und dies ganz sicherlich nicht, weil er Freude am Leiden hatte. Nein, sondern weil er ein für alle Mal klar stellen wollte, dass er, Gott, selbst leidet, wenn Menschen andere knechten, foltern, vergewaltigen, töten. Wo ist Gott? So fragen wir doch oft, wenn Kriege, Katastrophen, eben solche Terroranschläge unfassbares Leid über die Menschen bringen. Ist er abwesend? Bleibt er da oben? Schweigt er unberührt? Sind die Opfer, so wie Jesus es dort am Kreuz empfindet, von Gott verlassen? Paulus ist sich gewiss und gibt die Antwort: Nein! Denn Gott selbst hängt dort am Kreuz! Gott selbst wurde zum Opfer. Und das, liebe Gemeinde, schließt unbedingt aus, dass all diese Gräuel jemals wieder im Namen Gottes begangen werden können. Vielmehr gilt seither: Gerade der, der Gott für seine Gewalttaten in Anspruch nimmt, der lästert Gott!
Die zweite Wahrheit: Gott hat damit das Wort der Versöhnung unter uns aufgerichtet. Versöhnung! Nicht Rache und Vergeltung. Der Teufelskreis der Gewalt muss unterbrochen werden, wenn es nicht immer wieder neue Opfer geben soll. Wir wissen das ja längst. Und deshalb sind wir selbst es, die diesen Gedanken in die Welt hinaustragen sollen und müssen. Als Botschafter an Christi statt. Botschafter, die damit nicht diplomatisch hinterm Berg halten, sondern die es immer wieder sagen und auch danach handeln und ihre Kinder so erziehen und ihren Staat und ihre Politik danach gestalten: Versöhnung geht vor Vergeltung. Lasst uns nicht einsteigen in diese Provokation zum Hass. Das heißt nicht, um des lieben Friedens willen alles hinzunehmen. Aber es heißt, auch auf den Gegner durch Gottes Augen zu schauen, ihm das Leben mehr zu wünschen als den Tod. Und manchen Jungen, der sich zu radikalisieren droht, durch klare Worte und beherztes Handeln vor sich selbst und seinem Hass zu schützen versuchen! Wenigstens versuchen müssen wir‘s!
Ich weiß, das gelingt nicht immer. Und es ist außerdem so menschlich, dass uns selbst Verletzung und Demütigung und Not ungerecht machen und wütend und neidisch. Es ist manchmal übertönend laut, was in uns tobt. Doch – werden wir still! - Gott selbst rechnet uns das nicht zu. Das ist die dritte Wahrheit. Gott nimmt mir in Christus, in seiner Freundschaft und Liebe, alle Sünden ab, heißt es. Oft fällt mir dies schwer, intellektuell zu fassen. Tatsächlich ist es nur zu spüren. Zu glauben. Und zu hören: Wenn wir uns selbst nicht gnädig sind - ER ist es. Das ist sein Sinn und Ziel: dass wir bei allen Fehlern, allem Schmerz, allem Mangel – so sehr wir darum wissen – innere Freiheit erleben sollen. Um unsertwillen also: Durchatmen. Nachdenken. Angst verlieren. Ruhig werden. Jetzt in der Stille des Karfreitags.
Als ich diese letzten Worte meiner Predigt auf meinem Computer tippe, rutsche ich mit dem Finger ab, und so stand da auf einmal das Wort „Karfreutag“. Ich habe es für einen göttlichen Fingerzeig genommen und möchte es stehen lassen… Also Durchatmen. Nach vorn denken. Singen. Das nächste Lied: „Es dient zu meinen Freuden / und tut mir herzlich wohl, wenn ich in deinem Leiden, / mein Heil, mich finden soll.“
Dabei halte uns der Friede Gottes, höher als alle Vernunft, unsere Hoffnung wach und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Bruder. Im Leben und im Sterben.
Amen.