Eine Geschichte des Aufbruchs
24. Mai 2015
Pfingstsonntag, Festgottesdienst anlässlich 900 Jahre Kirche St. Vinzenz, Predigt zur Apostelgeschichte, Kapitel 2, Verse 1-18
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder!
I
„Und es hob ein Sausen und Brausen an, wie ein Sturm. Und es war zu spüren in dem Haus, in dem sie saßen“…
Was Lukas als Pfingstereignis beschreibt – das kennen Sie auf Nordstrand zur Genüge! Nordseestürme, unberechenbar, können das Haus durchrütteln. Dann sind spürbar die Kraft und die Macht der Schöpfung, nicht selten bedrohlich. Auch dazu gibt es diese Gotteshäuser auf den Warften, wehrhaft als „feste Burg“ gebaut: Dass sie Schutz bieten vor den Gewalten der Natur!
Die Odenbüller St. Vinzenz Kirche ist seit 900 Jahren Inbegriff einer festen Burg. Dieses älteste Nordstrander Gebäude und das einzige mittelalterliche hier auf der Halbinsel hat – so habe ich in Ihrer Chronik gelesen – eine hohe Warftlage von 4,5 Metern über Normal Null. Dank dieser Lage hat sie allen Stürmen und Sturmfluten seither getrotzt. Es waren nicht wenige und es waren grausam zerstörerische dabei: die Mandränke von 1362 ist da zu nennen und die von 1634.
Die Jünger Jesu hatten damals lange gewartet, dass der Sturm endlich losbricht. Sie hatten Angst. Jesus hatte sie verlassen. Sie sitzen zusammen, beten, grübeln, beraten sich. Sie warten auf den Geist des Trostes und der Kraft, den Jesus verheißen hatte. Und sie konnten gar nicht schnell genug hinaus, den Kopf in den Wind halten, damit er ihnen um die Ohren blasen und alles, was sie seit dem Tod Jesu „verstopft“ hatte, heraustreiben würde.
Die ersten Gemeinden: Sie erlitten Verfolgung, Schmähungen wegen ihres jungen Glaubens. Einige waren gestorben, ohne dass das Reich Gottes hereingebrochen war, wie sie es erwartet hatten. Die Kraft des Glaubens erlahmte, das Feuer der ersten Christen, es drohte zu verglimmen.
Doch plötzlich passierte etwas. Die Jünger Jesu um Petrus erlebten es. Es ist mit dem Verstand nicht zu erklären. Dann plötzlich: Wie sie beieinander saßen, einander stärkten und stützten, da kam es über sie wie ein mächtiger Sturm, der hernieder fährt; wie Flammen des Geistes von Gott. Alle Sorgen waren wie weggeblasen, Angst wie weggeweht. Sie fingen an zu reden, laut, offen und frei. Mit glühenden Worten, wie mit feurigen Zungen. Sie mussten hinausrufen, können es nicht für sich behalten: „Jesus, den ihr tot glaubt, lebt und spricht durch uns. Seht, wie er uns frei macht von der schlimmen Angst.“ – Sie glühten vor Begeisterung: Jesus ist unter uns. Die Kraft von Gott ist bei uns.
Eine wunderbare Sturm- und Feuergeschichte erzählt Lukas in der Apostelgeschichte, dem Buch der ersten Christen. Im Original sicher nicht auf Plattdeutsch oder auf Friesisch, sondern auf Griechisch. In welcher Sprache auch immer: Eine Geschichte des Aufbruchs, des Umbruchs, der Ermutigung, der Kraft von Gott.
Die Menschen hören, staunen. Sind verblüfft, auch befremdet. Viele werden mitgerissen von der mutigen Verkündigung. Erinnern, was Jesus gesagt hatte, bevor er ging: „Ich lebe und ihr sollt auch leben!"
Wie aus einem erloschen geglaubten Vulkan bricht es aus den Jüngern hervor. All die schlafende Energie schleudert das Urgestein des Glaubens hervor, schiebt sich wie Feuer über die alte Angst, die Verzagtheit, das Alles-berechnen-Wollen, das Risiko-einschätzen-Müssen, das sich Am-besten-dagegen versichern-Wollen und die alte Furcht vor dem Aufbrechen. Manchem wird es zu heiß. Viele ergreifen die Flucht, um nicht mitgerissen zu werden. Andere schreien: „Ja, die haben Recht, die Männer aus Galiläa! Wir können sie verstehen, wir aus Asien, Mesopotamien, Kreta; wir aus Arabien, Ägypten und Rom. Sie reden die Sprache Gottes. Alle zusammen. Alle eins. Eine Sprache.“
Ein Geist: Gott kennt keine Sprachbarrieren, keine trennenden Konfessions- und Ländergrenzen. Kein Kirchturm-Denken. Es bildet sich eine Kirche in der Kraft des Geistes. Eine Gemeinschaft der Verschiedenen, der Vielfalt, die nicht länger Angst macht, sondern reich!
II
Liebe Schwestern und Brüder, seit 900 Jahren ist sie auch hier auf Nordstrand lebendig, die geistkräftige Kirche. Lebendig in allen Höhen und Tiefen – so wie es die ersten Jünger gespürt hatten: die begeisternde Gegenwart Jesu, seine Worte und Taten, seine Gleichnisse und Wunder.
Schön, dass Sie alle hier sind und gemeinsam „900 Jahre unsere Kirche“ mit einem großen Pfingstgottesdienst feiern. Obwohl – es sind noch nicht alle da. Ich habe gehört, dass eine Abordnung von Pellworm etwas später kommt, wegen der Fähre.
Aber Ihr habt ja mich und meine Frau hier: wir sind halbe Pellwormer – seit über dreißig Jahren verbunden mit der Insel drüben.
Das ist ein wichtiges Merkmal der Inseln: nicht der Mensch bestimmt den Rhythmus des Lebens: das Wasser tut es mit seinen Gezeiten. Die Schöpfung behält das Sagen – die Menschen hier wissen das und sie achten das. Das macht und hält sie und uns alle demütig. Wir wissen, was es bedeutet, wenn man diese Macht in Frage stellt oder ignoriert! Der Klimawandel als Folge unserer Lebensweise ist auch hier zu spüren: höhere Fluten, stärkere Stürme. Der Geist Gottes sollte und müsste den Menschen auch manche der Flausen austreiben, die der Schöpfung Schaden zufügen!
Sie hier stellen Kirche und Gemeinde in den Kraftstrom des Heiligen Geistes. Und feiern das Jubiläum mit diesem Gottesdienst und danach mit einem Festprogramm zwei Wochen lang!
Ich bin mir sicher: Auch wenn man in Schleswig-Holstein manchmal etwas bedächtiger ist als es die ersten Christen in Jerusalem damals waren - in diesen zwei Wochen wird Gottes Geist hier wehen, so wie er seit 900 Jahren in dieser Kirche weht, die Menschen anbläst, sie ermutigt. Gottes Kraftstrom: das ist kein bedrohlicher Mahlstrom, kein Sog, der einen von Land weg ins Ungewisse zieht. Nein, er ist der Wind unter unseren Flügeln, der uns Kraft gibt aufzusteigen und der uns Orientierung gibt, den richtigen Weg zu finden.
Dieses Gotteshaus ist in den 900 Jahren seiner Geschichte Zufluchtsort gewesen für Generationen, die hier Schutz fanden vor Stürmen und Gewalten. Und zwar nicht nur vor Stürmen, die über die Nordsee fegen. Sondern auch vor Seelen-Stürmen. Menschen fanden und finden zusammen in Freude und Leid, in Bitte und Klage in Lob und Dank. Anfang und Abschied werden hier begangen.
III
Pfingsten will ein Fest der begeisternden Lebenskraft in uns sein. Das gilt es zu feiern: Dass Gott uns seinen guten Geist gibt, damit wir Kraft haben im Kampf gegen Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit in unserem Leben und in der Welt. Nicht Gewalt sollen wir haben – aber Kraft sollen wir wirken lassen! Nicht Violence – aber Power! Genauso, wie es der Prophet Sacharja sagt: „Es soll nicht durch Heer oder Gewalt, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“
IV
Ich habe Ihre beeindruckende Festschrift gelesen, eine Festschrift, die bunt und fröhlich und vielfältig ist. Bei aller Dramatik, bei allen schweren Situationen, von denen sie auch berichtet: Hier ist eine Gemeinde, die christliches Leben gestalten will, Menschen ansprechen. Heimat und Gemeinschaft bieten, in der Nachfolge Jesus. Eine – wie ich glaube – in Schleswig-Holstein besondere Gemeinschaft.
An diesem Gottesdienst und an diesen Feierlichkeiten nehmen etwa 100 Batak-Christen teil, die von überall aus Deutschland und dem Ausland kommen. Hier auf Nordstrand wurde Ludwig Ingwer Nommensen geboren, hier wuchs er auf. Der Pfingstgeist wehte ihn nach Sumatra, wo er – nicht unter den Menschen, wie man so oft sagt – sondern mit den Menschen, mit den Batak Kirche Jesu Christi baute und den Batak ein Batak wurde. Und dass das Pfingstwunder dieser Ökumene nun seit gut 150 Jahren trägt: das hat doch auch mit diesem Missionar zu tun, der eben nicht hinausgegangen ist, um zu belehren, sondern um zu verkündigen, und auch um zu lernen. Er ist den Menschen mit Liebe begegnet, mit Achtung vor der unantastbaren Würde jeder und jedes Einzelnen. Er hat gewusst: wir Christen hier sind nicht der „Nabel der Welt“, sondern wir sind eine Provinz der Weltchristenheit! Ohne die anderen sind wir nicht vollständig; ohne die Fremden, ihre Kulturen und ihre Erfahrungen bleiben wir unvollständig.
Hier auf Nordstrand gibt es auch den Dreiklang der Konfessionen: die drei Kirchtürme der ev. luth., der röm. kath. und der Altkatholischen Gemeinde.
Der Weg zur ökumenischen Gemeinschaft ist ein langer Weg gewesen. Vielleicht wären die katholischen Holländer, die im 17. Jahrhundert zum Deichbau angeworben wurden, lieber in ihrer Heimat geblieben? Doch schon damals mussten manche ihre Heimat verlassen. Aber: Ihnen wurde Religionsfreiheit zugesichert. Das war keineswegs selbstverständlich in jener Zeit. Dann kam es zur Spaltung der katholischen Kirche in Holland – keine sehr friedliche Angelegenheit, die auch die Nordstrander Katholiken entzweite. Doch der lange Weg – auch einer mit Höhen und Tiefen – führte schließlich zu den drei Kirchtürmen auf Nordstrand, zu Grußworten in der Festschrift, die Verbundenheit zum Ausdruck bringen und zum Mitwirken im Gottesdienst. Der Auferstandene selbst lädt ein zur Gemeinschaft, zur im Gebet und im Hören auf Gottes Wort. Wer von uns will da seine Mitschwester, seinen Mitbruder nicht an seiner Seite wissen?!
Ja, und das ist eine wunderbare ökumenische Realität hier auf der Insel Nordstrand. Ein Beispiel für das, was uns verbindet. Und das ist viel mehr als wir immer wahr haben wollen. Und die Ökumene ist viel älter, als wir zum Beispiel feiern: nicht erst seit dem II. Vatikanischen Konzil vor 50 Jahren haben wir ein ökumenisches Miteinander. Es gab früher, viel früher bereits die Ökumene des Widerstands. Ich denke an die Märtyrer, die Lübecker Märtyrer zum Beispiel: drei katholische Kapläne und ein evangelischer Pastor haben gemeinsam mit ihrem Leben bezahlt, weil sie den Mut hatten, gegen die Nazis aufzustehen, nicht hinzunehmen Rassenhass, Gewalt und Krieg. Sie haben das Wort des Friedens und der Liebe verkündigt.
Und ihr Vermächtnis ist uns Verpflichtung: in dieser friedlosen Welt, angesichts von Terror, Flucht, Vertreibung und Völkermord können wir es uns nicht leisten, gemeinsam von Gott zu schweigen! Wir haben gemeinsam von Gott zu reden; haben gemeinsam aufzustehen gegen das Morden und Kriegführen. Die Menschen warten auf das Wort, das aufrichtet und zurechtbringt. Wir schulden es der Welt! „Es soll nicht geschehen durch Heer und Kraft, sondern durch meinen Geist, spricht Gott, der Herr!“ – Gott traut uns zu die prophetische Rede.
Die Gemeinschaft, die der irdische Jesus lebte, bekräftigt der Auferstandene. Bleibt zusammen, sagt er uns; wo ihr getrennt seid: findet wieder zusammen. Gestaltet eure Gemeinde, gestaltet die Welt und steht dabei zusammen. Eine gute Wegstrecke haben wir bereits miteinander geschafft in der Ökumene. Dass wir dennoch noch nicht vollkommen vereint sind am Tisch des Herrn, bleibt eine schmerzende Wunde. Und das sagt uns: wir sind noch nicht am Ziel, solange wir die Einladung des Herrn an seinen Tisch nicht gemeinsam annehmen.
Aber bei allen Unterschieden: das Gemeinsame ist viel stärker als das, was uns trennen mag. Das Wort Gottes, sein Heiliger Geist weht, wo er will und kennt keine Konfessionsgrenzen. Gerade in der Sendung zu den Elenden und Schwachen, in seiner Sendung über die Grenzen hinaus gilt, was die Menschen in Jerusalem erleben: der Geist öffnet Herzen und Münder, gibt Worte und Stimme, bringt zusammen die Fremden; der Geist hilft den Geknickten auf und lässt die Verstummten die Stimme neu erheben gegen Hass und Gewalt, Ungerechtigkeit und Verachtung.
Der auferstandene Jesus steht an der Seite aller, die leiden, die dem Meer ausgeliefert sind – bis heute; die in Seenot geraten, aus welchen Gründen auch immer. Von Not und Seenot werden Sie hier auf Nordstrand zu erzählen wissen. Es ist gut, dass es die Küstenwache des Bundes gibt, die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, die Seenotrettungskreuzer.
Der auferstandene Christus ist aber auch an der Seite der Flüchtlinge, die zu Millionen ihre Heimatländer verlassen, die fliehen vor Angst und Schrecken, vor Hass und Gewalt, vor Völkermord und Bürgerkrieg. Er ist an der Seite derer, die ihre Heimatländer verlassen müssen, weil dort die einzige Perspektive der Tod zu sein scheint, die keine Alternative haben als sich kriminellen Schleppern anzuvertrauen, die sie mit seeuntüchtigen Kähnen auf das Mittelmeer fahren und sie dort sich selbst und den Gewalten des Meeres überlassen. Und er ist an der Seite der Menschen bei uns, die ihre Herzen und Häuser öffnen für die Flüchtlinge, die es lebendig bis an die EU Außengrenze schaffen. Und er ist bei denen, die denen hilfreich zur Seite stehen, die es schließlich bis nach Schleswig-Holstein schaffen.
V
Gott geht an der Seite der Schiffbrüchigen und Gestrandeten durch uns. Wer unsere Kirchtürmer erblickt, soll wissen können: das ist eine Orientierungsmarke, die mich in sicheren Hafen weist, die mich nicht in die Irre leitet.
Man muss und soll uns den Geist ansehen und abspüren, der uns leitet, der unser Tun und auch unser Lassen bestimmt. Feuer und Flamme sollen wir sein. Und wenn man uns für verrückt hält oder für betrunken; oder wenn auch mancher meint, wer Visionen hat, müsse zum Arzt: Gott braucht begeisterte Leute, die auch einmal scheinbar unvernünftige, Sachen denken und machen, die verrückt sind vor Glaube und Gottes- wie Menschenliebe. Gott will uns als Leute, denen man abspürt an ihrer Art zu leben, dass sie besetzt, besessen sind von der Liebe, die wir bei Jesus sehen. Dass wir uns treiben lassen und gehen lassen, uns überkommen lassen von seinem Geist.
Es geht hier nicht um irgendeinen hype, sondern um den Traum vom guten Leben, wie Jesus ihn nicht nur geträumt, sondern auch gelebt hat. Das ist ein Traum, der den Schlaf überdauert. Der Traum von der Liebe, der Gerechtigkeit und dem Frieden für alle Menschen. Der Traum, dass das Leben gelingen kann – und zwar für alle – für alle hier auf Nordstrand und für alle weltweit
Ich glaube an den Geist von Pfingsten: Den Geist der lehret, wie man recht beten soll; den Geist der Freuden, der erleuchtet im Leiden mit seines Trostes Licht; den Geist der Liebe, der sich nicht zufrieden gibt mit Zorn, Zank, Hass, Neid und Streit.
Ich haben den Traum, dass eines Tages diese Welt den Frieden Gottes lebt; ich habe den Traum, dass alle Menschen einander achten; ich habe den Traum, dass eines Tages das Meer niemanden mehr verschlingt; ich habe den Traum, dass eines Tages die geschundene Schöpfung sich erhebt und wird, wie Gott sie als gut befunden hat. Und solcher Traum wächst und will heraus. Will stark machen, für ihn einzutreten.
Dazu hat Gott diesen Ort und diese Gemeinschaft gesegnet – in Höhen und durch Tiefen hindurch. Seit 900 Jahren. Und er hört nicht auf. Er nicht!
Amen.