Ein Lied von Gerechtigkeit und Würde
27. April 2016
Festgottesdienst anlässlich des Wechsels an der Spitze des Landesvereins für Innere Mission in Schleswig-Holstein mit der Einführung von Pastor Andreas Kalkowski als neuem Direktor und der Entpflichtung von Pastor Rüdiger Gilde
Lieber Bruder Gilde, lieber Bruder Kalkowski, liebe Gemeinde!
"Singet dem HERRN ein neues Lied!" Das sind die Anfangsworte unseres Wochenpsalms.
"Cantate", dieser Aufruf zum Singen hat einen Beweggrund: "Cantate Domino", singt dem HERRN, singt GOTT! Öffnet ihm eure Herzen, lasst es in euch klingen. Wir singen heute Lieder der Dankbarkeit und der Freude, aber auch der Hoffnung und der Zuversicht, denn in diesem Gottesdienst wollen wir Sie, lieber Bruder Gilde, in den Ruhestand verabschieden und Sie, lieber Bruder Kalkowski, in Ihr neues Amt einführen.
Ein Wechsel vollzieht sich. Er ist mit vielfältigen Gedanken verbunden. Bilder stehen uns vor Augen und Erinnerungen sind im Raum. Wie viel Grund, in die Lieder der Dankbarkeit und Freude, der Hoffnung und Zuversicht einzustimmen! Wir dürfen uns hineinnehmen lassen in das gemeinsame Singen und uns von der Melodie der Lieder und ihrem Zuspruch tragen lassen - gerade auch dann, wenn die Gefühle des Abschieds vermeintlich stärker sind als die der Freude am Neuanfang.
Singt Gott ein neues Lied! Aber was ist dieses neue Lied? Die Psalmworte greifen tief: Ein neues Lied singen heißt, das alte Lied zurücklassen, vergangen sein lassen. Loslassen: das ist die Herausforderung vor allem für Sie, lieber Bruder Gilde, der Sie den Landesverein so lange und so intensiv geprägt haben – und umgekehrt er Sie vor allem! Loslassen an der Schwelle zu einem neuen, ganz anderen Lebensabschnitt – das ist in der Tat eine Herausforderung. Ein Schritt in unbekanntes Land ist das. Und zwar für alle Beteiligten – für Sie persönlich, für Ihre Familie. Aber auch für den Landesverein.
Heute an diesem Tag der Verabschiedung und der Einführung werden wir durch den Wochenspruch ausdrücklich aufgerufen, Gott zu singen, ihm zu musizieren. Dabei dürfen wir auch zurückschauen, uns an die Tage und Lebensabschnitte erinnern, die von einer guten Melodie, von guten Tönen geprägt waren. Schön, wenn wir darüber einander erzählen können!
Und auch die dissonanten Töne haben einen Platz - ob wir sie wollen oder nicht. Die verschiedenen Melodien suchen einander, und sie ergeben am Ende ein Ganzes, einen vollen Klang
Lieber Bruder Gilde, Sie blicken auf ein langes, reiches pastorales Wirken zurück. Es begann 1978 in Neumünster-Wittorf, Ihrer ersten Pfarrstelle, wo der Kirchenmusiker Ihnen gleich am Anfang bei einer Zeltevangelisation sagte: „Hier werden nur Lieder aus dem Gesangbuch und Jugendgesangbuch im Gottesdienst gesungen“, alles andere würde er sich verbitten! Trotzdem wurde es eine beglückende Zeit, denn Sie lernten Ihre Frau dort kennen und lieben. Das Beste, was Sie von dort begleitet bis heute, sagen Sie.
Die zurückliegenden Aktivitäten während der Studienzeit in der ESG, in der Basisgruppe Theologie, Fachschaft und Studentenparlament führten bald zum Wechsel auf die Stelle des Studentenpfarrers an der Kieler Uni, PH- und Fachhochschule. Anti-Atom-Bewegung, Dritte-Welt-Engagement und Friedensbewegung prägten vor allem diese Jahre von 1980-1986. Eine bewegte Zeit für unsere Generation, in vollem Sinn des Wortes. Wir waren bewegt. Und wir wollten bewegen. Krusten aufbrechen, Traditionen in Frage stellen. Sie gehören zu den wirklich entschiedenen Theologen, die sich nicht zufriedengeben wollten und wollen mit lauwarmen Botschaften. Sie sind ein Christus-Botschafter, so gesehen ein ganz Radikaler!
Es folgte nach 6 Jahren der Wechsel in die Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde in Norderstedt, einer damals relativ jungen Gemeinde, in der sie als jüngerer Kollege neben üblichen pastoralen Aufgaben insbesondere für die jüngere Generation verantwortlich waren. Im Kirchenvorstand und für die Mitarbeiterschaft übernahmen Sie Leitungsaufgaben, deren klare Struktursetzungen und Entscheidungsprozesse sehr geschätzt wurden. Diakonische Aufgaben für Flüchtlinge und in der Mitarbeit im Vorstand einer Suchtberatungsstelle kamen hinzu. Diese Arbeit legte den Grundstein für Ihren Dienst im Landesverein für Innere Mission in Rickling, dem Sie seit 1996 als Direktor vorstehen.
Während der vergangenen 20 Jahre war Ihnen eines immer wichtig: den diakonischen Charakter der Arbeit zu sichern und für eine zielgerichtete Weiterentwicklung der Arbeit für Menschen in den Arbeitsfeldern des Landesvereins zu sorgen. Dazu war es nötig, das diakonische Handeln nicht nur als Sinnhorizont und Motiv zu hilfreicher Praxis, sondern vielmehr als tragenden Grund für das Leben begreiflich zu machen und besondere Angebote von Seelsorge, Andachten und Gottesdiensten als integralen Bestandteil der Arbeit des Landesvereins zu gestalten. Diakonie ist eben nicht nur die Sozialarbeit der Kirche. Sie ist spiritueller Raum der konkreten Zuwendung zu den Schwachen und Elenden. Sie haben, trotz aller schmerzlichen, personellen Einsparungen im Bereich des Seelsorgezentrums dafür gesorgt, dass möglichst viele Mitarbeitenden eine theologisch-diakonische Weiterbildung, den sogenannten „Basiskurs Diakonie“, besuchten.
In der Verantwortung für die Weiterentwicklung der Arbeit des Landesvereins ist es Ihnen gemeinsam mit dem Geschäftsführer und den in den Arbeitsfeldern des Landesvereins verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelungen, die Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen frühzeitig zu erkennen und dann notwendige Veränderungen zügig umzusetzen.
So gelang es … in der Psychiatrie mit dem Psychiatrischen Zentrum ein sozialpsychiatrisch ausgerichtetes Netzwerk sehr differenzierter Behandlungs-, Betreuungs- und Pflegeangebote mit Bedeutung für die Region und darüber hinaus aufzubauen; im Bereich der Arbeit für und mit Menschen mit Behinderungen an der Schnittstelle zur psychiatrischen Arbeit im Kreis Segeberg Zweigwerkstätten für Menschen mit psychischen Behinderungen zu errichten; …im Bereich der Suchthilfe in der Fachklinik Freudenholm-Ruhleben für die Entwöhnungsbehandlung hervorragende bauliche Standards zu schaffen und dort wie auch in der Entgiftungsabteilung des Landesvereins die Platzzahl zu erweitern. Auch konnte das Netz der Suchtberatungsstellen im Kreis Pinneberg erweitert sowie im Nordteil des Kreises Ostholstein neue Angebote geschaffen werden; … dass im Alter pflegebedürftige Menschen in den stationären Pflegeeinrichtungen in den vergangenen Jahren überall eine ausgesprochen gute räumliche und bauliche Strukturqualität vorfinden konnten.
Gelungen ist es, die Pflegeeinrichtungen lokal gut zu verankern und das Pflegeangebot durch eine Vielzahl mit den stationären Häusern verbundenen betreuten Wohnungen zu ergänzen. Nicht gelingen konnte aufgrund der Vergütungen nach den Arbeitsvertragsrichtlinien eine Erweiterung des Leistungsspektrums durch die ambulante Pflege, obwohl gerade diese Ergänzung sinnvoll wäre.
Als Drittes war es Ihnen immer wichtig, auch in Rickling an die Ermordung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen in der nationalsozialistischen Zeit zu erinnern und der Frauen, die in Rickling gelebt haben und Schutz und Hilfe brauchten, aber ins Konzentrationslager Pfafferode verlegt und dort um ihr Leben gebracht wurden, zu gedenken. Überhaupt sind Sie ein Bruder, der unaufgeregt aber klar dafür eintritt, dass wir uns unserer Geschichte stellen, dass wir Mitverantwortung nicht verdrängen, sondern benennen – das gilt bis in die letzten, kontrovers geführten Debatten um die Neuanfänge nach 1945, denen Sie den Raum eröffnet haben. Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung – das war und ist für Sie nie nur ein Wort!
Insbesondere dafür danke ich Ihnen sehr. Ich danke Ihnen aber auch dafür, dass Sie den Landesverein die letzten 2 Jahrzehnte durch wechselvolle Zeiten in ruhiger, besonnener und vorausschauender, vor allem auch kollegialer Weise geführt haben. Und wir danken Ihnen dafür, dass und wie Sie den Landesverein und seine Einrichtungen integriert haben in die Gesellschaft hinein – als unverzichtbarer Beitrag zur Daseinsvorsorge für alle Menschen.
Wir werden Sie vermissen. Ihre Berichte als Direktor in den Vorstandssitzungen und bei den Mitgliederversammlungen während der Sommerfeste sind von höchster Originalität in ihrer sachlichen Stilführung, die doch nie verschleiern konnte, wie sehr Sie als ganze Person, mit Verstand und Gefühl, mit Leib und Seele bei der Sache waren und sind.
Sie haben Ihren Dienst versehen als Diakoniker. Aber vor allem als Pastor, als Seelsorger, der weiß, dass Glaube und Vernunft, Glauben und Denken einander nicht ausschließen, sondern zusammengehören. Sie waren immer besorgt um unsere Bildung: Ihre Weihnachtsgeschenke haben unsere persönlichen Bibliotheken sehr bereichert!
Ich danke Ihnen auch im Namen unserer gesamten Landeskirche für Ihren pastoralen Dienst über fast 40 Jahre, für Verkündigung in Wort und Tat, für Ihr Lied zur Ehre Gottes!
Lieber Bruder Kalkowski,
jemandem nachzufolgen, der 20 Jahre lang die Einrichtung geprägt hat, der tiefe Spuren hinterlässt – das ist nicht nur einfach.
Sie übernehmen jetzt den Taktstock von Bruder Gilde und werden Ihrerseits den Landesverein für Innere Mission weiterentwickeln. Die kulturbezogene Psychiatrie z.B. möchten Sie ausbauen und sich noch mehr als bisher den Migrantinnen und Migranten der zweiten und dritten Generation mit ihren Problemen widmen. Damit wird ein Merkmal der Diakonie unterstrichen, das sie schon immer kennzeichnete: Für die Menschen und mit den Menschen sein in der jeweils unverwechselbaren Realität! Kirche für andere bei den Menschen. Wir haben als Kirche und Diakonie Bilder guten Lebens anzubieten und wir können sie leben! Wir können konkrete Gesellschaft gestalten, indem wir deutlich machen: eine Gesellschaft ist nur so stark, wie sie eine Schwäche für die Schwachen zeigt! Indem sie das Lied singt des Gottes, der sich der Armen und Elenden erbarmt. Und indem sie Lieder, die dies leugnen, nicht mit anstimmt.
Auch gilt es im Bereich der Suchttherapie, sich verstärkt den nichtstofflichen Süchten wie z.B. der Internetabhängigkeit zu widmen. Damit einhergeht die Notwendigkeit, sich vermehrt der Gruppe der Jugendlichen anzunehmen und neben stationären und teilstationären Angeboten ambulante Angebote zu machen.
Der Vorstand des Landesvereins für Innere Mission freut sich darauf, den Weg in die Zukunft mit Ihnen gemeinsam zu gehen und er vertraut darauf, dass Sie sich auch an neuer Wirkungsstätte als ein visionärer und inspirierender Mann erweisen, der zupacken kann und ungewöhnliche Ideen Wirklichkeit werden lässt.
Ich weiß aus der Zeit Ihres Vikariats, dass Sie ein kreativer Pastor sind, ein Theologe, der sein Reden aus der Nähe zu den Menschen speist, der Ideen entwickelt und ohne Angst ausprobiert. Und das sagen Menschen von Ihnen, die Sie kennen und lange mit Ihnen zusammengearbeitet haben - zunächst in der Kirchengemeinde Bergedorfer Marschen in Neuallermöhe. Dieser Stadtteil entstand in den 1990er-Jahren quasi aus dem Nichts: Häuser, Straßen, Kanäle, Schulen und Kindergarten wurden neu angelegt. Es gab weder eine Kirche noch ein Gemeindehaus. Daher wurde für die Gemeindearbeit ein Bauwagen genutzt. Für große Gottesdienste war darin kein Platz. Deswegen wurde z.B. der 1. Heiligabendgottesdienst in einer Tiefgarage gefeiert. Sie hat damals die Herausforderung gereizt, eine Gemeinde komplett neu aufzubauen. Das ist Ihnen gelungen. Unzählige Projekte und Freizeiten haben Sie initiiert, die „FesteBurg“ als erstes ökumenisches Gemeindehaus Hamburgs eröffnet und die „Spielscheune der Geschichten“ ins Leben gerufen.
Auf die Zeit in Neuallermöhe folgte der Dienst als Leiter des Hauses am Schüberg, dem Tagungs- und Bildungshauses des Kirchenkreises Hamburg-Ost in Ammersbek. Hier haben Sie als „Trendscout“ versucht, Themen aufzugreifen und mit Interessierten zu diskutieren mit dem Ziel, als Kirche etwas in der Gesellschaft zu bewegen. So haben Sie z.B. zusammen mit Pastor Friedemann Magaard vom Christian Jensen Kolleg in Breklum die Reihe „Globale Transformation“ ins Leben gerufen und u.a. versucht, ein Konzept für ein gutes Zusammenleben mit Flüchtlingen zu. Ganz im Sinn des Psalms: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Er sieget mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm; der Herr lässt sein Heil verkündigen, er offenbart seine Gerechtigkeit…“
Ein neues Lied wird angestimmt im Landesverein. Nein: es ist dasselbe Lied, mit derselben Melodie des Lobes und des Dankes. Wir danken Gott für den Dienst von Pastor Gilde. Und wir danken Gott, dass er Pastor Kalkowski an seine Stelle setzt – mit seinen Gaben. Hier wird weiter gesungen werden von der Gerechtigkeit, die Gott errichten will, von der unantastbaren Würde aller Menschen, gesund und krank, stark oder schwach. Es wird weiter gesungen das Lied unseres Gottes, der an der Seite der Elenden geht, der aufsteht gegen Unrecht und Unbarmherzigkeit. Es wird weiter gesungen das Lied von dem Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung, auf Pflege und Integration. Es wird weiter gesungen davon, dass Kranke kein Kostenfaktor sind, der stört, sondern Anteil haben sollen an dem Reichtum, den der Herr seiner Kirche schenkt.
Sie, lieber Bruder Kalkowski, werden hier und da die Melodienfolge variieren. Aber Sie werden einstimmen in das Lied, das hier in der Region und weit darüber hinaus seit vielen Jahrzehnten zu hören ist, das singt vom Sieg des Heils, das Gott verheißt. Denn alles, was hier geschieht, alles, was hier gebaut und auferbaut wird, ist doch immer nur eine wunderbare Ausgestaltung des einen Amtes der Kirche und ihrer Diakonie: die Verkündigung des Wortes Gottes, des Amtes, das die Versöhnung predigt in eine gespaltene, zerrissene Welt hinein.
Wir müssen dies Lied, liebe Gemeinde - Gott sei Dank - nicht selbst erfinden. Seine Inhalte sind schon vielfältig in Worte gefasst: Gott hat sein Heil kund werden lassen in der Geschichte des Volkes Israel und mit der Geburt Jesu von Nazareth. Er ist es, der uns tröstet und sagt: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden! (Joh 16.33)
Ihnen, lieber Bruder Gilde und den Ihren möge Gottes Segen greifbar bleiben.
Für Sie, lieber Bruder Kalkowski, erbitten wir den Segen unseres Dreieinigen Gottes!
Amen.