Einführungsgottesdienst
26. November 2011
Lukas 4, 16-21
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig! Amen
Liebe Gemeinde!Es gibt Worte, die kann man sich nicht selbst sagen. „Sei behütet!“ zum Beispiel. Oder: „Pass auf dich auf!“ Oder: „Bind´ dir doch um Himmels Willen endlich den Schal um!“ Wünsche, Segensformeln, fürsorgliche Mahnungen (die ja zugegeben manchmal auch etwas anstrengend sind) – all dies sind Worte, die uns nur ein anderer mitgeben kann. Sie sind Zeichen der Achtsamkeit und Nähe, die andere uns schenken, weil sie uns mögen und schätzen oder lieben. Und sie fehlen, wenn sie nicht gesagt werden. Wenn beim Hinausgehen – und sei dies noch so alltäglich – kein Wort oder keine Geste der Zuneigung fällt, fehlt etwas Elementares: Es fehlt dieser kleine Moment von Vergewisserung, der einen leicht und innerlich aufgeräumt über die Schwelle gehen lässt.
Segenswort ist Lebenswort. Allzumal wenn wir eine Tür öffnen, um hinauszugehen. Wenn´s wechselvoll wird und aufregend, ungewiss. Wenn´s in ein neues Kirchenjahr geht – wie heute. Wenn drei Kirchen sich zusammen tun, um einen gemeinsamen vierten Weg zu gehen. Wenn eine – wer weiß, wie viele hier unter uns noch? – von einem Lebensraum in den nächsten wandert. Der Moment auf der Schwelle ist unbestechlich gegenwärtig. Fast schon im Zukünftigen und aus dem Vergangenen noch nicht heraus. Ein sensibler Moment, der an die Herzhaut geht. Da ist jedes Segenswort gelebte Gegenwart Gottes. Und ich schaue mich um und denke: Was bin ich für ein reich gesegneter Mensch, nicht nur heute. Ich sage dies mit großer Dankbarkeit für die Gnade, so viel Schönes erleben zu dürfen und im Schweren bewahrt worden zu sein. Und: dass Sie sich aufgemacht haben aus Lübeck, Hamburg, Lauenburg, von Dänemark bis Tansania, von Petersburg bis England, aus Estland, Litauen, Lettland, Groningen und Stralsund, von der Ost- bis hin zur Westküste, liebe Dithmarscher..., – was für ein Zeichen der Verbundenheit über alle Grenzen hinweg! Auch hier: Segenswort ist Lebenswort.
Es gibt viele Worte – die sagen einem `was´. Weil sie einleuchtend sind. Oder weil sie dich „erwischen“. Weil sie dich liebkosen und träumen lassen oder weil sie dir quer kommen. Worte, die, um sie zu hören, gesagt werden müssen. Immer wieder gesagt werden muss, was wir vorhin im Evangelium gehört haben. Bei seiner ersten öffentlichen Predigt in seiner Heimatstadt Nazareth zitiert Jesus sie vom Propheten Jesaja: „Der Geist des Herrn ist auf mir, zu verkündigen das Evangelium den Gefangenen, dass sie frei sein sollen und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“
Frei sein, wieder klar sehen können, Gnadenjahr – das alles sind Hoffnungsworte. Gesprochen vor einem Volk Israel, das am Boden zerstört ist, gefangen in der Verzweiflung ihres Exils. Schon lange hatte Jesaja ihnen prophezeit, dass es nicht gut ausgehen wird mit ihnen. Dass zu wenige auf Kosten zu vieler profitieren. Er war Spielverderber beim Machtpoker und warnte davor, sich den Schuldenberg in die Tasche zu lügen. Kommt einem doch bekannt vor…Allein: was gilt der Prophet im eigenen Lande?
Das Desaster war vorhersehbar. Aber das sagt er jetzt nicht. Jetzt, wo der Kummer alle taub macht und blind. Stattdessen: Es wird einer kommen. Sein Name ist Messias, Wohltat, Gerechtigkeit. Er wird das Gnadenjahr ausrufen und es wird sich tatsächlich erfüllen. Nach 7×7 Jahren, im 50. Jahr werden sämtliche Schulden erlassen, Sklaven befreit, Besitz wieder gerecht verteilt.
Ein Gnadenjahr! Was für eine Vision, nicht nur für die Bedrückten und Zerschlagenen. Oder für die Fünfzigjährigen. Nein, es ist eine Vision für alle. Verrückt. Kompromisslos. Und Jesus überbietet das Ganze noch: Heute, jetzt, erfüllt sich die Verheißung. Sie ist atemberaubend modern. Wenn man so will, eine Occupy-Bewegung biblischer Zeit. Denn dieses Gnadenjahr verändert das System – zu 100%. Von Grund auf. Da ist Gnade das Wort des Jahres, nicht Profit. Da zahlt der zurück, der gnadenlos zugelangt hat. Da wird entschuldet und verziehen. Der Mensch damals, wir heute sollen befreit werden von der Last der Teufelskreise in die wir verstrickt sind. Denn das wissen wir doch alle seit langem. Die Welt ist aus dem Lot – und wir als Teil dieser Welt sind es mit. Höchste Zeit, sagt Jesus uns mit dem Gnadenjahr, das wir gnädiger miteinander umgehen und mit der Welt. Das Desaster ist sonst unaufhaltbar. Seelisch – wenn wir in dieser Schnelllebigkeit nicht endlich die Pause zu ihrem Recht kommen lassen. Ökologisch – wenn wir nicht endlich auf internationalen Klimakonferenzen wirksame Beschlüsse fassen und sie auch umsetzen. Jede und jeder. Religiös – wenn wir nicht endlich couragiert fundamentalistischen Hetzreden Einhalt gebieten. Längst haben sie Einzug in etliche Wohnzimmer gehalten; das sollte uns alle, liebe Gemeinde, unruhig machen. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, als Religionen und Konfessionen gegen Intoleranz eine Oekumene der Dialogkultur zu leben. Mit Muslimen, Juden, Buddhisten und untereinander als Christen aller Couleur. Und das mit einem klaren Ziel: Damit Gott selbst nicht in Vergessenheit gerät. Ich bin überzeugt: Die Gesellschaft braucht heutzutage Menschen, Propheten müssen´s gar nicht sein, die uns eine Vorstellung geben von Gottes Möglichkeiten in dieser Welt. Ohne sie, ohne uns bleibt ein Hoffnungswort unrealistisch. Geschwätz. Ein Hoffnungswort braucht Menschen, die es hoffen – und tun. Die laut von ihrem Glauben erzählen. Von dem tragenden Grund in ihrem Leben, der auch den Zweifel trägt. Vom Eros, für etwas Gutes zu kämpfen. Vom Erbarmen. Davon, dass uns im Sterben einer unendlich sanft in Händen hält. Und dass sie auch in dunkler Zeit da ist, die Gnadensonne.
Das Hoffnungswort Jesu braucht Verbündete. Viele möchten es deshalb bitte immer wieder neu aussprechen, singen, heraus posaunen, heute und hier so wie damals in Nazareth und Jerusalem. Damit es die Menschen am Leben hält. Damit sie lieben, wen sie wollen. Damit sie hoffen gegen alle Vernunft. Soviel Blut auch schreit, heute, im Iran, in Bethlehem, in Syrien und immer wieder in Kairo – mein Gott! Die Vision göttlicher universeller Gnade muss erzählt werden, gerade um den Frieden nicht aufzugeben und der Gerechtigkeit aufzuhelfen aus ihrer Gebrochenheit. Um wach zu bleiben für all das, was Menschen gnadenlos werden lässt. So wie es ein Soldat aus Afghanistan auf den Punkt bringt: „Wie nahe uns das Gute und das Böse geht, das uns begegnet, hängt nicht von dessen Ausmaß ab, sondern von unserer Empfindsamkeit.“
Deshalb brauchen wir das lebendige Wort von der Hoffnung! Sie allein hält unsere Empfindsamkeit wach. Für die Zerschlagenen unserer Zeit. Für die Verstörten und Verstummten, die als Kinder Opfer wurden von sexualisierter Gewalt. Für die, die gefangen sind in ihrem Trauma. Aber auch für die, die in ihrer Verblendung die Wunden der Geschichte mit Kampfstiefeln treten. Gegen Gewalt, Rassismus und wieder aufkommende Fremdenfeindlichkeit in unserem Land – es ist eine Aufgabe von uns Christen in dieser Welt, zu erinnern, was Gottes Wille ist. Indem wir derer gedenken, die wie die Lübecker Märtyrer Widerstand geübt haben. Und indem wir der jüngsten Opfer gedenken. Deutlich über hundert Menschen sind in Deutschland seit 1990 von Neonazis getötet worden. Wie viele Morde werden noch aufgedeckt werden, jetzt nach den Zwickauer Ereignissen? Politik und Kirchen eint das Entsetzen – und die aktive Demonstration gegen rechts. Und ich frage mich und uns: Was würde Jugendlichen erleichtern auszusteigen aus dem Teufelskreis rechter Gewalt? Was führt Menschen heraus aus der Gefangenschaft ihrer Meinungen und Abwertungen?
So soll verkündigt werden, dass die Gefangenen frei sein sollen, den Verblendeten, dass sie sehen sollen und den Zerschlagenen, dass sie erlöst sein sollen. Vielleicht gibt es nicht viele, die man erreicht mit gnädigem Wort und guter Hoffnung. Mag sein, wir sind verrückt, das zu glauben. Ja, nun, sagt er, der da kommen wird. Was hindert´s uns, gegen zu halten? Heute. Auch Widerwort ist Hoffnungswort. Und es erzählt von dieser ganz anderen Wirklichkeit, die unsere Realität durchdringt. Eine Wirklichkeit, gefüllt von Stille und der Zartheit einer Berührung. Gefüllt von der Tiefe eines Gedankens und der Gelassenheit, dass auch die Klügsten ihre Grenzen haben. Gefüllt von der Freude zu leben, weil es immens viele Gründe dafür gibt.
Sie hat für mich eine enorme Kraft, diese Wirklichkeit. Und ich bin sicher, nicht allein für mich. So wünschte ich mir, wir würden darüber reden, liebe Gemeinde. Wenn nicht heute, dann gern morgen. Darüber, was uns denn wirklich, ganz wahrhaftig hoffen lässt. Was ist Ihr Segenswort? Ihr Lebenssinn? Wer ist Ihre Sonne? Was lässt Sie morgens aufstehen und am Lebensabend zufrieden nach Haus kommen?
Ich wünschte, wir sind so gemeinsam Bischöfin. Mit einer gemeinsamen Hoffnung. Lebhafter Debatte. Zugewandt denen, die uns brauchen, weil sie Fragen haben. So wie jener weit gereiste Wirtschaftsexperte mit Migrationshintergrund. Er ist Äthiopier, neugierig und klug und will deshalb mehr verstehen von Religion. Seine Geschichte steht auch in der Bibel. Es wird erzählt, wie er fragt und fragt und fragt. Und dass da einer ist, der zuhört und antwortet. Je länger sie sich mit den alten Propheten auseinandersetzen und Jesu Wort dazu, desto gelassener wird der Äthiopier. Er erkennt, dass es ein Segen ist, nicht alles wissen zu müssen, sondern endlich etwas glauben zu können. Was hindert mich, sagt er, und lässt sich taufen. Und dann beschließt mit der schönste Satz im Buch der Hoffnungsworte die ganze Geschichte: Er aber zog seine Straße fröhlich.
Das ist das Ziel, liebe Gemeinde. Zu gehen. Fröhlich. Mit Segenswort im Rücken. Über die Schwellen, die man gehen will oder gehen muss. Fröhlich, weil so viel vor einem liegt.
Freust du dich, freuen Sie sich schon? Wurde ich in den letzten Wochen oft gefragt. Na ja, sagte ich zunächst, wenn ich ehrlich bin… Ein bisschen Her und Hin…
Und ich schau dem Äthiopier hinterher, wie er fröhlich seine Straße zieht…
Ja. Ich freue mich.
Denn der Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.