Ein Ort der Stille und der Verwunderung
03. August 2014
7. Sonntag nach Trinitatis, Predigt anlässlich der Festwoche 100 Jahre Friesenkapelle zu Wenningstedt
Der Friede Gottes sei mit uns allen.
Liebe Festgemeinde,
diese Friesenkapelle ist eine besondere Kirche, das habe ich schon bei meinem ersten Besuch vor 3 Jahren gespürt. Von Beginn an ist dieser Ort eine Kirche für besondere Gelegenheiten. Und um diese Kirche herum ist dann im Laufe ihrer Geschichte eine Gemeinde gewachsen, die diesen Charakter lebendig hält.
Ganz unterschiedliche Menschen versammeln sich in dieser Gemeinde:
Menschen, die hier in der Nähe wohnen. Aber in dieser Kapelle sind es neben den Wenningstedtern, Braderupern und Kampenern noch viele andere, die hier bei besonderen Gelegenheiten zusammenkommen.
Die Kirche der Norddörfer Sylts ist schon gebaut worden, damit die Badegäste auf der Insel auch im Urlaub keinen weiten Weg zum sonntäglichen Gottesdienst hatten und so wurde sie anfangs als Sommerkirche genutzt. In den Sommermonaten kam immer wieder sonntags ein Pastor aus Keitum von St. Severin, um den Gottesdienst zu halten.
Seitdem hat sich viel verändert und die Gelegenheiten sind vielfältiger und zahlreicher geworden. Die Friesenkapelle hat schon lange eine eigene Pfarrstelle und ist mittlerweile auch eine eigenständige Gemeinde in guter Nachbarschaft zu St. Severin. Ja, sie ist viel mehr als eine Sommerkirche und doch bleibt es der Sommer, der die Gelegenheit bietet, 100 Jahre Friesenkapelle zu feiern: Der Sommer 2014, weil 1914 der Bau begonnen hat. Diese Jahreszahl auf dem Kirchturm ist weithin zu sehen. Dabei ist es eigentlich erst der hunderste Sommer, in dem die Friesenkapelle mit ihrer Behaglichkeit vielen Menschen zu einem liebenswerten Ort geworden ist.
Die Friesenkapelle steht mit ihren einladenden Öffnungszeiten allen Menschen offen: von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang – Tag für Tag. Die Offenheit einer Kirche macht sie zu einem öffentlichen Raum. Das unterscheidet eine Kirche von einem Wohnzimmer: auch die Friesenkapelle, die mit den Delfter Kacheln rund um Kanzel und Altar an einen Pesel – dem friesischen Wohnzimmer – erinnert. Sicher, auch in Wohnzimmern können wir Gottesdienste feiern und so hat es in Wenningstedt vor über hundert Jahren begonnen und dann ging es im Friesenhof weiter.
Ja auch in einer Gastwirtschaft – überall – können wir Gottesdienste feiern. Und doch gibt es einen Unterschied zwischen einer Kirche und einer Gastwirtschaft, genauso wie es einen Unterschied zwischen einer Kirche und einem Wohnzimmer gibt. Das Wohnzimmer ist ein privater Rückzugsort und in der Gastwirtschaft steht das leibliche Wohl im Vordergrund und dass der Wirt auch davon leben kann. Das hat jedenfalls 1911 dazu geführt, dass der schon lang gehegte und immer wieder verworfene Plan zum Bau einer Kirche, nun endlich beschlossen wurde.
Im Friesenhof sollten am Sonntagnachmittag wieder Kaffee und Kuchen verkauft werden und für den Gottesdienst musste eine Kirche her.
So wurde 1914 der Grundstein für die Friesenkapelle gelegt. Die Norddörfer haben eine eigene Kirche bekommen: einen öffentlichen Raum für den Gottesdienst – einen Ort, wo unter dem Kreuz aus Delfter Kacheln Menschen mit allem, was das Leben ausmacht, zusammenkommen. Das Private gehört genauso dazu wie das leibliche Wohl. Doch die Einladung in die Kirche spart nichts aus. Der Glaube an Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, hat das Ganze im Blick und auch die Gegensätze des Lebens haben hier ihren Platz: Freude und Tanz und Engagement neben Trauer und Klage. Das spiegelt sich auch in der Festwoche mit Tourismustag, Flüchtlingstag, deutsch-polnischem Freundschaftstag und Fußballtag…
1914, das Jahr, das an die Anfänge der Friesenkapelle erinnert, steht auch für Gegensätze und insbesondere für den Ausbruch des ersten Weltkriegs. Heute gedenken in vielen Gottesdiensten in Europa Menschen aus verschiedenen Nationen gemeinsam den Opfern dieses furchtbaren Krieges, der vor hundert Jahren in den ersten Augusttagen begonnen hat. Unser Erinnern und Gedenken wird in diesen Tagen überlagert von den aktuellen Bildern des Krieges und der nicht endenden Gewaltspirale im Nahen Osten.
Auf der Insel Sylt waren im Jahr 1914 die Folgen des Kriegsbeginns nicht ganz so unmittelbar zu spüren. Die Katastrophen militärischer Auseinandersetzung nach dem zweiten Weltkrieg prägte das Leben auf der Insel weit mehr. Auf der Insel ging das Leben weiter und auch die Friesenkapelle konnte trotz des Kriegsausbruchs damals zügig vollendet werden. Allerdings musste in manchen Teilen auf andere Handwerker zurückgegriffen werden, weil ausländische Meister keine Aufenthaltsgenehmigung erhielten.
Die wunderbare Deckenmalerei im Halbtonnengewölbe geht auf Entwürfe des schwedischen Künstlers Zetterstrand zurück. Doch die Durchführung der Arbeiten mussten von Berliner Künstlern übernommen werden.
Auf eine Szene und die damit verbundene biblische Geschichte in diesem Gewölbe möchte ich Ihre Aufmerksamkeit richten. Eine Geschichte in der Erholung und Gefahr plötzlich aufeinander treffen.
Lesung des Textes nach Lukas (Lk 8, 22-25)
Und es begab sich an einem der Tage, dass er in ein Boot stieg mit seinen Jüngern; und er sprach zu ihnen: Lasst uns über den See fahren. Und sie stießen vom Land ab. Und als sie fuhren, schlief er ein. Und es kam ein Windwirbel über den See und die Wellen überfielen sie, und sie waren in großer Gefahr. Da traten sie zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Meister, Meister, wir kommen um! Da stand er auf und bedrohte den Wind und die Wogen des Wassers, und sie legten sich und es entstand eine Stille. Er sprach aber zu ihnen: Wo ist euer Glaube? Sie aber fürchteten sich und verwunderten sich und sprachen zueinander: Wer ist dieser? Auch dem Wind und dem Wasser gebietet er und sie sind ihm gehorsam.
Der Hinweis auf diese Geschichte darf auf dem Gewölbe hier in Wenningstedt nicht fehlen. Was kann die Gefahren, denen wir auf dem Meer des Lebens ausgesetzt sind, auf der Insel Sylt treffender zum Ausdruck bringen als die Gefahr auf dem Wasser und durch das Wasser.
Die Geschichte der Insel geht auf eine große Katastrophe zurück: De groote Mandränke vor über 650 Jahren. Diese große Flut machte Sylt erst zu einer Insel und mit dieser Flut verliert sich die Geschichte einer wahrscheinlich schon einmal dagewesenen Kirche in Wenningstedt.
Bis heute ist das Nagen des Wassers an der Küste wohl nirgends so sichtbar wie auf Sylt. Die Insel lebt mit dieser Gefahr und zugleicht lebt sie von der Nähe zum Wasser und zum Strand: Heute ist Sylt ohne die Badegäste nicht mehr denkbar und für viele der Gäste ist die Insel zu einem zweiten Zuhause geworden.
Damit verbunden ist ein zu Sich-selber-Kommen an einem anderen Ort. Etwas, das wir an uns nur entdecken können, wenn wir uns auf die Reise begeben. Das Reisen um des Verreisens willen hat in seiner Ausbreitung in den letzten hundert Jahren enorm zugenommen. Und es ist zugleich in seinem Grundgedanken eine immer schon dem Menschen innewohnende Sehnsucht: nach Ferne, nach etwas Neuem oder nach Unterbrechung des Alltags durch Ortswechsel.
Wir wissen nicht, welche Sehnsucht Jesus angetrieben haben mag, als er sagte: Lasst uns über den See fahren. Das Faszinierende an der Geschichte, die durch den Sturm führt, sind die Dinge, die beiläufig erzählt werden.
Wie eben ihr Anfang. Es geht um eine Fahrt über den See – einfach so. Ob es zum Vergnügen ist oder um einfach einmal in Ruhe schlafen zu können, wird nicht gesagt. Oder was mag es noch für Gründe gegeben haben, über den See zu fahren. Welche Gründe gibt es, in den Urlaub zu fahren? Was suchen Sie, die Urlauber hier auf Sylt?
Für die Menschen, die mit Jesus im Boot waren, bot diese Fahrt über den See, die Gelegenheit, mit Jesus einen Moment allein zu sein.
Doch wie es auf jeder Urlaubsreise manchmal sein kann, ist auf diesem Ausflug alles anders als erwartet. Jesus schlief sofort ein und dann der Sturm. Auf einmal auch noch allein gelassen – mitten in der Gefahr.
Dieser seelenruhige Schlaf, den weder Sturm noch Welle unterbrechen kann, ist so wunderbar und gibt dieser Geschichte eine Offenheit, immer weiter zu fragen, wer wir sind und was wir glauben. Vertrauen wir auf eine Kraft, die eingreift und uns rettet, wenn es gefährlich wird - oder trägt uns der Glaube auch durch schwierige Situationen des Lebens hindurch – auch wenn wir das Gefühl haben: Gott selbst ist weit weg, schweigt und schläft.
Die Geschichte erzählt von einer großen Stille nach dem Sturm. Jesus hat eingegriffen. Doch was führt uns in die Stille, dahin, wo unsere Seele zur Ruhe kommt? …. Ist es nicht das Vertrauen auf die Gegenwart Gottes? Ein Vertrauen darauf, dass wir Menschen gehalten werden, was auch immer geschieht, ob er eingreift oder schläft, ob es stürmt oder die Sonne scheint.
Um in der Stille anzukommen, brauchen wir Orte und Gelegenheiten. Manchmal gelingt es fern ab von allem, was mich sonst ausfüllt und umtreibt. Manchmal sind es auch die vertrauten Dinge und Orte, an denen ich zur Ruhe kommen kann. Die Friesenkapelle bietet die Gelegenheit, zu jeder Tageszeit einen Ort der Stille aufzusuchen, und das Gebetbuch erzählt von den Sorgen und Nöten und von der Dankbarkeit.
Was Menschen in der Stille erleben, dann, wenn sie ganz bei sich und ganz bei Gott angekommen sind, muss nicht in der Stille bleiben. Es braucht Ausdrucksformen von Freude oder Furcht, von Traurigkeit oder Entzückung.
In der Geschichte sind die Menschen nach der Stille verwundert und auch das gehört dazu, wenn Menschen ihren Glauben leben.
Verwunderung über das, was es zu entdecken gibt.
Manche Menschen sind bis heute darüber verwundert, welch eine Vielfalt an Ausdrucksformen der christliche Glaube bietet.
Manche Menschen sind bis heute darüber verwundert, dass es Gelegenheiten gibt, bei denen ich entdecken kann, dass der Glauben etwas mit dem Leben zu tun hat.
Die Geschichte der Friesenkapelle zeigt, dass Menschen diese Gelegenheiten suchen, ob aus der Nähe oder aus der Ferne. Und darüber können wir uns heute gemeinsam freuen und dankbar sein!
Möge sie ein Ort bleiben, an dem sich Menschen begegnen und etwas erfahren können, über sich und die Welt und über Gott.
Ein Ort der Stille und der Verwunderung.
Amen.