30. November 2025 | Hauptkirche St. Michaelis, Hamburg

Evangelische Messe am 1. Advent

30. November 2025 von Kirsten Fehrs

Römer 13, 8-12

Liebe Advents-Gemeinde,

kennen Sie die Gorch Fock, diesen stolzen Dreimaster, der als Segelschulschiff der Marine dient? Vielleicht haben Sie dieses elegante Schiff mal in einem Hafen ankern gesehen, vielleicht auch bei einem Hafengeburtstag unter Segeln erlebt. Ich habe vor kurzem die Gorch Fock besichtigen dürfen. Als Vorsitzende des Beirates Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr war ich bei einer Tagung in Kiel. Da ging es um viele nur mäßig heitere Themen. Um Verteidigungsfähigkeit, Einsatzpläne und zivilen Katastrophenschutz, eben um „Kriegstüchtigkeit“. Und das mir, die ich letztlich von Kind an friedensbewegt auf die Friedenstüchtigkeit des Menschen vertraue! Weil doch wohl niemand Krieg will, gerade in diesem Land nicht! Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass es unsere Christenpflicht ist, konsequent vom Frieden her zu denken und vom Frieden zu reden. Wer, wenn nicht wir sollten in der aufgerüsteten Sprache unserer Tage wenigstens bei den Worten abrüsten – mit Besonnenheit. Anderen Akzenten. Friedenstüchtig eben.

Zugleich: Wer neben der Bibel die Zeitung liest, kann die angespannte Lage nicht übersehen. Ja, es haben viele Angst. Sie fürchten sich vor einem Angriff Russlands irgendwann auch auf das Gebiet der NATO. Und es verunsichert viele, wie der hybride Krieg mit Drohnen über Flughäfen und gezielten Fake News, Sabotage und Spionage längst in vollem Gange zu sein scheint. Die Lage, allzumal im Ostseeraum, schlägt auf die Stimmung. Und auch dass unsere Demokratie Angriffen ausgesetzt ist, gehört in dieses Szenario. Die Folge: So viele sind innerlich zerrissen zwischen unbeirrtem Friedensgebet und Nachrichtenlage. Ich auch.

Am Ende nun dieser Tagung in Kiel war jener Besuch auf der Gorch Fock angesetzt. Die Führung hatte ein junger Offizier übernommen. Der stand anfangs einer zurückhaltenden, steifen, etwas ermüdeten Gruppe gegenüber. So richtig Lust auf diese Besichtigung hatte eigentlich niemand mehr. Der Offizier ließ sich davon nicht beeindrucken. Er erklärte und zeigte sein Schiff hingebungsvoll und begeistert. Er streichelte das Teakholz mit größter Zärtlichkeit. Und verführte uns, es ihm gleich zu tun. Seine Stimme war beseelt von der Schönheit und Perfektion des ganzen Schiffaufbaus. Hier und da wies er geradezu ehrfürchtig auf winzige Details der Konstruktion. Ja, sogar die Tatsache, dass die Crew eng an eng in Hängematten schlafen muss und das Schulschiff wahrlich Entbehrungen bereithält, wusste er als positive soziale Erfahrung zu erläutern. Je länger die Führung währte, desto wärmer wurde es der eingangs unterkühlten Gesellschaft ums Herz. Wir ließen uns anstecken von seiner großen Liebe zu diesem Schiff. Wir ließen uns verlocken, schön zu finden, was er liebte. Sein Enthusiasmus machte uns zu Liebhabern. Staunend, beeindruckt und ein klein wenig selig gingen wir von Bord.

Was war geschehen? Wir kamen gebannt von lauter Schreckensszenarien auf dieses Schiff. Gefangen in düsteren Gedanken über die Welt und ihre Zukunft, über die unausrottbare Bosheit der Menschen und die Schrecken des Krieges. Und erlebten einen liebenden Menschen, der etwas unfassbar Schönes und Wertvolles für sich entdeckt hatte und seine Liebe mit uns teilte, so dass sie übersprang. Was soll ich sagen, liebe Gemeinde? Genau das ist Advent!

In aller Sorge und Ängstlichkeit die Augen geöffnet zu bekommen und auf einmal wieder die andere Wahrheit zu sehen: Wie großartig und schön und wertvoll etwas wird, wenn man es nur von Herzen liebt. Und wie sich diese Liebe ausbreiten kann! Unglaublich! Aber wahr.

Macht also hoch die Tür, die Tor macht weit! Damit das Leben und die Liebe, damit Jesus Christus mit seiner Sanftmut und Friedenshoffnung einziehen kann in unsere aufgewühlten Seelen. Alle Jahre wieder feiern wir Advent, diese feine, wichtige Wartezeit vor dem Fest der Geburt Jesu Christi. Es ist eine Zeit großer Sehnsucht. Denn die adventliche Hoffnung will, dass das Leben nicht ängstlich und ermüdet, grimmig und freudlos vorüberzieht. Die Hoffnung ersehnt den Menschen, der liebt! Oder wie Paulus im Römerbrief schreibt, eine Liebe untereinander, in der wir einander nichts Böses tun.

Deshalb der Ruf: O Komm, du Heiden Heiland. Denn unsere klugen Väter und Mütter im Glauben wussten genau, dass ein Leben in Liebe und gegenseitiger Achtung nicht durch Selbstoptimierung und positives Denken erkämpft wird. Dieses Leben wird dir geschenkt. Es kommt zu dir. Mitten hinein in dein Leben. Mitten hinein in eine Tagung. Mitten hinein in unseren Alltag wird Gott neu geboren. Damit die Liebe es mit dem Bösen aufnimmt und sich nicht abfindet damit. Mit Waffen des Lichtes und nicht der Gewalt. Damit die Hoffnung nicht zuletzt stirbt, sondern zuallererst lebt.

Diese große Hoffnung des Advents haben wir gerade vertont gehört, in der Kantate, die mit den jubelnden Oboen und den tänzerischen Streichern die Freude herbeimusiziert und zugleich in den ernsten Gesängen auch von der Schwere des Lebens singt, die nach Erlösung ruft. Oh komm, du Heiden Heiland. Komm endlich herunter auf diese wunde Erde und reiß die Himmel auf. Komm! Es ist Zeit!

Die Kantate spricht eine sehr alte Sprache. Doch genau die hat mit ihrer eigenen Kraft Menschen aller Zeiten getröstet und zum Leben ermutigt. Der Text hat eine erstaunlich lange Vorgeschichte. Sie beginnt vor über 1.600 Jahren, als Ambrosius Bischof von Mailand war – wo er nicht nur predigte, sondern auch Lieder schrieb. Tausend Jahre später hat Martin Luther einen seiner Hymnen zu einem Lied umgedichtet. Das wiederum hat Johann Sebastian Bach zu seiner Kantate inspiriert. Solch lange Traditionsketten entstehen nur, wenn Inhalte so stark sind, dass sie über alle Zeiten hinweg Menschen im Innersten bewegen.

Die Welt braucht einen Heiland, einen Heiler und Friedensstifter, eben weil die Welt kein heiler Ort ist – und nie war. Ambrosius jedenfalls erlebte schon im Römischen Reich große Umbrüche. Die Völkerwanderungen begannen, verbunden mit unaufhörlichen militärischen Auseinandersetzungen und gewaltigen Fluchtbewegungen. Er kannte die typischen Reaktionen des Militärs und der Politik. Und er kannte die Not und die Ängste der Menschen seiner Zeit – und zugleich all die Überheblichkeit und Rücksichtslosigkeit der Starken und Mächtigen.

In dieser Lage ersehnte Ambrosius Jesus Christus als Heiland herbei. Die Menschen aller Zeiten brauchen die Kraft der unbeirrbaren Friedensliebe. Eine Liebe, die Völker versöhnen kann, die sich bekämpfen und bekriegen. Die Menschen brauchen eine Kraft, die ihre verletzten Seelen heilen kann. Die Not war groß, die Bitte dringlich. „Komm, Erlöser der Völker“, komm in unsere Welt!

Und, wie gesagt, das ist jetzt 1.600 Jahre her, doch die Frage ist eine von Heute: Was sehnen wir herbei? Auch wir doch das Ende der Gewalt an viel zu vielen Orten dieser Welt! Das Ende des Hungers. Und des Anstiegs des Meeresspiegels. Das Ende des Hasses. Und das Ende der despotischen Herrschaften. Vielleicht auch das Ende einer Krankheit, das Ende einer Lebenskrise, das Ende eines Unglücks und der Trauer. Das Ende ist aber oft nicht machbar. Oft liegt das Ende außerhalb unserer Möglichkeiten. Das zu spüren, ist ein Schmerz, der lähmen kann und manche verzweifeln lässt.

Was sehnen wir herbei? Ein Ende unserer Ohnmacht? Ein Vermögen, das uns Schwache stark macht, wie es in der Kantate heißt? Eine Hilfe für die Hoffnungsmutigen, dass sie dranbleiben! Einen Heiland, der die verwundete Welt nicht sich selbst überlässt.

Ja, ich wünsche mir das sehr. Gottes Sohn, der mir und uns allen aus der Hoffnungsarmut unserer Zeit heraushilft. Einer, der die Augen öffnet für die Schönheit und die Liebe, die ja da ist, für die Möglichkeit des Friedens. Für Hoffnungsmenschen wie der junge Offizier oder die freundliche Busfahrerin, die dem Rollstuhlfahrer einsteigen hilft. Hoffnungsmenschen wie die Friedensstifter und Menschenrechtskämpferinnen rund um die Welt. Wie die mitfühlenden Spender für die Ärmsten der Armen – heute ist ja die Kollekte für Brot für die Welt bestimmt – Hoffnungsmenschen wie der, der gerade neben Ihnen sitzt und den Sie jetzt einfach mal anlächeln dürfen …

… schlicht, weil es gar nicht so selbstverständlich ist, dass Sie und wir alle heute zusammen Advent feiern. Dass wir gemeinsam erleben können, wie mit Jesus auch die Liebe in Jerusalem einzieht – Friede dem Heiligen Land! Dass es ein Geschenk ist, von so wunderbarer Musik im Herzen berührt zu werden. Ja, dass es Musizierende gibt, die uns ihr Können und ihre Stimmen schenken und, wenn ich schon dabei bin, dass es Hauptpastoren und Küster und Ehrenamtliche gibt und Sie und Sie und Sie auch – die Sie allesamt je ein riesengroßes Geschenk in dieser Welt sind. Als Mensch! Als Mensch, von Gott von allem Anfang an geliebt und mit einer unverlierbaren Würde gesegnet. Keiner darf sie antasten. Keiner darf dich bestehlen, erniedrigen, zerbrechen oder gar töten, wie es der Römerbrief noch einmal bekräftigt. Nein: Du Mensch, du bist ein Geschenk. Sich dies bewusst zu machen, im Herzen mit nach Hause zu nehmen und sich dies adventlich rote Satinband umzubinden, hinzulegen, an den Kühlschrank zu kleben, was weiß ich … Darum gibt es diese Bänder, die Sie am Ausgang bekommen können. Ein Band für sich selbst – und eines für einen anderen Menschen, dem Sie vielleicht schon lange mal sagen wollten: Mensch, du bist ein solches Geschenk in meinem Leben!

Das wäre doch mal ein Einstieg in den Advent! Der doch eine einzige Erlaubnis ist, Ja zu sagen zu einem offenen Herzen, in dem die Liebe sich einnisten darf. Ja zu offenen Augen, die die Schönheit sehen. Ja zur Möglichkeit der Friedenstüchtigkeit. Ja, weil Jesus auch bei mir einzieht. In meine Freude und meine Dunkelheit, in meinen Mut und meine Angst. Deshalb Ja zur Zuversicht, dass in unserem Herzen nicht mehr so viel Platz ist für all die Empörung, den Pessimismus und die Bitterkeit. Ja zum Vertrauen, dass auch Despoten eines Tages von der Weltbühne verschwinden und Kriege enden. Ja zu allem, was dem Frieden dient und dem Recht der Schwachen aufhilft. Ja zur großen Hoffnung, die in Jesus Christus Mensch wird.

Denn schau nur, es kommt ja schon das Schiff! Das Schiff geladen bis an sein höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort. Amen.

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