Erinnern für die Zukunft, Alsterdorfer Gedenken - Gedenkfeier für die Opfer der NS-„Euthanasie“
07. Mai 2025
Jesaia 43,1f
Liebe Gemeinde,
hier stehe ich in dieser wunderbar hellen und warmen Kirche. Ich mag sie so sehr! Einst war sie dunkel und abweisend, jetzt ist sie ein offener Raum. Ein Raum für alle!
Und so sehe ich heute in viele offene Gesichter und freue mich, Ihnen und euch heute zu begegnen.
Und doch ist es eine traurige Feier. Hinter mir stehen schwarze Fahnen. Mit Namen. Es sind Namen von Menschen, die ermordet wurden. Sie haben in den Alsterdorfer Anstalten gelebt. Über 500 von ihnen haben die nationalsozialistische Diktatur nicht überlebt. Furchtbar ist das.
Vor 80 Jahren ist der Krieg zu Ende gegangen. Und der Terror. Deshalb sind wir heute hier. Das ist gut. Es ist gut für die Menschen, an die wir heute denken. Für ihre Familien. Und für uns.
Denn was tun wir heute? Wir erinnern uns. Wir erinnern uns an Menschen, von Gott geschaffen und geliebt. Ausgestattet mit Würde. Mit einem Namen. Wir würdigen sie: Friedrich Walk, Waltraud Hoh, Helene Jakobsen. Wir haben gerade sehr berührend von ihrem Leben und Sterben erfahren.
Gott hat jeden einzelnen bei ihrem und seinem Namen gerufen. Friedrich, Waltraud, Helene und auch Harry, Dorothea, Ilse, Karl, Alwine, Heidi, Erna, Kurt, Arwed, Gerhard …
Gott hat gesagt: Du bist mein. Du gehörst zu mir. Was immer auch geschieht. Nichts wird dich trennen von meiner Liebe.
Daran erinnern wir uns: Gott macht keinen Unterschied. Jedes Menschenkind ist ein geliebtes Kind Gottes. Jeder Mensch ein Lieblingsmensch. Egal wieviel Geld einer hat, egal welche Hautfarbe eine hat, egal, was einer kann, egal, woher eine kommt, egal was einer glaubt, egal, ob eine mit Einschränkungen lebt. So eine große Liebe hat Gott zu uns.
Doch – und daran erinnern wir uns heute auch – Menschen haben die Liebe Gottes vergessen. Sie haben Friedrich, Waltraud, Helene und so vielen anderen Menschen furchtbares Unrecht getan. Schwestern und Pfleger, Ärzte und Pastoren, Erzieherinnen und Lehrer sollten die Bewohnerinnen und Patientinnen der Alsterdorfer Anstalten schützen. Sie sollten für sie sorgen. Sie sollten sie unterstützen und pflegen.
Es ist schlimm, wenn man Menschen allein lässt, die einem anvertraut sind. Es ist schlimm, wenn man Menschen nicht hilft, die hilflos sind. Es ist unfassbar schlimm, wenn Kinder, Männer und Frauen wie Tiere verladen und in Lager gebracht werden. Wir wissen, was passiert ist. Die Menschen, die behindert oder krank waren, wurden getötet. Oder sie bekamen nichts zu essen und verhungerten oder starben an Schwäche.
Wenn ich mir das vorstelle, stockt mir das Herz.
Und ich kann nur inständig beten und bitten, dass die Betroffenen und ihre Angehörigen, die Welt und Gott es seiner Kirche einmal verzeihen können, dass so viele Christen und Christinnen damals versagt haben. Es gab zu wenig Liebe. Zu wenig Glauben. Zu wenig Vertrauen in Jesus Christus. Und es gab so viel Kälte. Das ist eine große Schuld.
Diese Verbrechen sind an vielen Orten in Deutschland passiert. Aber eben auch hier in Alsterdorf. Es gab auch hier viel Angst vor der Gewalt der Nationalsozialisten. Dabei hatte Heinrich Sengelmann, das ist der Mann, der die Alsterdorfer Anstalten gegründet hat, eine ganz andere Idee. Er hat gesagt, dass alle Menschen hier Mitmenschen sind, dass alle eine Seele haben und dass es allen in Alsterdorf gut gehen soll.
Aber das sahen die Nationalsozialisten anders. Die haben sich über Gott erhoben. Sie haben von Gott geliebten Menschen das Recht auf Leben und Würde abgesprochen. Sie haben gesagt: Ihr seid lebensunwürdig.
Wir erinnern uns an dieses Verbrechen, weil die Haltung, in der es geschehen ist, leider nicht Vergangenheit ist. Ja, auch heute gibt es viel zu viele Menschen, die andere beurteilen, einteilen, abwerten, missachten und verachten. Es gibt so viel Hass und Hetze. Auf der Straße. Im Netz. Sogar in unseren Parlamenten. Gegen Menschen, die ein bisschen anders sind als andere. Es gibt so viele, die schlecht über Menschen reden. Obwohl sie gar nichts wissen von der Schönheit ihrer Seelen. Es ist so leicht, Schwache auszugrenzen. Es ist so leicht, durch Schweigen und Wegschauen schuldig zu werden.
Deshalb ist es so wichtig, sich zu erinnern: Was passiert, wenn wir diese Stimmen nicht stoppen. Und deshalb sind Menschen wie Sie, liebe Frau Kosemund, so wichtig, die Sie als Angehörige unermüdlich laut, klar und vernehmlich vor Rechtsextremismus warnen. Denn aus Verachtung wird schnell Gewalt. Aus Worten werden Taten. Bis hin zum Mord. Das lernen wir aus dem Leben von Friedrich, Waltraud, Helene und all den anderen.
Dagegen müssen wir uns erinnern, immer und immer wieder: Gott sagt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du gehörst zu mir. Deine Würde ist mir heilig. Unverletzt sollst du durchs Leben gehen können. Wie das der Prophet Jesaia sagt: „Wenn du durch Wasserfluten gehst, bin ich bei dir. Reißende Ströme spülen dich nicht fort.“
Ja, es braucht heute ganz dringend Menschen, die den Mut haben, daran zu erinnern, immer und immer wieder: Die Würde des Menschen, und zwar jedes Menschen, ist unantastbar. So wie es als Vor-Satz in unserem Grundgesetz steht.
Die Fachschule für Soziale Arbeit Alsterdorf bildet junge Menschen, euch, aus, die für den Wert und die Würde aller Menschen eintreten werden. Die ihnen helfen, die Wasserfluten und reißenden Ströme des Lebens heil und unverletzt zu überstehen. Egal welche Beeinträchtigung sie haben.
Insofern ist heute nicht nur ein trauriger Tag. Es ist auch ein guter Tag. Denn es gab und gibt Menschen, die erkennen, dass es falsch war, was damals passiert ist. Sie haben diese Kirche umgebaut zu einem menschenfreundlichen Ort. Sie haben einen Lern- und Gedenkort hinter der Kirche geschaffen. Sie setzen sich für Menschen mit Behinderungen ein. Sie arbeiten mit ihnen. Und wissen, was das für ein großes Geschenk sein kann. Die Stiftung Alsterdorf und die Kirche wollen, dass es solche Verbrechen nie wieder gibt. Das ist gut. Und deshalb ist es so gut, dass sich heute alle Zeit genommen haben, um zusammenzukommen. Und sich zu erinnern. Denn daraus lernen wir für die Zukunft: Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Leben in Würde!
Die ist unantastbar. Das ist, was ich uns allen wünsche: Dass wir alle den Mut haben, diese Würde zu verteidigen. An unserem je eigenen Ort. Dass wir für diese Würde geradestehen, so wie ihr die ganze Zeit hier mit den Fahnen steht. Standfestigkeit beweist. In Erinnerung an das Leben und Sterben von Friedrich, Waltraud und Helene. Stellvertretend für alle anderen Opfer.
Vergessen wir nie, was Gott uns sagt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich befreit. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir.“ Für immer und ewig. Und über den Tod hinaus.
Und der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Abschluss des Gottesdienstes
Mit dem Lied im Herzen gehen wir jetzt gemeinsam zum Lern- und Gedenkort hinter der Kirche. Wir tragen die Erinnerung und die Namen der Ermordeten in unseren Herzen. Wir ehren sie mit unserem Schweigen. Gott möge uns auf diesem stillen Weg begleiten.
Geistlicher Abschluss beim Gedenken
In dieser Gedenkfeier haben wir uns erinnert. Wir haben uns an die Menschen mit Behinderung oder mit psychischen Erkrankungen erinnert, die ermordet wurden. Wir haben uns an ihr Leben, Leiden und Sterben erinnert. Wir haben uns erinnert, wie es zu diesen Verbrechen an Schutzbefohlenen gekommen ist.
Das ist wichtig, weil der Ungeist, der Menschen mit Behinderung und Kranke entwürdigt, 1945 nicht verschwunden ist. Er macht sich in unseren Tagen wieder breit. Deshalb ist es gut, sich zu erinnern. Im Erinnern wächst die Kraft, dem Bösen zu widerstehen und es mit Gutem zu überwinden.
Jeder Mensch ist ein geliebtes Kind Gottes. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Möge Gott unsere Worte und Werke unbeirrbar leiten und lenken auf dem Weg zu einer Gesellschaft, an der alle Menschen selbstbestimmt teilhaben können. Dafür bitten wir um Gottes Segen.
Segen
Schwestern und Brüder,
geht im Namen des lebendigen, fürsorgenden Gottes,
der uns seinen wachen Geist schenkt, um Ausgrenzung zu erkennen,
der uns Kraft gibt, Barrieren zu beseitigen, die Menschen behindern.
Geht und stellt euch allem entgegen,
was die Würde, die Unversehrtheit und die Schönheit von uns anvertrauten
Kindern, Frauen, Männern und allen Menschen gefährdet.
Geht und freut euch daran,
dass wir einander stärken und ermutigen können,
dass wir einander haben.
Geht und feiert das Leben aus Gottes Geist. Mutig. Stark. Beherzt.
So segne euch Gott, allmächtig und barmherzig, Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Amen