Es ist ein Moment tiefer Wahrheit
25. Dezember 2016
1. Weihnachtstag, Gottesdienst zum Christfest, Predigt zu Micha 5, 1-4a
Liebe Festgemeinde!
Bethlehem. Das war unser Ziel. Diese aktuell gar nicht mehr so kleine Stadt am Rande des Gebirges. Zuvor waren wir wie die Hirten durch Geröll und ungastliches Gebiet in dieses Bethlehem gewandert. Immer zu zweit auf schmalem Weg. Einander die Hand reichend und das Wasser auch. „Lasset uns nun gehen gen Bethlehem“, sang das Weihnachtsoratorium in mir. Wir – das waren übrigens neun katholische Bischöfe und neun Evangelische vom Rat der EKD, ich durfte dabei sein. Sechs Tage waren wir auf einer Pilgerreise im Heiligen Land, die erste ökumenische Aktion im Jahr des Reformationsjubiläums. Mitte Oktober war´s, bei über 30 Grad im Schatten. An der Geburtskirche verschwitzt angekommen, trauen wir unseren Augen nicht. Rufende Touristen, laute Fremdenführer, Schranken und Baustellen, wie ein Wimmelbild. Genau dort, wo die Krippe stand mit dem Kind darin. Wo die Hirten in stiller Ehrfurcht standen, um das kleine Kind zu kieken. Ein Kind mit der Größe grenzenloser Freundlichkeit. Eia – dein eigen will ich sein!
Inmitten all der Turbulenz wird es plötzlich in uns ganz still. Und wir fangen an zu singen. Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein. - O Kindelein, von Herzen will ich dich lieben sehr, in Freuden und in Schmerzen, je länger mehr und mehr.
Wir sind einander so nah! Weil gemeinsam angekommen bei dem Kind, das einst die Welt aus den Angeln hob. Ganz klein sind auf einmal auch die Unterschiede zwischen „evangelisch“ und „katholisch“. Es ist ein Moment tiefer Wahrheit, der uns die ganze Pilgerreise über nicht loslässt. Ja, der uns trägt in seiner versöhnenden Kraft. Inmitten dieses zerstrittenen Heiligen Landes, im Angesicht auch dieser hoffnungsverstörenden 8 Meter hohen Mauer mitten durch Bethlehem, die den Unfrieden zwischen Israelis und Palästinensern zu zementieren scheint – inmitten religiöser Eiferei und kaltem Machtkalkül macht uns dieser Moment klar, wie heilsam von ihrem Ursprung her Religion und unser Glaube sein kann. Weil er eben das Unerwartete hofft und die Verschiedenheit würdigt! Weil er unbedingt und immer das Erbarmen will, Frieden zum Größten erklärt und die Wahrhaftigkeit über alles stellt.
Nicht nur ich bin verändert zurückgekommen. Gestärkt von dem Erlebnis am Ort unseres Ursprungs. Wir Christen – welcher Couleur und Konfession auch immer – haben eine gemeinsame Wurzel, eine Wurzel zart. Gemeinsam glauben wir an das, wofür Gott als Kind geboren und Christus gestorben ist. Uns hat das auf eine ganz eigentümliche Weise furchtlos gemacht. Die Zukunft, die für viele so ungewiss ist und nach all den jüngsten Ereignissen für manche auch furchterregend, bekam von diesem Ursprung aus eine heilsame Relativierung. Aus diesem kleinen Bethlehem, daher komme ich, da kommen wir her, habe ich gedacht, auch wir hier in diesem Land. Gleich, ob wir heute religiös leben oder nicht. Wir haben eine innere Heimat. Einen Kompass. Eine Haltung. Wovor sollten wir uns fürchten?
Furcht vor der Zukunft – sie war für die Menschen zur Zeit des Propheten Micha bittere Realität. Dort in Bethlehem vor 3000 Jahren, vor den Stadtmauern Jerusalems gab es keine Sicherheit und keinen Frieden. Die Mächtigen beuten die Armen aus, kritisiert Micha. „Sie begehren Äcker und nehmen sie weg, Häuser reißen sie an sich.“ Sie suchen Gewalt, nicht den Frieden. „Ihr raubt Rock und Mantel denen, die sicher dahergehen, die sich abwenden vom Krieg.“ In dieser bedrohlichen Situation erinnert Micha an das, was das Volk über die Zeiten getragen hat. Keine Versprechungen, die nichts lösen. Keine Parolen, die eher noch die Angst steigern. Populisten gab es in jener wie in dieser Zeit... Nein, Micha erinnert an die alten Verheißungen, die neu hoffen lassen, weil sie gerade über das hinausweisen, was ist.
…Und sie werden sicher wohnen, denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein.
Sie werden sicher wohnen… Diese Verheißung klingt mir in diesen Tagen besonders nach. Denn sicher fühlen viele sich derzeit nicht, auch nicht in unserem Land. Meine Gedanken und Gebete gehen zu den Familien der Opfer in Berlin. Voller Mitgefühl und Trauer. Sie gehen zu allen, die tiefen Schmerz erfahren haben, gehen zu den verletzten Frauen und Männern, die im Krankenhaus mit dem Tod ringen. So furchtbar und so sinnlos diese Gewalt.
Wäre sie zu verhindern gewesen? Und so gehen meine Gedanken und Gebete auch zu denen, die sich der Kritik ausgesetzt sehen. Und jene, die sich in der Politik redlich mühen, dass wir sicherer wohnen können. Gott gebe, dass wir in diesem Land dabei die Besonnenheit nicht verlieren!
Aber es kommt mir auch in den Sinn, an wie vielen Orten überhaupt keine Sicherheit ist. In Syrien, wo einst Quirinius Statthalter war. Chlorgasbomben, die auf die Kinder in Aleppo geworfen werden, mein Gott. Wie lange bloß noch? Oder in Afghanistan – wie kann es sein, liebe Gemeinde, dass Menschen, die an Leib und Leben gefährdet sind, nach dorthin abgeschoben werden? Afghanistan ist doch alles andere als ein „sicheres Herkunftsland“! Und so fühle ich jedes Jahr wieder, wenn ich als Christin laut bekennend daran glaube, dass Michas Friedensverheißung in Christus wahr geworden ist, ja dass mit diesem kleinen Kind auch das Böse in uns umarmt wird, um es zu überwinden, jedes Jahr wieder fühle ich den Schmerz über die Unerlöstheit dieser Welt.
Ihr werdet sicher wohnen – das kleine Kind, das so verloren scheint, wie es dort so liegt in kalter Armut – dieses Kind weiß, dass es auf etwas ganz anderes ankommt als auf äußere Mauern und wehrhafte Panzer. Sicherheit hat ja vor allem etwas damit zu tun, sich innerlich beheimaten können, Halt zu haben und zu geben durch Menschenrecht und Liebeswort.
Ein Zuhause, das wissen wir alle, entsteht im Zusammenhalten, im Miteinander. Menschen können es sich gegenseitig gewähren. Nicht nur Eltern und Kinder, sondern Menschen in allen nur denkbaren und unverhofften Konstellationen können zueinander gehören und sich halten. Und das kann sehr stark und echt sein!
Besonders seit dem Anschlag in Berlin, aber auch schon vorher habe ich wahrgenommen, dass die Menschen in unserem Land neuen Zusammenhalt suchen. Sehr war das zu spüren bei den Gedenkgottesdiensten der vergangenen Tage. Da war neben allem Mitgefühl mit den Trauernden auch eine fast eigentümliche Stille. Ein gemeinsames Innehalten, ja Wachwerden für das, was wirklich im Leben zählt.
Es darf nicht Angst und Verunsicherung das Leben dominieren, haben viele gesagt. Genau so ist es, antwortet Micha. Leben und lieben wir das Leben, gemeinsam, liebe Gemeinde! Feiert Weihnachten, teilt eure Zeit miteinander. Gemeinsam zu beten und zu singen verbindet. Gebt den Kindern festen Halt in unseren guten Traditionen. Davon werden sie ein Leben lang profitieren. Sie werden mutig sein und stark und aufstehen gegen Unrecht und Hass. Weil sie wissen, warum!
Sich nicht irre machen lassen vom Irrsinn der Welt – das ist die Botschaft des kleinen Kindes in Bethlehem. Geboren in Armut, die Todesschwadronen des Herodes schon im Anmarsch – all dieses Elend tritt in dieser heiligen Nacht zurück hinter die Verheißung, die wie ein heller Schein über 2000 Jahre hin die Herzen erreicht hat: „Fürchtet euch nicht!“, steht da mit großen Lettern. „Euch ist heute der Heiland geboren!“ Gott ist für uns, Immanuel. Wovor sollten wir uns fürchten? Gott hat mitten unter uns sein Haus gebaut. In Bethlehem, Haus des Brotes – hier ist unser Segensdach und Sternenzelt. Hier haben wir gelernt, dass wir teilen, was wert ist: Achtung und Liebe, die Würde der Kleinen und das täglich Brot.
Wie sich das wahrhaftig ereignen kann im Leben, so dass Menschen aufgerichtet sind und auf einmal voller Kraft, etwas zum Guten zu verändern – das habe ich vor einigen Tagen erlebt, als ich Obdachlose traf, die im November beim Papst waren. 30 Hamburger Straßenverkäufer von Hinz und Kunzt samt Begleiter*innen haben sich nach Rom aufgemacht. Große Skepsis zunächst. Insgesamt 4000 Obdachlose in Rom – was tun mit denen, die krank sind? Oder schwere Alkoholiker? Wie für Kleidung sorgen, und Wäsche? Welche auch? Aber – das war das erste Wunder – alle kamen mit. „Ich muss dahin“, sagte Robert, 43 ist er und Pole. „Und wenn es meine letzte Reise ist.“ Es wird für alle eine Pilgerreise der besonderen Art.
Reiner sagt, es war sein schönstes Weihnachtsgeschenk. Er erzählt, dass er einer der wenigen war, die dem Papst die Hand reichen konnten. Die hätte er am liebsten nicht mehr waschen wollen – „nee, kleener Scherz. Aber der Papst hat tatsächlich meine Hände genommen und gesagt: Bete, bete, für mich. Und ich sage: Mach ich!‘“ Reiner ist so berührt, dass mir die Tränen kommen.
18 Jahre, sagt Joachim, habe er auf der Straße gelebt. „Und nun hat Jesus mich gefunden. Seit Dezember habe ich eine Wohnung. Und seit gestern Arbeit! Habe ich euch noch gar nicht gesagt“, grinst er in die Runde. „Ich bin nicht ganz an Franziskus rangekommen, aber alle waren wir glücklich. Und habt ihr gesehen: Keiner ging mehr gebückt.“ Das war eine Kraft von innen, sagt der Sozialarbeiter. Wie sehr einen diese spirituelle Erfahrung wieder an das heranbringt, was man mal sein wollte… sinniert er. Ganz zu schweigen von seinem und der Chefin Sorgenkind. Der krank mitfuhr. Am Tag zwei Flaschen Wodka brauchte. Seit dieser Pilgerreise trinkt er keinen Schluck mehr. Wirklich und wahrhaftig.
Alle sind sie verändert zurückgekommen. Haben sich auch in Hamburg weiter wie eine Familie gefühlt – so dass die anderen bei Hinz und Kunzt fanden, die könnten langsam mal aufhören mit dem dauernden Umarmen. Aber es hat nicht aufgehört. Die Zusammengehörigkeit ist geblieben. Eine, die über das Elend hinausträgt und hinaushofft. Dass sie diese Kraft gefunden haben, z. B. wieder Kontakt aufzunehmen zu ihren Kindern und Ehefrauen, dass sie sich nicht mehr so schämen sondern aufrecht durchs Leben gehen, und dass sie einander so etwas geben können wie Heimat - ja, dass sie überhaupt etwas geben können und nicht nur immer nehmen müssen: Das ist Weihnachten. Live und in Farbe.
Und so sind auch wir angekommen, liebe Gemeinde. Im Leben. Willkommen geheißen von dem kleinen Kind in Bethlehem, das die Arme ausbreitet, um uns zu begrüßen.
Und wir sind am Ziel.
Ich wünsche Ihnen, liebe Gemeinde, von Herzen eine gesegnete Weihnachtszeit. Mit guter Hoffnung auf das Kind, dass Frieden auf die Welt bringen will, Friede, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in ihm, Gottes Sohn.
Amen