6. Juni 2016 | St. Marien Hamburg

Es ist Raum da – innere Herzensweite

06. Juni 2016 von Kirsten Fehrs

Ökumenische Andacht anlässlich des Treffens der CDU-Fraktionen, Predigt zu Lukas 14, 16-24

Liebe Gemeinde,

auch ich freue mich sehr, dass ich Sie hier in St. Marien in ökumenischer Gemeinschaft willkommen heißen darf. In dieser wunderschönen Hansestadt, die so altehrwürdig daherkommt, zugleich aber höchst lebendig am Puls der Zeit ist.

Und dies Zusammengehen von „lübscher“ Tradition und neuem Denken geschieht in besonderer Weise eben auch in der Ökumene. Vielleicht haben Sie schon einmal von den Lübecker Märtyrern gehört – vier Geistlichen, drei katholisch, einer evangelisch. Sie haben sich 1941/42 gemeinsam gegen den Terror des NS-Regimes ausgesprochen, erst heimlich, dann immer offener, und diesen Mut schließlich mit dem Leben bezahlt. Seither gedenken evangelische und katholische Christen gemeinsam dieser mutigen Männer, und wir merken: Das ehrende Gedenken an Vergangenes setzt versöhnliche Zeichen für die Zukunft. So dass das Miteinander in der Gegenwart durchaus von Entspannung geprägt ist. Hinreißend etwa die ältere Dame, die bei Ihrem Kirchweihjubiläum in Herz Jesu kürzlich, lieber Propst Mecklenfeld, den „Lübecker Nachrichten“ beichtete: Sie würde schon fast 50 Jahre in wilder Ehe leben, er katholisch, sie evangelisch….Und wie wichtig es sei, dass sie sich so selbstverständlich ökumenisch beheimaten kann.

Ja, es ist Raum da, um gleich einmal einen mir so wichtigen Satz aus dem Evangelium eben aufzunehmen. Es ist Raum da – innere Herzensweite. Die eben auch buchstäblich Raum gibt – für all die, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, die erschüttert sind, kraftlos, obdachlos, geflüchtet. Selbstverständliche Ökumene und zudem interreligiöse Zusammenarbeit auch hier, insbesondere in der aktuell so nötigen Flüchtlingshilfe.

Denn es ist doch wirklich Raum da! Und wir haben viel zu geben. Gerade in unserem Land. Und dieser Stadt. Religionsfreiheit, Kultur, Bildung, Gastfreundschaft, Marzipan. Und Toleranz, die uns natürlich auch im Wortsinn große Geduld abverlangt, weil das große Projekt Integration uns bei aller Bereicherung auch herausfordert. Und verändern wird. Und nun, haben wir einen Plan, einen gemeinsamen, wie diese Gesellschaft eine andere wird?

Ganz anders als geplant – so ergeht es auch ihm, dem Gastgeber in unserem Evangelium. Ein reicher Mensch, ganz offensichtlich, vielleicht ein Unternehmer oder ein Fraktionsvorsitzender, der zu einem Jahresempfang geladen hat…?

Und dann dies: Ich habe eine Frau genommen, ich kann nicht kommen. Ja gibt´s denn sowas?! Da bietet man eine sagenhafte Veranstaltung an, ob das nun ein Fest ist oder ein Bürgerdialog, Sie kennen das sicherlich alle. Das Büro verschickt Einladungen, die Pressestelle schreibt eine PM nach der anderen – und dann fragen Sie kurz vor der Veranstaltung mal nach und hören: Tja, ehrlich gesagt haben wir nur acht Anmeldungen, drei davon mit Vorbehalt. Was tun Sie? Den Abend wie geplant durchziehen, weil es ohnehin schon zu spät ist, etwas zu ändern? Oder absagen?

Der Gastgeber in unserem Evangeliumstext geht einen ungewöhnlichen Weg. Er dreht seine Ursprungsidee radikal um. Nicht Freunde und Gleichgesinnte holt er an den Tisch, sondern die Anderen, die Fremden, diejenigen, zu denen er sonst keinen Kontakt hat.

Das ist die zentrale Botschaft des Gleichnisses: Alte Wege zu verlassen und etwas Neues zu beginnen. Strukturen, die nicht mehr funktionieren, durch einen klugen Kniff in lebenstaugliche Praxis zu verwandeln. Insofern ist es ein Aufruf dazu, immer wieder neu zu schauen, was dem Leben dient. Und zwar dem Leben aller.

Wir haben ja großartige Beispiele in der Geschichte, wie das gelungen ist. Etwa, als nach 1945 der falsche Weg der nationalistischen Abgrenzung in Europa verlassen wurde, weil er eine Sackgasse war. Kürzlich auf einer Reise nach Brüssel begegnete ich Frans Timmermans, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Europäischen Kommission. Beeindruckend, wie er als gläubiger Katholik immer wieder die Grenzenlosigkeit der Gnade als sein inwendiges Credo für diesen europäischen Traum beschreiben konnte. Und er erzählte von seiner kleinen Tochter, wie er jüngst mit ihr per Fahrrad über die holländische Grenze fuhr und ihr die Historie erklärte. Dass hier einmal die Grenze war, die man Siegfriedlinie genannt hatte usf. Prompte Frage seiner Tochter: „Papa, was ist eine Grenze?“ - Diese Frage, so Timmermans, sei die schönste Antwort seines Lebens gewesen. „Dass Kinder nicht mehr wissen, was eine Grenze ist – dafür lebe ich diesen Traum“, sagte er. „Und das muss so bleiben!“

Sehr beeindruckt hat mich, wie klar er gesagt und gezeigt hat, dass er dabei von seinem Glauben getragen ist. Mit wahrlich langem Atem für die Hoffnung der Mutigen, über Grenzen hinweg. Und wir wurde noch einmal besonders deutlich: Wir dürfen als christliche Kirche nicht so zurückhaltend sein. Sondern sind aufgerufen unser Eigentliches einzusetzen. Wir brauchen einen Glauben, der in unseren Herzen wohnt. Und wir brauchen in all den verschiedenen Gesellschaften eine Gemeinschaft.

Im Gleichnis steht für diese Gemeinschaft der Tisch. Ein Ort der Zusammenkunft. Unser Glaube lebt wie kaum ein anderer von der Gemeinschaft der Verschiedenen. In dieser Gemeinschaft, die man sich erst einmal gar nicht ausgesucht hat!, ereignet sich die Liebe Christi. Denn wer am Tisch sitzt, der teilt das Lebensnotwendige: Essen, Trinken, Gespräche. Es gibt das Wort vom gemeinsamen Haus Europa. Aber was geschieht in diesem Haus? Haben wir noch diese Tische, an denen wir gemeinsam sitzen, essen, trinken, lachen, diskutieren? Briten, Ungarn, Tschechen, Deutsche – und die Polen auch?

Tief berührt habe ich in Brüssel vor dem Kerzen- und Blumenmeer gestanden, mit dem die Menschen der Opfer der Attentate im März gedacht haben. Das war wie ein einziges Gebet. So viele Fotos der Ermordeten und Liebeserklärungen, aber auch Bekenntnisse zur Freundschaft der Kulturen. Und zur Freundschaft der Religionen! Immer wieder waren Herzen zu sehen - „Europa getroffen ins Herz“, stand da auf einem. „Aber glaubt nicht, dass unsere Herzen kalt werden!“ Daneben ein Bild von einem weinenden Kind an diesem furchtbaren Grenzzaun von Idomeni; mit den kleinen Fäusten panisch dabei, sich das Tränengas aus den Augen zu wischen...

Europa steht an einem Scheideweg. Dabei geht es eben nicht allein darum, ob es einen unsinnigen Brexit gibt oder nicht. Es geht darum, die Grundwerte einer demokratischen Gemeinschaft zu verteidigen, ja den europäischen Traum von der Freiheit der Grenzen und der Vielsprachigkeit wach zu halten. Entgegen all der nationalen und rechtspopulistischen Irrungen, die doch tatsächlich meinen und sagen!, dass man sich von Kinderaugen nicht erpressen lassen soll.

Europa braucht neue Gemeinschaft und neuen Zusammenhalt – um all dies zu halten, was uns Christenmenschen wert ist und gefestigt in langer Tradition: Humanität. Herz. Freiheit. Frieden. Nächstenliebe. Nicht allein der gemeinsame Markt, diese gemeinsamen Werte sind es doch, die es durchzutragen gilt!

Und dazu braucht es vielleicht genau diesen Mut, den auch der Gastgeber hatte: nämlich das ihm Fremde, die anderen und bislang nicht Vertrauten in den Blick zu nehmen. Gebe Gott uns, und Ihnen in Ihrer hohen Verantwortung besonders, diesen Mut, dem Gewissen zu folgen wie er. Den Traum weiter in die Welt zu tragen, das wir in Verschiedenheit versöhnt an einem Tisch zusammen kommen.

Und er erhalte uns die Demut zu erkennen, dass wir die wirklich wesentlichen Werte, all die Dinge, die uns Kraft geben und Sinn, nur empfangen können: Die Liebe, das Kind, Glück, Freundschaft, das gemeinsame Spiel, diese Gemeinschaft hier, Würde im Leben und Würde im Sterben. All das können wir nicht mit eigener Kraft schaffen oder erzwingen. Doch wir können darum bitten. Für die, die wir lieben. Und für die, die jetzt vor den Grenzen Europas um ihr Leben fürchten und in fürchterlicher Kriegsangst leben.

Und er, der große Gastgeber, er hört uns, ich bin sicher. Er lädt alle an einen Tisch. Denn er hat Sehnsucht,  er ist hungrig nach der Nähe der Menschen, um ihnen nahe zu sein. Deshalb geht er an die Hecken und Zäune der Welt, um sie zu überwinden. Und sagt: Kommt, es ist alles bereit!

Wir sollten seine Einladung annehmen. Jeden Tag neu.
Amen.

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